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  KOMMUNISTISCHE STREITPUNKTE - Zirkularblätter - Extra zum Krieg - 16.10.1999 - Onlineversion

Fritz Güde                                                                                        13. Juni 1999

Zum Krieg - aus einem Brief an Zwi Schrittkopcher

 
Der folgende Beitrag ist die Kurzfassung eines Beitrages, mit dem Fritz Güde auf die in dieser Ausgabe der Kommunistischen Streitpunkte publizierten Artikel von Zwi Schrittkopcher reagiert. Fritz Güde versucht - in Ergänzung zu den Ausführungen von Zwi - einen Beitrag dafür zu leisten, "die Ableitungen von der dauernden Situation auf die aktuelle Bewegung des Krieges zu schaffen". Die Langfassung unterscheidet sich von der Kurzfassung im Wesentlichen dadurch, daß die den 3 Fallbeispielen zugrundeliegenden Zeitungsartikel in den Text aufgenommen sind. In der Online-Version wird auch aus der Kurzfassung heraus der Zugriff auf diese Artikel und weitere Beiträge ermöglicht, auf die im Text Bezug genommen wird.
                                                                                                    die Red.

Ich glaube, wir müssen die Linie von zwei Ausgangspunkten her ziehen.

a)- Der eine geht aus von den möglichen Interessen der NATO - als den vermutlichen des Euro-Amerikanischen Kapitals, das sich über alle Konkurrenzen hinweg immer neu einigen muß.
Alle Zeugnisse stimmen inzwischen darin überein, daß die Rettung der KOSOVO-Albaner völlig in den Hintergrund getreten ist.
Vergl. zu den in <Krieg nach dem Krieg> herangezogenen Zeugnissen noch Ramonet in le monde diplom/6/6/
Dann bleibt - eben nach diesen Zeugnissen - zunächst nur eine Erklärung: Es geht um Selbstbehauptung, um Schaffung und Sicherung eines Raumes, in welchem für die Kapitale Berechenbarkeit möglich ist.
Wieso ist dazu aber noch Militär nötig, wenn der gewöhnliche Imperialismus über die internationalen Organisationen wie IWF etc. schon dieselbe Absicht verfolgt und - normalerweise - dieselbe Wirkung erzielt ?
Antwort, allgemein: Kapital heißt niemals nur Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel. Es hieß von Anfang an auch Herrschaft über die Kommunikationsmittel <mehr technisch verstanden>, aber auch über die Verkehrsformen.
Das Kapital kann wesentlich seine Steuerungshoheit über die lebendige Arbeit nur dadurch aufrechterhalten, daß es das ganze Wissen der Vergangenheit als tote Arbeit zusammengefaßt hat und mit der Verfügung darüber die Herrschaft ausübt, auch ohne die Möglichkeit, jeden einzelnen Arbeitsvorgang inhaltlich zu überprüfen.
All diesen Mitteln und Formen ist es eigen, daß sie vom Kapital nicht geschaffen, aber angeeignet wurden, und dabei jeweils in ihrem Gebrauch eine Denaturierung erlitten, nicht viel anders als der Rübenschnaps, bevor er als Industriealkohol freigegeben wird.
Damit sind diese entwendeten Mittel der Kommunikation und Information aber nur noch in einer Zielrichtung zu verwenden - eher zur Beeinflussung von oben nach unten als zur Information. Schon gar nicht zur Herstellung eines gemeinsamen Zieles, eines "Willens" zwischen den Beteiligten bei einem Vorhaben.
Damit wächst für alle Beteiligten die Gefahr der Unübersichtlichkeit. In der Überfülle der Fakten könnten Gefahren lauern, die über die zur Verfügung stehenden Analyse-Formen nicht mehr abzuwehren sind.
Vorbeugend können dann nur Verhaltensweisen durchgesetzt werden, die entweder Befehlssträngen folgen - nach dem bekannten Befehl-Gehorsam-Prinzip -, oder der Beeinflussungsabsicht: es werden - wie bei den Elendsbildern aus dem KOSOVO - anthropologische Reflexe - Mitleid - aufgegriffen und gezielt so rationiert, daß nicht beliebige Elendsbilder beliebige Reaktionen auslösen.
Diese Notlösungen schließen alle fast aus die gewöhnliche teleologische Setzung in der Arbeit - mit Lukács zu reden - die in der Rückkopplung von Vorhaben und Resultat tatsächlich noch zu einem Lernen im Umgang mit der Materie befähigt.
Natürlich gibt es auch im kapitalistischen Betrieb Rückkopplung - aber immer nur mit Kontrollmeldungen, Verkaufsziffern und Publikumsumfragen, die freilich von selbst nicht aus dem Kategoriensystem heraustreten können, das die Auftraggeber geschaffen haben. 
Damit gibt es nur eine Methode der Absicherung gegen die Störung vom Unvermuteten, dem Nicht-Gewußten aus: Lückenlose Erfassung. Jedes unbekannte Individuum muß in einen Beeinflussungszusammenhang gestellt werden. alle Störeinwirkungen von außen müssen durch einen Filter hindurchgehen.
Antwort, auf den Krieg im KOSOVO heruntertransformiert: 
Die Kontrollmöglichkeiten des ideellen Gesamtkapitalisten - Staatsapparat USA, für das US-Kapital - stützten sich zunächst auf Jelzin, der zugegebenermaßen vom aus- und inländischen Kapital gesponsert worden war. Diese Stütze erwies sich spätestens seit dem Tschetschenien-Krieg nicht mehr als zuverlässig. Darauf setzte die USA auf NATO-Ost-Erweiterung und damit zunehmende Abdrängung und -drosselung von Rest-Rußland.
Im Rahmen dieser neuen Planung direkter Kontrolle erwies sich zunehmend Serbien als der widerborstige IWF-Feind und potentielle Störer.
Es bot sich an, wegen seiner eigenen Bedeutung wie auch wegen des Exempels, Serbien zum Anlaß zu nehmen, um das zu kontrollierende Gebiet abzustecken und zu sichern.
Das Eingreifen muß auf dem Hintergrund der nichtmilitärischen Kontrollbemühungen gesehen werden. Offensichtlich ist IWF in Südostasien, Südamerika und vor allem Rußland an eine Grenze gekommen. 
Denjenigen, der offen zugibt, daß er pleite ist, kann ich mit Bankrott nicht mehr bedrohen und erpressen. Damit blieb nur noch der militärische Weg zur Absicherung.

b) - sehen wir die Sache von den Proletarisierten her.
Die Definition Debords ist richtig: Zum Proletariat gehören die, die keine eigene Zeit- und Ortsperspektive haben - und die das wissen. Diese Definition reicht für sich allein noch nicht aus, die Bewegung des Proletariats in der Gesamtgesellschaft zu erklären.
Um die dialektische Verkettung des Proletariats innerhalb der Gesamtgesellschaft zu verstehen, ließe sich präzisieren: 
Die Proletarier berauben sich selbst der eigenen Raum- und Zeitperspektive und werden dazu angehalten, um anderen die Dispositionsfreiheit zu verschaffen. Oder umgekehrt: die Fähigkeit des Kapitals zu planen, seine Souveränität, wird erzeugt durch die Beschränkung und Selbstbeschränkung der Proletarier.
Ganz konkret: die Signale, die der Lastwagenfahrer seinem Auftraggeber aussendet, die Telephonanrufe, die er unterwegs zur Kontrolle beantworten muß, sind ebensoviel Beiträge zu seiner Fesselung wie zum universellen Überblick des Chefs <oder Auftraggebers> über sein Wagengeschwader, seine Lieferungen. Was man "just-in-time"-Produktion nennt, ist nichts als die materielle Ausmünzung dieses Dispositionsvorteils.
Insofern mästen die Unteren die Oberen, die ihnen auf dem Rücken hocken, widerwillig und doch unablässig.
Die zweite Präzisierung der Formel Debords versucht die Beziehung zur Produktion wieder einzuführen, die der Formel in ihrer einfachen Fassung zunächst fehlt.
Die Herrschaft "des Kapitals" über die Proletarier läßt sich nicht mehr allein über den Besitz der Produktionsmittel <als Maschinen usw. gedacht> begründen: sie setzt inzwischen die Besitzergreifung der gesamten toten Arbeit so voraus, daß dem einzelnen Arbeiter keine Möglichkeit mehr gegeben wird, sich der Folgen und des Zusammenhangs seiner Tätigkeit zu bemächtigen. Tote Arbeit in diesem Sinn zu besitzen, setzt eine Fülle von rechtlichen Regelungen, Geheimhaltungen, Kommunikationsverknappungen voraus. Diese Regelungen - ob im alten Sinn juristisch gefaßt - als Patent- oder in Standesregeln, Verhaltenscodes  festgelegt - üben materielle Gewalt aus und haben bei Verstößen körperlich-materielle Folgen.
Die Möglichkeiten der Emanzipation der Arbeiterklasse lägen dann wesentlich darin, die tote Arbeit zu verflüssigen und gemäß eigener Zielsetzung zu verwenden.
Das setzt allerdings voraus, daß gesetzliche Regelungen in einem erweiterten Sinn genau so ignoriert werden, wie das jetzt schon beim Abkupfern von PC-Programmen, Videos usw. geschieht.
Damit lassen sich zwei Untersuchungsaufgaben formulieren.

  •  wie können wir die Freisetzung der Arbeiter aus den Fabriken in die Städte und in den Raum hinein so beschreiben, daß die Gegnerschaft gegen das Kapital notwendig und in einem neuen Sinn zugleich auch als eine gegen die staatlichen Regulierungen des Kapitalverhältnisses erscheint?
  • wie können wir die Arbeit der freigesetzten atomisierten Individuen in den vom Kapital abgesteckten Räumen analog so verstehen, wie das des früheren Arbeiters zum Maschinenpark im Besitz des Kapitalisten?
Aus der zweiten Fragestellung ergäbe sich das Interesse des Proletariats, sich der Erschließung solcher Räume durch das Kapital und den damit in ihnen durchgesetzten Kommunikationsformen zu widersetzen, um in diesen Räumen ganz andere Beziehungen beruhend auf dem vermittelten Interesse an der gemeinsamen Reproduktion zu entwickeln?
Dieses in seiner Abstraktion  unfruchtbare Denkmodell soll jetzt in drei Fallstudien wenigstens so konkretisiert werden, daß die Fragestellung verständlicher wird:

Fall 1: Der Transport in dem durch den Krieg erschlossenen Einheitsraum.

Mörderischer Wettbewerb/SPIEGEL/6.6.99
Geschildert wird die Selbstausbeutung der Lastwagenfahrer, besonders auch auf dem Balkan.
 

Der Text zeigt:
Der jetzt vom Kapital erschlossene Raum würde diesem zur Verbilligung der Transporte und der Stoffe ohne LKW-Fahrer so wenig nützen wie dem alten Kapitalisten seine Maschine ohne Arbeiter.
Durch das Hereinnehmen von bulgarischen und russischen Fahrern verschärft sich der Druck auf alle Fahrer weiterhin, ohne daß ein Ende absehbar wäre. Es macht dabei nicht den Hauptunterschied, ob der jeweilige Fahrer Besitzer des Lastwagens ist oder Angestellter einer Transportfirma.
Die Fahrer sind genötigt, die eigene Lebenssubstanz zu zerstören - diese Art zu fahren hält kaum einer bis fünfzig durch.
Zugleich sind sie genötigt, systematisch sich selbst und die anderen auf der Straße extrem zu gefährden.
Die Darstellungsform des SPIEGEL arbeitet mit der Denkfigur des "menschlichen Versagens". Damit arbeitet er den Staatsmaßnahmen und den Polizeibehörden zu.
Der einzelne Staatsanwalt und Polizist will subjektiv  die Sicherheit der Straße erhöhen, kann aber genau so wenig wie der Artikelschreiber andere zu fassen bekommen als die einzelnen Fahrer, die untersten in der Kette.
An dem Beispiel zeigt sich besonders gut, daß der nacheilende Staat - als ideeller Gesamtkapitalist - die Schäden niemals beheben kann.
Der gesellschaftliche Zugriff auf das gesamte Transportwesen <im Dienst der menschlichen Gesundheit> und eine Verpflichtung zum Transport über die Bahn scheitert an der "Liberalisierung" - in diesem Fall des Transportverkehrs - und an der Privatisierung der Bahn, die jetzt keine Tarifbefehle zum Transport dieser Güter mehr erhalten kann.
Das ist sehr vorläufig gedacht: auch die Staatsbahn wäre keine wesentlich bessere Lösung: nur zeigt sich hier der Trend, die Verschlechterung einer ohnedies katastrophalen Lage. 
Der Gedankengang läßt sich ausweiten: Die Lastkraftwagenfahrer sind ja nur Teil einer Kette der gnadenlos zerstückelten Produktion. <Joghurt-Becher-Beispiel> Alle arbeitenden Glieder sind gleichermaßen nötig, um den abgesteckten Raum zu füllen und produktiv verwertbar zu machen.
Aber das Beispiel sollte auch Leute erschrecken, die nicht an diese Kette geschmiedet sind: denn die Gefährdung der Mitmenschen bei all den Bränden sind ja auch nur die Spitze des Eisbergs. Die ganze Zerstörung der Alpenregion durch diese Art Transit erweist die raumgreifenden Maßnahmen im Dienste des Kapitals als destruktiv. Was es ergreift, zerstört es zugleich.
Zugleich kann in den Kategorien des Kapitals die Reaktion auf die Schäden nur wieder als Kennziffer wahrgenommen werden: "Es gibt neue Aufträge. Bauen wir eben den zweiten Tunnel neben dem ersten."

Kann die Bildung solcher Großräume zur Menschenverwertung als Kriegsziel glaubhaft gemacht werden, müßte auch herausspringen, daß die Erweiterung dieser Räume notwendig den Druck auf die untersten erhöhen wird. Wird der Krieg in seinem Ziel faßbar, wird er darin auch angreifbar - nicht nur als momentane Störung, sondern als im Kapital selbst ständig lauernde Drohung.

Zum aufgeworfenen Problem der toten Arbeit, die das Kapital sich angeeignet hat. Die bestünde im vorliegenden Fall wesentlich in der Verfügungsgewalt über die Verkehrswege (Kanäle, Tunnels, Straßen, Ampelsysteme).Dazu gehören aber auch die Kontrollmechanismen, mit denen die jeweilige Tagesleistung des Fahrers überprüft wird - und der zugehörige Straßenpolizei-Apparat.
Zugleich sind die Fahrer genötigt, sich selbst die tote Arbeit anzueignen - den Fahrtenschreibefälschapparat, der aber nur dazu dient, ihre eigene Belastung und Unterdrückung zu verschärfen.
: : : : 
Die letzten großen Streiks in den USA wurden nicht zufällig gerade von den UPS-Fahrern bestritten. Es zeigt sich an unserem Beispiel, welche unendliche Verknüpfungsarbeit die Fahrer aber leisten müßten, um sich dauerhaft aus dem Netz des Kapitals zu befreien. Sie müßten z.B. in einer Bewegung mitarbeiten, die sowohl die Bewohner der Alpentäler umfaßte wie die Benutzer des Hamburger Elbtunnels, die durch diese jeden Tag zur Arbeit fahren, wie die Joghurtbecher-Teilarbeiter an den vier Enden Europas.
Daß auch die tote Arbeit verflüssigt werden kann im Interesse der Arbeiter, zeigen gerade die erwähnten letzten Fahrerstreiks. Die beteiligten Fahrer konnten über Handy ohne weiteres das Instrument ihrer Kontrolle zu einem der Zusammenarbeit umgestalten - über hunderte von Kilometern hinweg.


Fall 2: Die albanische Frau 

Die albanische Frau/Achenbach/FREITAG/26.4.99
Geschildert wird die selbstzerstörerische Freude einer in Deutschland lebenden Kosovarin, daß ihre Heimatstadt Pristina zerbombt wird.
 

Eine erschütternde Geschichte, gerade weil Martina Achenbach mit ihrer wahren Meinung zurückhält. 
Das Werk der Aufklärung nämlich ist vereitelt worden. Feride hat von ihrem Vater das erfahren, was die Mendelsohn-Kinder vor 200 Jahren von dem ihren zu hören bekamen:
Die Freiheit von der Religion, die Bücherverehrung, was helfen sie noch, und selbst der Abscheu gegen die Vorurteile, wenn man gegen sein eigenes und schwerstes nichts ausrichten kann, ja es nicht einmal als solches erkennt. 
Diese Familie, obwohl von Hause aus den Mittelschichten zugehörig, ist auf den tiefsten Punkt der Perspektivlosigkeit gefallen.
Zugleich zeigt sich die furchtbare Verschränkung von Tausch und Krieg: Die Frau, herumgestoßen und erniedrigt bis zum letzten, muß noch für die Prothese des Selbstbewußtseins dankbar sein, die die Bomben ihr liefern. "Jetzt sind mal die andern dran!"
Für die ursprüngliche Behaustheit an ihrem Ort, die ihr geraubt wurde, tauscht sie ein den entsetzlichen Trost: nicht der/die andere zu sein. Hauptsache, ich bin nicht Serbin.
Zugleich der Blick auf den Ort, an den sie sich doch zurückbegehrt. Wenn Pristina zerstört wird, gleichviel: die Deutschen bauen es wieder auf.
Die allgemeine Austauschbarkeit von allem mit allem soll über die mögliche Vernichtung der Heimatstadt wegtrösten. Zugleich streicht dieser Trost die Hoffnung auf Rückkehr durch. Was wäre an einem Ort noch heimwehstillend, den man gegen jeden anderen auswechseln könnte.
Schließlich die Hinnahme der Behandlung durch die Schlepper und vor allem die Deutschen. Wie soll sich eine wehren können, die das alles wegschieben muß, um in den bombenden Deutschen die Retter sehen zu können gegen die Negation an sich: die Serben.
Und doch sind selbst diese arm gewordenen noch solche, an denen man etwas verdienen kann, zumindest die Schlepper.
Zugleich wird etwas als Produkt genannt, das man bisher für ein einfach vorhandenes Sein hielt: der Haß. Er wird vielleicht nicht erzeugt, um die zusammenwohnenden Menschen als handliche Pakete voneinander abzusondern und sie säuberlich abzupacken. Auf jeden Fall bewirkt der Haß aber, daß beide Gruppen Objekte des Zugriffs, der Verwaltung werden, ja, sich als solche auch noch ausliefern an fremde Verfügung
Es scheint unmöglich und hartherzig, von der albanischen Frau das einzig Rettende zu verlangen: auf die angebotene Prothese zu verzichten und sich ihre gnadenlose Armut einzugestehen. Auf was sollte sie sich stützen in einer atomisierten Welt ?
Trotzdem kann Achenbachs Erzählung als hilfreich verstanden werden, einfach weil sie Erzählung ist.
Im erzählenden Zurückgehen auf den ersten Punkt der Abweichung im Sinne Freuds wird trotz allem eine andere Entwicklung denkbar, in welcher sich Albaner und Serben mit allen Nachbarn zusammen an die Stadt klammerten -gerade als an das Unvertauschbare.
Auch hier ist der Zugang zum andern vermittelt: aber durch Arbeit - über das gemeinsame Interesse an der Reproduktion dessen, was uns beide (alle) gemeinsam umgibt, dann wäre ein Zustand erreicht, in dem die Konkurrenz nicht zerstörend dazwischenfahren könnte.
Das Unfruchtbare des Klebens am alten Begriff der Aufklärung wird überwunden, wenn wir uns klar machen, daß es heute beim Kampf um die Wahrheit nicht nur auf die Kraft des eigenen Kopfes ankommt, sondern auch auf den Kampfgeist und die List, den "andern" das Wissen als "tote Arbeit" zu entreißen, um sie lebendig anzuwenden. Für den alten Aufklärer lag die Wahrheit auf der Straße, für uns liegt sie im Tresor, den es zu knacken gilt. 
Die Albanerin, der Lastkraftwagenfahrer - sie beide sind in den Zustand reiner Objekte zurückgesunken, und zugleich genötigt, diesen als frei gewählt zu imaginieren. Das ist mit und ohne Krieg so. Aber der Krieg wirkt beschleunigend: wie im Zeitraffer überbietet er den "gewöhnlichen" Zustand und treibt ihn zum Ende.
Auch die Albanerin, obwohl sie nur als Last erscheint, erhöht die Dispositionsfreiheit der Oberen: sie hat sich zu völliger Verwaltbarkeit zurechtstutzen lassen <Genau so werden die UCK-Albaner als Argumentationsverstärker herangezogen, wenn man etwas sagen will, das man sich als anständiger Westler nicht traut, z.B. "Russen raus aus Pristina">


Fall 3: Das Dioxin-Theater in Belgien.

Belgisches Hühnerklein. / Antoon Wouters./taz/12.6.99
Geschildert wird die Zerstörung sämtlicher Produktionsbeziehungen und Reproduktionsbeziehungen in den landwirtschaftlichen Betrieben Europas.
 

Dieser Text zeigt die hoffnungslose Verfassung der Oberen, die das Durcheinander der Produktion regeln wollen, wenn sie einmal keine militärischen Mittel zur Verfügung haben.
Einmal zeigt sich, daß "tote Arbeit" als aufgehäuftes Wissen zwar zur Verfügung steht, aber zugleich in der Person des Gutachters nach Gutdünken zugeteilt und abgedrosselt wird.
Presse ist nicht mehr das Werkzeug der wechselseitigen Information von Betroffenen, sondern Druckmittel unter den Herrschaftsfraktionen.
Zugleich zeigt das Beispiel schlagend, daß die Produktion in Wirklichkeit in dem Sinn schon lange gesellschaftlich - nicht vergesellschaftet - ist, daß die Erschütterungen an einer Stelle sofort folgende im Gesamtgefüge zur Folge haben. Nur daß diese Art Gesellschaftlichkeit genau dem entspricht, was Negt-Kluge einmal der "falsch zusammengesetzte Gesamtarbeiter " nannten. Er windet sich in Krämpfen, von den widersprüchlichsten Nervenimpulsen geschüttelt.
Die Ursache des Unglücks kann nicht selbst beseitigt werden, weil die privaten Produktionsinteressen es immer neu erzeugen. So kommt es zu Panik und wildem Fuchteln....
In welcher Abhängigkeit befinden sich jetzt die "unmittelbaren Produzenten", die Bewohner des Chaosraums?
Dazu noch zwei ergänzende Beiträge aus einem Kommentar v. Dirk Schümer/FAZ/10.6.99
 Zwar führte der übliche belgische Schlendrian wieder einmal dazu, daß die Kontaminierung dieses Industrieöls mit Gift - wahrscheinlich aus chlorhaltiger Kühlflüssigkeit - allzu lange in den Ämtern und Ministerien verschwiegen wurde. Doch trifft der Vorwurf, mit Hilfe  des Agrobusiness maschinenmäßig erzeugtes und mit Abfall hochgefüttertes Eiweiß zur Grundnahrung aller gemacht zu haben, auf ganz Europa zu. Denn der Freihandel, der in Brüssel propagiert wird, macht nahezu jeden Esser der Union zur Geisel der Giftmischer. Bei den wenigen Stichproben und den komplizierten chemischen Tests wirken die Kontrolleure wie blinde Hühner, die allenfalls dann und wann mal ein Korn finden. Die Milliardenverluste, die jetzt in kurzer Frist für das Exportverbot europäischer Tiere auflaufen, treffen plötzlich Landwirte in Dänemark und Österreich, nur weil die europäische Nahrungskette an ihrem schwächsten Glied gerissen ist. Und wenn es schon Monate dauert, bis die Befunde von den belgischen Behörden ein paar hundert Meter weiter zur europäischen Zentrale weitergeleitet werden - wie mag der Informationsweg dann erst bei Industriefutter aus Griechenland, Irland oder Portugal aussehen?
Hier stoßen wir erneut auf eine Art Abhängigkeit beliebiger Produzenten in diesem Großraum Europa, die ihnen jede individuelle Handlungsplanung so gut verunmöglicht wie dem Lastkraftwagenfahrer, auch wenn sie Besitzer ihres individuellen Hofes sein sollten. trotzdem arbeiten auch sie den Disponenten oben dadurch zu, daß sie ihre Art Produktion weiter betreiben müssen, damit aber auch an die Zulieferungen der unkontrollierbaren Art gebunden sind - und dem zustimmen. 
 Die Tierschützer merkten gerade erst an, das Schicksal der schuldlosen Hühnchen, die nun allesamt im Verbrennungsofen enden, sei auch nicht gerade mit der Bioethik zu vereinbaren, da schockten neue Meldungen das Land: Die ultrahocherhitzten Giftküken würden naturgemäß sogleich wieder zu Viehfutter verarbeitet.
Die vollendete Perversion: Allen Menschen - unteren wie oberen - ist unter Zustimmung zum laufenden System jede Abhilfe unmöglich: es gibt nur eins: den Kreislauf der Vernichtung nicht stören, es wird sonst nur schlimmer. Der Unterschied zwischen unten und oben besteht "nur" darin - die Oberen müssen im Besitz des Wissens als "tote Arbeit" eine Wolke von Geheimnis und Panik um sich verbreiten, um wenigstens den Schein von Dispositionsfreiheit wahren zu können.
 

Was folgt daraus für unser Thema ?

Der Angriff gegen den Krieg muß sich primär richten gegen sein Ziel: die Erweiterung eines Großraums - EUROPA - der durch Gewalt und Lüge zusammengehalten wird.
Die prinzipielle Unwissenheit, in der wir gehalten werden - und zwar über die elementarsten Umstände unseres körperlichen Lebens - ist nichts Besonderes: sie ist die Regel. Im Krieg potenziert sich nur das Gewöhnliche. Über uranangereicherte Munition nichts zu erfahren ist nur eine graduelle Steigerung der Unwissenheit über das Dioxin im Vesperbrot!
Zugleich sind wir alle - als Teilatome innerhalb der atomisierten Masse - genötigt, dem zuzustimmen, indem wir immer wieder uns über die Erfahrung der Hilflosigkeit und der Auslieferung wegtrösten in der Flucht hin zum harmonisierten Bild, das im SPEKTAKEL uns von denselben Sachverhalten pausenlos vor Augen geführt wird.
Konkret: Da ich als Weiterverarbeiter, schon als Esser im Grunde weiß, daß ich mich auf keine Lieferung verlassen kann und doch weiterarbeiten und essen muß, verlange ich genau von den Behörden, die mich eben vergiften, schärfste Maßregeln gegen das Gift. Mit Magenkrämpfen hänge ich verzückt vor den weggekippten Wagenladungen verseuchter Kühe, die die Glotze mir zeigt. Wie allein wohnte ich im zuckenden Gedärm, wenn ich das nicht mal hätte....
 

Zu den drei Fällen müßten illustrativ hinzugenommen werden:

  • die Flugzeugmacher aus dem Roman: AIRFRAME von Michael Crichton: <vergl. Bespr.QuerfunkKarlsruhe

  • Das Management selbst kann die Arbeiter nicht mehr direkt kontrollieren - aber es hält sie durch den Bezug auf die Interessen der USA bei der Stange und damit davon ab, sich der Produktion zusammen mit den chinesischen Arbeitern und allen anderen selbst zu bemächtigen.
    In Erweiterung dieses Bildes ist klar, daß Gleichschaltung dringend nötig ist, um eine Zusammenfassung der Produktion auch im Innern noch zu schaffen - genau so, wie das Ausfransen an den Rändern des westlichen Gebietes vermieden werden muß.
  • Die Bewohner der HLM in Paris nach Bourdieu (vergl. "150 Jahre Komm. Manifest"):

  • Sie sind genötigt, etwas zu produzieren, das sie selbst fesselt: gegenseitige Überwachung. Selbst sie sind aber nötig, als lebendige Füllung des Raums. Würde er ohne sie nicht einfach implodieren, im Vakuum zusammenklappen? <Bezugstext :150 Jahre komm. Manifest>


So gesehen scheint die gestellte Aufgabe einer Mobilisierung gegen den Krieg fast unlösbar.
Auf jeden Fall käme es zu allererst darauf an, den Sack, in den der Krieg uns alle einnäht, wenigstens so zu einzureißen, daß die lähmende "Alternativlosigkeit" vermieden wird.
Es ist also schon wichtig, daß zumindest theoretisch gezeigt wird, daß es durchaus ein anderes Zusammenleben zwischen den produzierenden Menschen geben könnte - in unmittelbarem Austausch, in der gemeinsamen Bemächtigung der Reproduktion und Produktion der von Zerstörung bedrohten Erde.
Vielleicht lassen sich drei Parolen nennen, mit denen das angegangen werden kann:
ARMUT: <Eingeständnis des eigenen Beraubtseins> Es muß auf den Scheinreichtum verzichtet werden, den uns sowohl der zirkulierende Versprechenskapitalismus (Kurz) wie - damit eigentlich identisch - das SPEKTAKEL verschaffen.
Wie Kurz richtig zeigte, besteht der gegenwärtige Reichtum zum größten Teil aus dem gegenseitigen für-wahr-Halten der Vorgriffe auf die Zukunft unter den Teilnehmern am Kapitalmarkt. Unrecht hat Kurz allerdings, wenn er meint, daß das ganze Geschäft ganz ohne abgepreßten Mehrwert funktionieren könnte. Ein unerläßliches Minimum ist immer noch nötig.
Es käme darauf an, auf alle diese Tröstungen zu verzichten, die Prothesen wegzuwerfen. Nur wer sich seine entsetzliche Bedürftigkeit eingesteht, wird erkennen, wie notwendig der Kampf noch um das Nächstliegende ist.
KÄLTE: Es darf nicht auf alte Anhänglichkeiten ankommen - ob an eine "Linke", an "Humanisten", an "Europa" gegen USA usw. Ebensowenig auf fernseherzeugte Wallungen für die gerade eben Vorgezeigten, so elend sie sein mögen. Entrüstung und Empörung gehören einer vergangenen Welt an: sie setzen noch voraus, es wäre von den Oberen jemals mehr zu erwarten gewesen. Zum Eingeständnis der Armut gesellt sich das der rettungslosen Vereinzelung. 
Wir verzichten auf die Ekstasen des Augenblicks und nehmen die Vernichtung im künftigen Dämmerlicht vorweg.
Wir sehen uns jetzt schon im Trümmerfeld, das sich von Kraijna über Bosnien bis nach Pristina hinziehen wird. Wir hören jetzt schon die Anklagen gegen die Albaner, die verstockt nicht zur Landschaftspflege ins kosovarische Blütenmeer zurückwollen.
ZÄHIGKEIT: Dem immer etwas nietzscheanisch anmutenden Willen ist das Abstoßende, Klebrige der Zähigkeit jeweils vorzuziehen. Zähigkeit - das heißt: sich eingestehen, daß man die gestrigen und vorgestrigen Ansätze nicht hinter sich lassen kann. Wir haben uns Marx und Lenin zugezogen wie eine Kiefervereiterung. Spülungen helfen da nicht. Also leben wir damit und arbeiten wir weiter. Wir verzichten auf Paulus-Erlebnisse und Vorsätze im Neujahrschnee. Es kommt darauf an, die alten theoretischen Ansätze festzuhalten, um sie auszubauen.
Beispiel: Imperialismus. Ich verwende den Begriff für die Behandlung Jugoslawiens durch Euramerika, obwohl Lenins Erklärung buchstäblich darauf gerade nicht anwendbar ist. Ich billige Franziska Augsteins und Ramonets Weiterentwicklung des Begriffs, weil in ihm die Erinnerung aufbewahrt ist an die notwendige Gewalt der Großmächte, die notwendige Erstellung von Herrschaftsräumen. Vor allem wird im Licht dieses Begriffs Krieg anders denkbar denn als Unglücksfall: er zeigt sich als letzte Steigerung des gewöhnlichen Betriebs.

 
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