Denkbild I
Ein Toter steht angenagelt am Mastbaum inmitten des Schlachtschiffs
EUROPA. Dieser Tote ist der Marxismus. Wer sind aber die, die ihn umringen
und ihm den Nagel durch die Stirn treiben, immer wieder, Nacht für
Nacht? Es sind die Anbeter des Bestehenden, des nur noch Bestehenden. Indem
sie das Tote süchtig und unersättlich totschlagen, verschaffen
sie sich den Schein des Lebens. Sie erkaufen sich Frist und Dauer. Nur
daß ihre Zeit von der des Toten genommen ist. Auf diese Weise werden
sie ihn niemals los.
Derrida
Der französische Philosoph Derrida hat nach dem Fall der Mauer
Marx eine Art Nachruf und eine letzte Würdigung gewidmet: "Marx
Gespenster". Seine Pointe: Marx ist nicht nur tot, zum bloßen Text
geschrumpft. Als Toter ist er das Gespenst geblieben, das er selbst im
Manifest berufen hatte: "Ein Gespenst geht um, das Gespenst des Kommunismus"
Damit erkennt Derrida dem Karl Marx immerhin noch ein Nachleben zu: eben
das dessen, der nicht nur selbst gespenstisch schreckt, sondern auch die
Lehre vom gespenstischen Nachleben des Abgestorbenen überhaupt erst
entwickelt hat. Derridas Aufsatz enthält demnach eine These, die zu
überprüfen, unter Umständen zu radikalisieren wäre.
Marx ist zum bloßen Text geschrumpft, Text unter Texten. Und diese
Schrumpfung hieße: Schrift auf Buchseiten, um gelesen zu werden wie
alle anderen großen Texte, wie die Platons oder die des Descartes
auch. Was heißt "zum Text geschrumpft.". Zunächst: es gibt keine
selbstverständliche Lehre mehr, innerhalb welcher der Text kommentiert,
traktiert und tradiert wurde. Die Institute und Akademien, in denen das
in den offiziell sozialistisch genannten Staaten betrieben wurde, verfielen
entweder der Abwicklung oder haben von selber umgesattelt. Was geschieht
in diesem Augenblick mit dem Bündel beschriebner Papiere, die uns
als Text auf den Tisch geknallt werden? Im Anblick des Mumifizierten, das
nicht mehr durch die Gelatine des nur künstlichen Lebens einer Tradition
zusammengehalten wird, fallen die Risse auf. Im Korpus des Zusammengehörigen
finden sich Elemente des Widersetzlichen.
Der Vorgang entspricht äußerlich der Verwerfung der ganzen
kirchlichen Lehrautorität durch Luther. Der biblische Text blieb als
er selbst zurück, Gegenstand philologischer Zerlegungen und psychologischer
Nachvollzüge. Die Losreißung Luthers aus dem Korpus der anerkannten
Deutungen machte der Fortwirkung der SCHRIFT keineswegs ein Ende, sondern
setzte ungeheure Energien des Willens zur Aneignung
Das MANIFEST ist keine Bibel.
Der Vergleich deckt aber den entscheidenden Unterschied auf : In ihrer
Preisgegebenheit -Text unter Texten enthüllen MANIFEST und KAPITAL
auf jeweils verschiedene Form eine ganz andere Herangehensweise sowohl
als die heiligen Schriften der christlichen Überlieferung - wie auch
die Platons, Heideggers oder des Descartes, unter die sie eingereiht werden.
Während offenbarende Texte genau wie platonisierende und cartesianische
auf ein vorgängiges abgeschlossenes Sein rekurrieren, von dem sie
bloß berichten, damit wir es dann auch kennen, enthalten Marxens
beide Texte einen Appell an die Erinnerung, einen Rückbezug auf das,
was jeder zugeben muß und selbst wiedererkennt wenn er darauf hingewiesen
wird. Es geschah und geschieht weiterhin. Dann erweist sich, daß
das KAPITAL auf das Unleugbare der Warenzirkulation verweist, an der du,
Leser, jetzt schon Teil haben mußt, da du dich über eben diesen
Prozeß bis jetzt am Sein erhalten hast. Im MANIFEST wird erinnert
an eine Bewegung, die immer schon lief - lange bevor du das Buch aufgeschlagen
hast: die der Klassenkämpfe. Das vorliegende MANIFEST macht einen
Teil von ihnen aus.
Die Denkstruktur bleibt in beiden Texten gleich : das Schreiben beruft
sich auf eine vorgängige Bewegung, die in der Schrift selbst nur zusammengefaßt
wird, um selbst wieder auf die Bewegung und ihre Teilnehmer zurückzuwirken:
klärend, verstärkend. In dieser Bewegung findet sich der unweigerlich
vor und wieder, der sich lesend auf den Text einläßt.
Diese Erkenntnis fordert, um fruchtbar zu werden, daß wir über
Derridas "Marx Gespenster" hinaus auf seinen ursprünglichen Ansatz
zurückgreifen. In seinen ersten Schriften hatte Derrida die bisherigen
Selbstbegründungen des Ich als Illusion gekennzeichnet: Der berühmte
Selbstbeweis des Descartes über das cogito ist eigentlich die Wiederholung
einer inneren Ansprache an mich selbst, die ich dauernd wiederholen muß.
Eine nur variierte Fassung des inneren Mühlchens, das sein "OM MANI
PADME HUM" herunterrattert. Nur in dieser ewig wiederholten Selbstansprache
bekommt das Ich den Schein von Gegenwart, von Gleichzeitigkeit mit sich
selbst. Wechsle ich das Medium der Vergegenwärtigung - gehe ich vom
Sprechen zur Schrift über - gelange ich in den Status der Nachträglichkeit:
Nachträglich erst einige ich mich mit der Intention des Textes auf
mich hin.
Gehen wir von dieser Vorstellung Derridas aus, wird erst die
Dringlichkeit der Aufgabe deutlich, vor dem Text MANIFEST uns in Beziehung
zu setzen, uns mit ihm gleichzeitig zu machen.
Rettung von Gegenwart
Was wir als solche aufgenommen haben, die in die zum Teil nur nachgespielte
- Tradition der Arbeiterbewegung eintraten, das ist inzwischen vor unseren
Augen wieder zum bloßen Text geschrumpft. Die interpretierende Tradition
ist weggefallen. Insofern wiederholt der Marxismus die Bewegung anderer
Traditionsbestände. Er geht aber über die Bewegung des Buddhismus
oder des nachlutheranischen Christentums hinaus, weil es sich hier nicht
darum handelt, einen bestimmten Lehrbestand durch Uminterpretation zu retten,
sondern um Rettung überhaupt. Was mir im Griechischunterricht auffiel,
daß sich "am Sein erhalten" passiv/medial als >sozesthai< bezeichnet
wurde, damit als "gerettet werden", enthält einen Wink. Gerettet werden
muß offensichtlich etwas vor dem drohenden Fall, dem Absturz ins
Nichts. Darauf bezieht sich die einzige Versprechung, die Marxismus heute
noch enthält. Nicht die vom Sieg einer Gruppe über die andere,
und danach würde alles besser darauf haben wir Hoffnung ohne Gewißheit,
aber die einer GEGENWART.
Was Theologie negativ verhieß: kein Urteil ist endgültig,
das verspricht Marxismus positiv: es steckt in jeder Erscheinung noch etwas
weiteres, das mit dem Ende der Erscheinung selbst noch nicht zu Ende ist.
Gerade an dieser unscheinbaren Stelle widersetzt sich der Text des Karl
Marx genau der Zeitvoraussage und letzten Verheißung, die das herrschende
System noch zu bieten hat. Denn was verspricht es in Ausdrücken wie
"Globalisierung"?
Der Absicht nach unaufhörliche Bewegung, die aber eines niemals
enthalten darf: das Neue, das Einmalige, den Augenblick. Die Zeit des Kapitals
darf in ihrer perfekten und erhofften Ausführung nichts enthalten
als die Möglichkeit, von einem gegebenen Zeitpunkt t1 einen späteren
t2, tn bis tx zu erschließen. Dem Wunsche nach sollte aus dem heutigen
Börsenkurs der in einem Jahr, in zwei Jahren, in x Jahren zu erschließen
sein. Das Versprechen eines ewigen Laufs wird damit zu einem der ereignislosen
Dauer, zur Einsargung, zum Begräbnis. Weitermachen als Höllenstrafe
in Neckermann-Ausführung. Konsequent haben dann auch Philosophen wie
der Japaner Fukuyama das Ende der Geschichte angekündigt. Die Zeit
würde weiterlaufen, aber Wesentliches nicht mehr passieren. Genau
dagegen wurde das MANIFEST verkündet für den heutigen Augenblick
damit es weiterhin Augenblick gebe. Gerade darum zieht es immerfort die
erbittertsten Angriffe auf sich Angriffe, die aber schon die müde
Verdrießlichkeit letzter Abwehr verraten.
Der Text als tote Arbeit.
Text ist naturgemäß immer tote Arbeit. Wir stehen vor ihm
jeweils vor der Aufgabe, mittels unserer lebendigen Tätigkeit des
Verstehens und Anwendens diese tote Arbeit unserer gegenwärtigen Aktivität
dienstbar zu machen.
Auf keinen Fall dürfen KAPITAL und MANIFEST so verstanden werden,
als würde darin eine lineare zeitliche Abfolge erzählt. Gerade
dieser Irrtum entsteht erst in einer bestimmten Rezeption, in der dann
das Wort "industrielle Epoche" als eine Art Imperativ der temporalen Correctness
verwendet wird, etwa mit dem tadelnden Unterton: "Mein Junge, so was wird
doch heute nicht eigenhändig erledigt sondern INDUSTRIELL". Tadelworte
wie "vormodern" mit ihrem moralischen Unterton verraten genau die gleiche
Vorstellung: die bloße Stelle in der Zeit soll zu zeitgemäßen
Handlungen verpflichten. Tatsächlich geschieht aber z.B. ursprüngliche
Akkumulation immerfort - damit kommt immerfort der Aufschrei Fausts zustande:
"Tausch wollt ich, wollte keinen Raub", als er entdeckt, daß seine
angeblich friedliche und menschheitsbeglückende Kolonialarbeit im
Sumpf am Meer zur Zerstörung der Hütte von Philemon und Baucis
und ihrem bösen Tod führte. Das bürgerliche System konnte
sein eigenes bürgerliches Vertragswesen niemals rein durchsetzen ohne
die stützende Zuhilfenahme von gewalttätigem Zugriff auf den
Körper der Unterworfenen. Und dieser Zustand liegt niemals in grauer
"vorziviler " Vergangenheit: er herrscht noch heute fort. Dasselbe gilt
von der immer neuen Verwandlung von Handlungen oder Dingen in Waren. Das
ist nicht etwas, was einmal geschah und mit dem man sich eben abzufinden
hätte. Es geschieht immerfort neu: immer neue Stoffe oder Dienstleistungen
werden unersättlich zu Waren gemacht. Wer hätte vor zwanzig Jahren
an die Tarife für Leihmütter und Nierenspender auch nur gedacht:
der Handel damit geschieht inzwischen ganz offiziell, jederzeit und allerorten.
Vom derartig Offenbaren und Fortlaufenden gibt es keine Geschichte zu erzählen,
also auch nicht den "grand recit", von dem Lyotard phantasiert. Denn wie
eine jede hätte eine solche Erzählung ja wohl auch ein Ende
Gerade in der schlechten Unendlichkeit des Ausgreifens der Warenwirtschaft
und ihrer Zerstörungen über die Welt hin liegt das relative Recht
der Postmodernen. Ihr "es geht nicht mehr so weiter" ist der Reflex der
Tatsache, daß gewisse blinde und bewußtlose Ausbreitungen an
ihr Ende gekommen sein müßten wenn wir überleben wollen
- aber zugleich blind weiterlaufen.
Indem es spricht, entblößt es sich: Das Kapital
Die besondere Eigenart des Textes von Marx besteht darin, daß
sie uns in eine vorgängige Bewegung, auf die der Text sich bezieht,
mit hineinreißt. Bewegung nicht Standpunkt. In einem ihrer erhellendsten
Briefe aus dem Gefängnis redet Ulrike Meinhof es Hannah Krabbe aus,
sich auf "den Standpunkt des Proletariats" stellen zu wollen. Einen Standpunkt
kann sich nur der leisten, der hat: diejenigen, die nichts haben, schwimmen
notgedrungen in dem "weichen Wasser in Bewegung" und bewegen sich in seiner
lebendigen Ruhelosigkeit Darin müßte also unser erster Schritt
bestehen: die heutige Bewegung wahrzunehmen, die auf den Text zurückzubeziehen
wäre - sie mit offenen Augen anzuschauen. Dabei kann es freilich nicht
bleiben. Richtig bleibt der Ausgangspunkt: sowohl die Darlegungsform wie
die inhaltliche Überlegung eines Marx kommen ohne den Anspruch einer
letztbegründenden Substanz aus. So fehlt im MANIFEST der Ausdruck
"historisches Subjekt" für die Gesamtheit des Proletariats völlig.
Im ersten Band des KAPITAL findet er sich zwar, aber niemals
im Sinn einer überindividuellen Persönlichkeit, die etwa im letzten
Jahrhundert erwachte, 1918 versagte und inzwischen etwas tatterig geworden
wäre
In diesem Licht erweist sich die Einreihung des Marxismus unter die
Subjektphilosophien, wie Habermas sie vollzogen hat, zumindest als irreführend.
Tatsächlich ist Marx auf seine Weise den Forderungen der Dekonstruktivisten
vor der Zeit nachgekommen. Sein Denken richtet sich darauf, den Erscheinungen
die Substanz und den angemaßten Wesensanspruch abzusaugen
Beispiel: Wenn Marx den Wert als Wesen der Warenzirkulation anspricht,
dann will er nicht mehr sagen als: Wert = die Menge abstrakter Arbeit,
die zur Herstellung dieser bestimmten Ware aufgewendet werden mußte,
muß dein Austauschverhalten bestimmen, zumindest auf lange Frist,
sonst bekommst du nicht zurück, was Du gegeben hast. - In diesem Fall
läßt sich Wesen und Erscheinung nicht so trennen wie in der
Scholastik die Trennung von Leib Christi und Hostienbäckerei - oder
zwischen dem Leib als vergänglicher Erscheinung und der Seele als
überdauernder Wesenheit.
Wert als Wesen ist einfach dasjenige, auf das in Gedanken zurückgegriffen
werden muß, um die eigene Tauschhandlung messen, überprüfen
und verstehen zu können. Wesen in diesem Sinn ist also Handlungsbedingung
und damit der äußerste Gegensatz zu jeder Vorstellung von ewiger
Substanz.
Trotzdem kann es beim Imperativ: "Schau doch einfach hin!" nicht
bleiben. Zu sehr würde der bloß starrende Blick auf die Erscheinungen
des Warenkreislaufs uns unterwerfen. „SCHAU HIN ES GIBT KEINE ANDERE WELT."
Also muß doch wieder Sprache hinzutreten, und zwar die des ganzen
Kapitalverhältnisses selbst. Nicht ein menschliches Subjekt erhöht
sich ; und bestätigt sich selbst bei Marx. Im "KAPITAL " spricht das
Kapital als "automatisches Subjekt" und entwirft eine Welt, die ihm gleich
sei: in der es dasein kann Eben damit erweist es sich als Feind der einzelnen,
wirklichen, menschlichen Subjekte, besser Individuen, deren Unterwerfung
es fordert.
Das Kapital entblößt sich, indem es sich ausspricht.
Indem das Kapital von Marx dazu gezwungen wird, sich auszusprechen
- sich in all seinen Erscheinungsformen als einheitlich darzustellen, entblößt
es sich. Vor allem erweist es seine Begrenztheit. Eben in der Nötigung,
sich auszusprechen verliert es das Undurchdringliche des bloß Gegebenen
: es spricht zu Ende und sich das Gericht, indem es Bedingungen seines
Daseins nennt, gibt es zu, daß es nicht so absolut ist, wie es tut,
nicht bedingungslos, unendlich und immerwährend, sondern endlich -
an angebbare Bedingungen gebunden. Dieses Sich-Aussprechen ist das, was
Marx unter Wissenschaft versteht. Die Sache selbst spricht aus sich heraus.
Alles Kapital ist von derselben Art
Das also sind die zwei Gesichtspunkte, die festgehalten werden müssen,
wenn wir den toten Text des MANIFESTS uns erneut aneignen wollen.
Der Blick, der dem Verweis auf die Erscheinungen folgt - und das Hinhören
auf die Sprache, in der das Kapital seinen inneren Zusammenhang durch alle
Erscheinungsformen hinweg bekennt: ob als Immobilien-, Produktions-, Handels-,
Finanz- oder meinetwegen Kasinokapital. Nur im beharrlichsten Insistieren
auf diesem inneren Zusammenhang eines in sich selbst Gleichen und
Austauschbaren verfallen wir nicht den Ablenkungen durch die jeweilige
Erscheinungsform, die dann zu den verhängnisvollsten Fixierungen und
Parteinahmen führen: etwa gegen das böse ausländische,
dagegen für das brave einheimische, für das reichtumschaffende
Produktivkapital - gegen das gefräßige und raffende Finanzkapital
usw.
***
Globalisierung
Freund und Feind sind sich einig, wie treffend Marx im MANIFEST den
Aufstieg der Bourgeoisie geschildert hat - zu einem Zeitpunkt, als
ihr Siegeszug erst an seinem Anfang stand.
Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für
ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall
muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen
herstellen.(Manif. Kap 1)
Kaum einer, der zum hundertfünfzigsten Jahrestag des MANIFESTS
sich dieses Zitat entgehen ließ. Ist damit nicht schon das vorweggenommen,
was uns als Globalisierung inzwischen zur selbstverständlichen
Gegenwart erklärt wird ? Worin besteht aber diese ?Zunächst im
Zugriff der Produktion auf Länder, in denen durch historische Bedingungen
und gegenwärtige Maßnahmen aller Art ein niedrigeres Lohnniveau
herrscht als in den jeweiligen Standortsländern der Industrien. Dann
in der Möglichkeit einer blitzschnellen und exklusiven Kommunikation
zwischen allen Geschäftszentren der Erde. Schließlich in der
Herrschaft von Zeichen, Geldzeichen - die als Wolke über die Börsenplätze
hinziehen und deren Taifune die Erde in ihren Wirbeln verwüsten. Eben
an dieser Stelle aber erweist sich die Brüchigkeit des Siegeszugs,
die Denkbarkeit seines Endes. Die verbreitete Vorstellung, die (Geld)Zeichen
hätten sich völlig vom Bezeichneten losgelöst, ist vorschnell.
Wäre es möglich, diesen Bezug endgültig zu kappen, wäre
der Sieg der Zeichenverfüger für alle Zeiten gesichert. Es muß
dauernd, etwa über Pensionsfonds, echtes, Geld (d.h. solches, das
aus realer Mehrarbeit und Mehrwertproduktion stammt) hinzutreten, damit
die imaginären Anteile sich weiterhin als solche darstellen können,
denen wirklich an Waren etwas entspricht oder wenigstens in der Zukunft
entsprechen könnte.
Der SPIEGEL-Artikel vom 25.5.98 über den Angriff auf die thailändische
Währung zeigt gut, wie mangels ausreichender Profitmöglichkeit
durch reale Produktion - die Zeichenbesitzer sich an der Grundlage der
Zeichengewährleistung selbst vergreifen müssen. Wenn die Aussage
stimmt, daß durch Ausnutzung der fast kostenlos zu bekommenden japanischen
Kredite ùund der Garantie Thailands, seinen Baht in Dollar zu einem
festen Kurs umzutauschen, in die Hände der Hauptakteure ein Gewinn
von 6 Milliarden Dollar fiel nur aus dem Angriff auf dieses eine Land,
dann heißt das, daß ein Land - Thailand - um die Realproduktion
in sein Niedriglohngebiet zu locken, ein solches Versprechen der festen
Umtauschkurse abgegeben haben mußte. Damit ist die Erlaubnis der
vollständigen Exportierung der Gewinne sofort mitgedacht. Das heißt:
Die Pflicht zur Reinvestition eines Teils der Gewinne im jeweiligen Standortland
der Produktion entfällt.
Der Aufbau einer halbwegs unabhängigen Volkswirtschaft, wie etwa
Brasilien und andere Länder in vergleichbarer Lage ihn früher
einmal ins Auge faßten, ist damit von vornherein ausgeschlossen.
Der bewußte und gezielte Angriff einer kleinen Gruppe auf die
thailändische Währung konnte nur erfolgreich sein, weil den Initiatoren
sofort eine Meute zunächst nicht Eingeweihter über die
Börsenimpulse sekundenschnell folgte. Damit kann allenfalls von einer
Initialzündung gutbestückter Insider die Rede sein, keineswegs
aber von einer Verschwörung...
Schließlich trat der IWF als Aufsichtskraft und Feuerwehr auf
den Plan.
Natürlich kann dadurch ein System nie von selbst zusammenbrechen:
es wird einfach auf schlechtere Bedingungen herabgestuft. Der Lebensstandard
und damit die Löhne können durch die Abwertung und die Auflagen
des IWF weiter gesenkt werden: damit wäre auf der Ebene der
realen Produktion eine neue Offensive möglich mit Preissenkung und
deshalb Vorteilen in der Konkurrenz auf dem Weltmarkt.
Wichtig bleibt trotzdem: Auf der notwendigen Jagd nach dem Höchstgewinn
für den eigenen Fonds, werden die Grundlagen des gesamten Geldsystems
selbst angegriffen.
Insofern sind die Realzeichen des Geldes und die Verfügung
über sie tatsächlich die letzte Instanz, die die anderen Ebenen
bestimmt. Das heißt - alles, was vom einzelnen Bourgeois oder Unternehmer
früher behauptet wurde - daß er durch Umsicht, Entwicklung neuer
Geschäftsmethoden, Erfindungen, Ausnutzung von ausgespähten Handelsvorteilen
sich durchsetzt, das gilt zwar immer noch, aber nur unter dem Vorbehalt,
daß die Währung ihm eine Berechnungsgrundlage zur Verfügung
stellt. Sobald einer nicht zu den primären Zeichenverfügern gehört,
ist alles, was er tut und jeder Gewinn, den er macht, abhängig von
den obersten Entscheidungen der Zeichenverfüger Damit zeigt die Bourgeoisie,
daß sie die Grundlagen dessen unbarmherzig angreift, worauf sie doch
beruht.
Was bleibt vom Proletariat?
Das Proletariat macht verschiedene
Entwicklungsstufen durch. Sein Kampf gegen die Bourgeoisie beginnt
mit seiner Existenz {MANIFEST)
Was ist in diesem Licht von dem gegnerischen "Lager", zu sagen, von
jener Klasse, die Marx als berufen sah und aufrief, das Gesetz abzuschütteln,
das die Bourgeoisie als das ihre dem Rest der Menschheit auferlegte. Wenn
wir uns die ersten Bestimmungen der Situationisten zu eigen machen über
die heutigen Kennzeichen der Proletarität, daß Proletarier alle
sind, die keine eigene Zeit- und Raumperspektive innerhalb der bestehenden
Ordnung entwickeln können, dann wird sofort deutlich, daß alle,
die in das System der Zeichen eingesogen wurden und sich nach ihnen richten
müssen, in diesem Sinn als Proletarier anzusehen wären. Vor und
über die Tatsache hinaus, von wem sie unmittelbar ausgebeutet werden,
wem sie direkt den Mehrwert abliefern müssen, stehen sie damit zusätzlich
unter dem Gesetz eines Marktes, dessen Regeln sie gerade nicht bestimmen
können. Es genügt freilich nicht, das Treibsandschicksal der
Massen "ohne Perspektive" zu beschwören, um einen Zusammenschluß
mit anderen zu bewirken, die nur einen anderen Teil des selben Treibsandes
darstellen es muß die Produktion mit in die Betrachtung einbezogen
werden.
Proletariat - nur noch Mühlstein
am Hals der Bourgeoisie?
Es tritt offen hervor, daß die Bourgeoisie unfähig
ist, noch länger die herrschende Klasse der Gesellschaft zu bleiben
und die Lebensbedingungen ihrer Klasse der Gesellschaft als regelndes Gesetz
aufzuzwingen. Sie ist unfähig zu herrschen, weil sie unfähig
ist, ihrem Sklaven die Existenz selbst innerhalb seiner Sklaverei zu sichern,
weil sie gezwungen ist, ihn in eine Lage herabsinken zu lassen, wo sie
ihn ernähren muß, statt von ihm ernährt zu werden. Die
Gesellschaft kann nicht mehr unter ihr leben, d.h. ihr Leben ist nicht
mehr verträglich mit seiner Herrschaft (MANIFEST)
Der ganze Abwehrkampf des herrschenden Lagers in den letzten dreißig
Jahren ging darum, sich dieser Voraussage des MANIFESTS zu widersetzen.
Wie läßt sich die Herrschaft der Bourgeoisie aufrechterhalten,
obwohl ihre Nutznießer immer weniger werden? Wie läßt
sich aus denen noch etwas herausholen, die sich als unentbehrlich und überflüssig
zugleich herausstellen?
- Es war wohl Pfingsten vor dreißig Jahren, als Habermas
in seiner Abrechnungsrede anläßlich des Studentenstreiks in
Frankfurt auch das Argument vorbrachte : Die Unterdrückung der Schwarzen
in den USA sei nicht durch den Kapitalismus zu erklären, denn - rein
kapitalistisch gedacht - wäre es für die Bourgeoisie der USA
das beste, wenn die Schwarzen sich in Luft auflösten. Diese Aussage
hat sich nach dreißig Jahren nur zum geringsten Teil bestätigt,
denn tatsächlich scheint es durch die verschiedenen Praktiken gelungen
zu sein, in der Bush und Clinton-Ära einen Teil der Schwarzen trotzdem
wieder in den Arbeitsprozeß einzugliedern.
Gegenseitige Blockierung - eine Dienstleistung?
Was heißt das aber für die Frage der angeblich überflüssigen
Bevölkerung? Offensichtlich streiten zwei Tendenzen innerhalb des
kapitalistischen Lagers: die eine, die auf Verjagung, Ausrottung, zumindest
restriktive Bevölkerungspolitik setzt, die andere, die auf Überschuß
an Menschen besteht, um den Prozeß der dauernden Umwälzung fortbetreiben
zu können. Das Argument der Reservearmee ist zwar zu eng: Wie die
Not der Spargelbauern mit ihren zwangsverpflichteten Spargelstechern zeigt,
steht keineswegs für jede Tätigkeit immer ein gleich ergiebiger
Ersatzmann bereit. Im weiteren Sinn behält es trotzdem seine Gültigkeit.
Es geht um die Schar der Namenlosen, die für eine neue Produktion
auf einfachster Ebene wieder eingesetzt werden können. Also etwa:
Atomwerkreiniger. Schließlich setzt Massenproduktion wirklich auch
Massenabnehmer voraus. Empirisch zeigt sich, daß gerade in den Slums
der USA, auf die Habermas seinerzeit zurückgriff, eine kapillare Dauerbewegung
sich vollzieht von Handel. Die ganze Rauschgiftproduktion, die von mächtigen
Kapitalinteressen getragen wird, stünde im Stau, wenn es nicht unten
die Schar von Kleinstdealern gäbe. Ähnliches gilt für Prostitution,
Rikschafahren, Schwitzbuden, Kinderarbeit usw.
Wie die Darstellung im Buch Bourdieus aus den Slums von Chicago und
New York zeigt, sind diese Slumbewohner keineswegs völlig herausgefallen
aus dem Netz von Konsumtion und Produktion. Wie Bourdieu und seine Gewährsmänner
weiterhin schildern, wird ein Großteil von Arbeit an den Bewohnern
von angeblich ausgegliederten Gebieten verrichtet, nicht zuletzt von solchen
Bewohnern, die vorher mehr gelegentlich ihre Nachbarn bespitzelten, und
jetzt in offizielle Cop- oder Nachtwächterpositionen aufrücken.
Wenn man sich einmal von der Vorstellung frei gemacht hat, Produktion im
Kapitalismus müsse unbedingt für jemand oder gar alle nützliche
Produktion sein, wird klar, daß man noch am Verfall und dem Untergang
der Menschheit seine Geschäfte machen kann - nicht viel anders als
der Opiumgroßimporteur im letzten Jahrhundert, der sein Laudanum
in Kleinstportionen in den Hinterhöfen Londons herstellen und vertreiben
ließ. Zu erinnern wäre etwa an das System des französischen
Wohnungsbaus in Form der HLM: diese gehören dem französischen
Staat oder staatlich unterstützten Gesellschaften, in deren Hand dann
Kontrolle und Gewinnabsicht durch Mieteinnahmen zugleich liegt. Zugleich
wird durch die Selektion der geringfügig Besserverdienenden (denen
die Wohngelder gestrichen werden und die wegziehen) die soziale Homogenität
des Gebiets immer neu hergestellt. An Bau, Vermietung Kontrolle und Verwaltung
der HLM - also der gemeindeeigenen Betonsilos - läßt sich immer
noch verdienen, auch wenn die Mieter nicht immer aus eigener Tasche zahlen.
Damit ist freilich erst bewiesen, daß die Versuche, ganze Bevölkerungsteile,
als überflüssig, einfach zu vernichten, dem Kapital nur ganz
kurzfristig einen Vorteil brächten, langfristig aber zu einem System
der Erstarrung führen müßten. Gewinn und Produktion sind
freilich zweierlei. Wenn wir die Chancen des Programms des MANIFESTS überprüfen
wollen, durch das Proletariat die gesamte Macht des Kapitals zu erschüttern
und umzuwerfen, dann muß nach der Produktion noch dieser letzten
ausgespienen Gruppen gefragt werden - denn wie Marx das beschreibt, werden
die Proletarier, Produzenten in einer bisher entfremdeten Welt, nur dann
gewinnen können, wenn sie ihre Produktion der Ausbeutung und Fremdaneignung
entziehen und fähig werden, nach eigenen Wünschen und Bedürfnissen
in gemeinsamer Absprache zu produzieren. Was aber produzieren die, die
inzwischen außerhalb der Fabriken stehen? Über all das hinaus,
was sie materiell hervorbringen, produzieren sie eine, dem Kapital
unglaublich förderliche Dienstleistung: Gegenseitige Kontrolle, gegenseitige
Behinderung.
So furchtbar sich das anhört: die Beschreibungen Bourdieus für
Frankreich oder die eines Artikels zur Sozialpolitik in der ZEIT vom 17.5.98
für Deutschland belegen schlagend: es gibt in all diesen Elendsgebieten
eine ungeheure Tätigkeit, die niemand zur Ruhe kommen läßt:
den Kampf aller gegen alle, und zwar nicht als Natureigenschaft des Menschenwesens,
wie Hobbes einst wollte, sondern als letzte verbliebene Handlungsmöglichkeit
derer, die man - so weit es ging - von ihren ehemaligen Traditionen, aber
auch von gegenwärtigen Möglichkeiten abgeschnitten hatte.
Da schildern Bourdieu und seine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen etwa
den Kampf einer Familie, die ursprünglich aus Algerien stammt, mit
der französisch gebürtigen Nachbarin um den Lärm, den Katzen
auf den Treppenstufen machen. Die Lebensenergie, die zur Entflammung und
Verglutung dieses Streits von beiden Familien verbraucht wird, hätte
wahrscheinlich früher dazu ausgereicht ganze Häuser aufzubauen.
In diesen - erzeugten - Streitigkeiten lähmt und zerstört
sich das freigesetzte Proletariat selbst und leistet eine kostenlose gegenseitige
Beaufsichtigung, die durch keine Polizeimacht zu schaffen wäre.
Als zynisches Endbild ließe sich das New York des Films "Klapperschlange"
denken: es wird ein ganzes Stadtgebiet hermetisch abgesperrt und die Insassen
- die Mißliebigen aus ganz Amerika - werden rückhaltlos einander
ausgeliefert - zur gegenseitigen Zermürbung und Vernichtung. Man hat
damit ein kostengünstiges Selbstbeschäftigungs- und Selbstneutralisierungsprogramm.
Es hilft nichts, vom Beschämenden und Schändlichen dieser Art
Produktion in den Elendsvierteln der Erde den Blick zu wenden. Dem Proletariat
ist nicht mit Verherrlichungen und Beschönigung gedient, sondern mit
Erkenntnissen. Gefragt werden muß: wie kann aus dieser Destruktivkraft
eine neuerliche Produktivkraft im Dienst der Aufhebung der herrschenden
Verhältnisse werden ?
Bourdieu gibt in seinem Buch einen Hinweis. Im Interview wird
der >hustler< x aus Chicago vorgeführt, einer, der zwar davon träumt,
einmal wieder Profiboxer zu werden, inzwischen aber - das ist der Wortsinn
von hustler - durch gelegentlichen Drogenhandel, durch Formen von Edelzuhälterei,
durch sehr seltene Lohnarbeit im archaischen Sinn sein Geld verdient.
Im Kommentar wird aber auch aus der Biographie von Malcolm X zitiert:
Eben dieser Malcolm X bezeichnet und beschreibt sich da selbst als ehemaligen
>hustler < - und doch ist es ihm gelungen, eine Bewegung anzufachen,
die zwar zunächst auf enger, religiös fixierter, ja halbrassistischer
Basis beruhte, aber paradoxerweise auf dem Umweg über die Bekehrung
zum Islam als einer monotheistischen Religion, die Menschheit als ganze
zu denken erlaubte - trotzdem zur Konzeption einer Bewegung über alle
ethnischen Schranken hinaus führte.
Bourdieus Bestandsaufnahme im "Elend der Welt".
Eine nicht gleiche, aber entsprechende Bewegung finden wir in französischen
Bidonvilles und Vorstädten. Lesen wir Bourdieus Interviewsammlung
aus dem Jahr 1992, so nehmen wir - bei aller Vitalität doch hauptsächlich
Zerstörung und Passivität wahr. Wie der Titel: „Das Elend der
Welt" es ausdrückt, dominiert im ganzen Buch das Leiden, nicht die
Auflehnung dagegen. Trotzdem kam es im Dezember 1995 in Frankreich zu einer
Massenbewegung, in der das wirklich Neue war, daß - obwohl die Gewerkschaften
des Öffentlichen Dienstes in Führung gingen - die Trennung zwischen
Arbeitenden und Arbeitslosen, Franzosen und Immigranten aus den ehemals
französischen Kolonien, Legalen und Illegalen (sans papiers) immer
wieder stellenweise überwunden wurde. Also ist es selbst auf der Grundlage
dieser massenhaften Zerstörung und Selbstzerstörung der ehemaligen
Organisationen der Arbeiterklasse möglich? Wodurch?
Nicht so sehr durch die Einigung gegen den gemeinsamen Feind. Diese
Einigungsmethode, rassistisch von Le Pen immer wieder erfolgreich inszeniert,
hat gerade im Dezember 95 versagt.
.Der Bourgeois umgekehrt als der klassische und wirkliche Feind ist
weitgehend unsichtbar geworden. Auch er ist "in die Funktionale gerutscht."
Wodurch aber dann? Es muß tatsächlich in den vom Fabrikzwang
freigesetzten Massen - in der normalerweise zerstörenden Beziehung
aufeinander eine Möglichkeit bestehen, in einem gewissen Augenblick
sich selbst als streitende Masse zu erblicken, als ohnmächtig wimmelnden
Ameisenhaufen - und in der Empörung über diese Erniedrigung,
sich zusammenzuschließen und damit die Erfahrung zu machen, welche
Gewalt in der Organisierung steckt, dem Zusammenschluß zu Genossenschaften,
Gewerkschaften, Initiativen und punktuellen Bündnissen. Organisation
wird dann zum ersten Mal nicht mehr nur Kasernenbau für künftige
Kämpfe, wie die alte Arbeiterbewegung es in ihren Heeresmetaphern
für die PARTEI zu sehen liebte. Sie wird Teil des Kampfes selbst.
Im Akt der Zusammenballung entziehen notwendig die Zusammentretenden dem
Beherrschungssystem die bisherige Zuarbeit der gegenseitigen Beaufsichtigung
und Blockierung. Jeder Zusammenschluß dient dann tendenziell der
gemeinsamen Regelung der eigenen Angelegenheiten.
Technisch, bzw. in geschichtlichen Begriffen ausgedrückt: die
Tatsache der Organisierung nimmt Rätecharakter an.
Die aus der Verzweiflung zu entwickelnde These lautete demnach: eben
in der Freisetzung vom Fabrikzwang, in der Freisetzung von der Produktion
von Dingen, im leidvollen Zwang zur Hinwendung zum andern Menschen, schlummert
die Möglichkeit, die Fesseln abzustreifen, die jene falsche Produktion
der gegenseitigen Zerstörung auferlegte. Im selben Augenblick wird
dem Kapital jene Zuarbeit entzogen, die bisher die Menge nieder-, Ausrichtung
auf Lohnarbeit ohne dauerhafte Aussicht darauf aber aufrechterhielt.
Daß diese Vorstellung nicht eine bloße Spinnerei darstellt,
zeigen die intensiven Versuche der Regierung Blair, durch Neuerungen des
staatlichen Eingriffs vor allem die Jugendlichen noch einmal bei der Stange
zu halten. Die Verlängerung der täglichen Schulzeit etwa bis
16 Uhr soll die jüngeren alleinerziehenden Mütter zumindest dazu
befähigen, eine Weiterbildung aufzunehmen, natürlich mit den
allergeringsten Aussichten, später eine Arbeit zu finden. Hauptsache,
die Arbeitsbereitschaft bleibt erhalten und es entsteht kein allgemeines
Klima, in welchem arbeitsloses Einkommen als Recht gegenüber
Staat und Gesellschaft eingeklagt werden könnte. Zugleich werden natürlich
die Lehrer und anderen Schulbediensteten auf der einen Seite, die betreffenden
Mütter auf der anderen als Gruppen neusortiert und gegeneinander
gehetzt, um in geschlossenen Fronten aufzumarschieren und sich gegenseitig
in Schach zu halten. Der Staat kann dann den Posten des sozial verantwortlichen
Schiedsrichters übernehmen.
Tote Arbeit - die mich totschlägt
Wenn es sowohl in den USA wie in England wie in den Versprechungen
unseres Schröder solche ungeheuren Anstrengungen gibt, dann muß
in dem Potential der jetzt noch atomisierten und zersplitterten Massen
tatsächlich eine Gefahr für die Aufrechterhaltung und Weiterführung
eines Systems liegen, das immerfort nicht nur die lebendige Arbeit, sondern
das wirklich gelebte Leben zusätzlich der toten Arbeit und damit
dem Erstarren überliefert.
Tote Arbeit verstehen wir, wenn wir den Blick einmal aus der Fabrik
hinausgelenkt haben, nicht bloß in der Herrschaft des aufgehäuften
Kapitals über die gegenwärtige Arbeit, auch nicht im engeren
Sinn in der Herrschaft der Maschine über den lebendigen Menschen,
der nach ihrem Takt arbeitet statt sie nach dem seinen.
Wir sehen auf der Gegenseite des Kapitals - auf der der arbeitenden
und auf Vorrat in Arbeitsbereitschaft gehaltenen Massen - eine Technik,
im Zeichen der Moderne, der Flexibilität, der Anpassungsfähigkeit
und wie all die Dompteurworte heißen - die Menschen von eben
der Vergangenheit loszureißen, in der sie doch
die primären Lebensreflexe und die Lebensausrichtung erhalten
haben.
Wieder gibt Bourdieu in der Fundgrube seines Buches unzählige
Beispiele:
- der inzwischen selbst alt gewordene Algerier, der von der Verfluchung
durch seinen Vater erzählt, als er sich nach Frankreich zur Arbeitsaufnahme
aufmachte
- die Lehrerin, die die eigene Lehrtätigkeit, ihr intellektuelles
Leben zu verurteilen sich genötigt sieht, weil sie einerseits wie
die meisten Lehrer - bloß in der übersteigerten Teilnahme am
Beruf produktiv werden konnte, damit aber die Fähigkeit verlor, mit
ihrem Lebensgefährten und Ehepartner ein einziges sinnvolles Gespräch
zu führen.
- Oder der alte Gewerkschaftler, der fassungslos auf die jungen Zeitarbeiter
schaut, die mehr verdienen als er, aber als Angehörige von Zeitfirmen,
am Streik weder teilnehmen können noch wollen. Oder in derselben Fabrik-
der Sozialist, der entdecken muß, daß alle anfangen, von der
Werksfamilie zu schwallen, von der Selbständigkeit der Arbeitsgruppe
und vom Recht dieser Gruppe, einen Facharbeiter der Firmenleitung zur Entlassung
vorzuschlagen, weil dieser Leimsieder mit dem Tempo der Bandfertigung inzwischen
nicht mehr mitkomme...
Die wenigen Beispiele zeigen : Sozialtechniken entfalten ihre Wirksamkeit,
die die Menschen abtrennen von ihrem bisherigen Leben Welches trotzdem
Herz, Hirn, Hand, ja die gebahnten Reflexe weiterhin beherrscht. Erst in
diesem Augenblick wird das Vergangene der Alb, der auf der Brust hockt
oder - eher am Rücken hängt - der Alb, der uns nicht Schlaf noch
Wachen gönnt. Erst in diesem Augenblick kann es den Versuch geben,
von fundamentalistischer oder nationalistischer Seite, den Menschen eine
Wiedervereinigung mit dem eigenen Toten scheinhaft zu versprechen. Wenn
nur die Störung durch den anderen weg wäre, dann hätten
wir wieder ein Leben, wie wir es inzwischen als unser früheres im
Gedächtnis fixieren. eigentlich aber nachträglich erfinden.
Vergangenheit als Material
In dieser äußersten und letzten Beraubung, in der Erinnerung
nicht nur entzogen, sondern im selben Akt zum Wiederanschluß trügerisch
angeboten wird, liegt trotzdem auch die Chance einer Drehung. Durch die
Losreißung hat das Vergangene den Charakter des Selbstverständlichen,
des bloß Vorhandenen Gegebenen verloren. Es kann aus der Distanz,
über den Verlust hinweg ins Auge gefaßt und neu mit dem Leben
verknüpft werden - so daß, nach dem Gedanken von Marx das Vergangene
der gegenwärtigen Lebenstätigkeit dient Beispiele dafür
gibt es wirklich
Eins der bekanntesten aus älterer Zeit verdanken wir der Schilderung
Sartres. Aus "critque de la raison dialectique".
Die französische Revolution war in Gefahr. Der König drohte,
noch "zuverlässige Truppen" gegen das schon unruhige und halbaufständische
Paris zu schicken. Die ersten die von den Truppen erreicht worden wären,
waren die Bewohner des Faubourg St. Antoine Diese sahen
sich also im Juli 1789 eingeklemmt zwischen der Festung Bastille mit ihren
auf das Viertel gerichteten Kanonen und den heranrückenden königstreuen
Truppen des Louis XVI, die nur über ihr Viertel in Paris hätten
eindringen können. In dieser Lage, da sie nicht bereit sind, sich
zu unterwerfen, sehen sie ihr Stadtviertel mit neuen Augen: die Durchgänge,
die zu benutzen wären, die Materialien für Barrikaden, die gegebenen
Engstellen, an denen solche zu errichten wären. usw.: Was sie bisher
bestimmte, was ihre täglichen Wege kanalisierte, was als von anderen
errichtete Baustruktur ihr Leben beherrschte, das verwenden sie nun in
bewußter Drehung als ihr Werkzeug ihre Waffe. Und dann die Lastwagenfahrerstreiks
in Frankreich und den USA als Beispiel aus neuerer Zeit. Die Ritter der
Landstraße, wie sie sich selbst sehen, die Unabhängigen und
Rauhbeine, werden zunehmend durch Handys immer neuen Direktiven ausgesetzt.
Die moderne Technik des Verzichts auf Lagerhaltung (just-in-time) macht
pausenloses Umdirigieren möglich und nötig, so daß aus
den - in ihren Vorstellungen - Unabhängigen, vielleicht sogar formal
selbständigen Lastkraftwagenfahrern unversehens die aller ausgelaugtesten
Zappelphilippe und Hampelmänner des Lagerhaltungsmanagements werden.
Nur daß die Handys und Funkgeräte nicht nur eine Hör-,
sondern auch eine Senderichtung haben: eben über diese Geräte
gelang es gerade den Chauffeuren der LKWs, blitzschnell neue Treffpunkte
und Straßensperren zu verabreden - und die traditionelle Unabhängigkeit
verwandelte sich in die Fähigkeit zum Aufbau einer Organisationsstruktur
fast ohne Generäle an der Spitze und die in der alten Gewerkschaft
oft so lähmende Vorstellung, es müßten immer alle auf den
Troß und die Nachhut warten. In der Fähigkeit der unmittelbaren
Kommunikation eines jeden mit einem jeden entwickelte gerade die scheinbar
zurückgebliebene handwerkliche Form des Einzelkämpfertums auf
der Landstraße beachtliche Schlagkraft.
Auch an das Kirchenasyl ließe sich denken. Aus verjährter
Erinnerung, mühsam hervorgeholt aus mittelalterlichen Zeiten, wird
es zur konkreten Waffe umgeschmiedet gegen die rassistische Abschiebepraxis
der europäischen Regierungen.
***
Wo bleibt die INTERNATIONALE?
Obgleich nicht dem Inhalt, ist der Form nach der Kampf des Proletariats
gegen die Bourgeoisie zunächst ein nationaler. Das Proletariat eines
jeden Landes muß natürlich zuerst mit seiner eigenen Bourgeoisie
fertig werden. (MANIFEST)
*
Ahnungsvoll verdeutlichte Marx fast dreißig Jahre später
(1875) in der Kritik am Gothaer Programm der Vereinigten Sozialdemokratischen
Partei, was er damit gemeint und was er vor allem nicht gemeint hat.
Die damalige - schon die damalige! - SPD hatte den Satz folgendermaßen
fortgeführt:
Die Arbeiterklasse wirkt für ihre Befreiung zunächst im Rahmen
des heutigen nationalen Staats, sich bewußt, daß das notwendige
Ergebnis ihres Strebens, welches den Arbeitern aller Kulturländer
gemeinsam ist, die internationale Völkerverbrüderung sein wird."
Marx schlägt dieser Art Parteifreunden die "Völkerverbrüderung"
um die Ohren als eine dem bürgerlichen Friedens- und Freiheitsbund
entlehnte Phrase, die als Äquivalent passieren soll für die internationale
Verbrüderung der Arbeiterklassen im gemeinschaftlichen Kampf gegen
die herrschenden Klassen und ihre Regierungen.
Wie soll, fragt Marx weiter, die deutsche Arbeiterklasse damit ihrer
eigenen, mit den Bourgeois aller anderen Länder bereits verbrüderten
Bourgeoisie und Herrn Bismarcks internationale Verschwörungspolitik
das Paroli bieten.
Die SPD zeigte 1914, wie sie Paroli bot. Sie lag entschlossen auf dem
Bauch vor ihrem Kaiser, der zur Belohnung dafür kurzfristig keine
Parteien mehr kennen wollte, nur noch Deutsche. Hauptsache, die Kriegskredite
flutschten. Für heute wäre für internationale Verbrüderung
der Bourgeoisie IWF und Weltbank einzusetzen - für Bismarck die zeitgemäßen
Sparbrötchen Kinkel (alt) und J.Fischer (neu) mit ihrer "Friedens-
und Freiheitspolitik" in Bosnien und - demnächst KOSOVO
DREI BERAUBUNGEN - DREI FOLGERUNGEN.
.
Und wie steht es mit der INTERNATIONALE der Gegenseite?
Dreifach geschah die Beraubung der Arbeiterklasse, und zwar weltweit,
ungeachtet aller Einkommenserhöhungen und Lebenserleichterungen:
Die Erweiterung der Kommunikationsmittel erfüllte
Marx 1848 mit ungeheurer Hoffnung. Wie schnell würde jede nationale
Abteilung der Arbeiterklasse von den Kämpfen jeder anderen erfahren,
sie sich aneignen und aus ihnen lernen. Inzwischen müssen wir uns
eingestehen, daß die menschliche Kommunikation eben durch die neuen
Mittel, die sie erleichtern sollten, zum großen Teil enteignet wurde.
Sie dienen einerseits dem raschen Binnenverständnis unter den Herrschenden,
andererseits der Neutralisierung und Bedudelung der Beherrschten. Wenn
Wahrheit noch durchkommt, dann nach dem Zufallsprinzip.
Im Namen der Individualisierung wurde selbst der Gedanke an organisiertes
Handeln etwa in der Gewerkschaft zur Perversion erklärt und der Gedanke
an die Assoziation freier Menschen zur gemeinsamen Produktion als Verschrobenheit
und Idiotie -
der Stoffwechsel mit der Natur verzog sich endgültig hinter
den Rücken der Produzenten, die ihn doch zugleich mit eigenen Händen
unmittelbar betreiben. So erscheint das eigene Werk nach den Direktiven
des Kapitals (im Beispiel der Bauunternehmen in Süditalien) im Bergrutsch
als unfaßbares Naturereignis.
Wir haben keine Rezepte anzugeben, wie dagegen vorzugehen wäre.
Nur die allernächste Stoßrichtung bleibt offensichtlich:
Die Kommunikationsmittel müssen zurückerobert werden.
die verzweifelten Versuche, z.B. das Internet zu kontrollieren, zeigen,
daß hier die Produktivkraft wie schon bei Tonkassette und
Computerdiskette - die lähmenden Produktionsverhältnisse in Form
von Eigentumsgesetzen und Urheberrechten schon lange hinter sich
gelassen hat. Da gilt es weiterzubohren. ..
Es muß wieder unmittelbaren sprachlichen Austausch
geben zwischen den Kämpfenden in einzelnen Ländern(die gemeinsamen
Aktionen gegen beabsichtigte Entlassungen bei den verschiedenen Renaults
in Europa boten einen Ansatz)
Die Rede vom "Postfordismus" der gegenwärtigen
Wirtschaftsentwicklung hat ihren wahren Kern darin, daß die Arbeit
- auch die verbliebene Lohnarbeit - weitgehend aus dem begrenzten Raum
der Fabrik hinausgetreten ist. In dieser Richtung ziehen wir weiter
ins Offene :Stadt. Land, Fluß, die ganze Erde werden das Arbeitsfeld
der einmal selbstbestimmt kooperierenden Menschheit ausmachen
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Denkbild 2
Hegel sah sich selbst am Ende der Geschichte und damit im Besitz eines
endlich erworbenen Wissens über ihren Verlauf und letzten Sinn. Darum
sah er die Eule der Minerva - also der Erkenntnis - erst in der Dämmerung
fliegen.
Heute dämmert es wieder -. Aber die Eule der Minerva fliegt nicht
mehr. Sie hat die Federn eingezogen. Zusammengesunken, zum Käuzchen
geschrumpft, hockt sie im fahlen Licht. Die Eule reizt die anderen Vögel.
Und alle stürmen auf sie ein. Hacken und Kreischen. In allem, was
sie auswürgen gegen das Tier der Nacht, legen sie ihr Innerstes frei.
Sie schreien ihre Todesgewißheit heraus. Im Angriff auf das angeblich
Tote und Tödliche in Marx setzen sie das Abgestorbene und Erstarrte
in sich selbst in Bewegung. Das könnte Chance der Ausfahrt sein, ist
aber zunächst Zerstörung des Standpunktes, auf dem sie stehengeblieben
sind. Die Vögel fahren auf. Aber sie trauen sich nicht, den Wind der
Zeit unter die Flügel zu nehmen. So taumeln sie am Ende vor der Eule
nieder, dem verrufenen Kauz.... |