zurück
 
  KOMMUNISTISCHE STREITPUNKTE - Zirkularblätter - Extra zum Krieg - 16.10.1999 - Onlineversion

Kommunistisches Manifest 1848 -1998

Ein neuerlicher Durchgang

Fritz Güde
 
Denkbild I
Ein Toter steht angenagelt am Mastbaum inmitten des Schlachtschiffs EUROPA. Dieser Tote ist der Marxismus. Wer sind aber die, die ihn umringen und ihm den Nagel durch die Stirn treiben, immer wieder, Nacht für Nacht? Es sind die Anbeter des Bestehenden, des nur noch Bestehenden. Indem sie das Tote süchtig und unersättlich totschlagen, verschaffen sie sich den Schein des Lebens. Sie erkaufen sich Frist und Dauer. Nur daß ihre Zeit von der des Toten genommen ist. Auf diese Weise werden sie ihn niemals los.
Derrida

Der französische Philosoph Derrida hat nach dem Fall der Mauer Marx eine Art Nachruf und  eine letzte Würdigung gewidmet: "Marx Gespenster". Seine Pointe: Marx ist nicht nur tot, zum bloßen Text geschrumpft. Als Toter ist er das Gespenst geblieben, das er selbst im Manifest berufen hatte: "Ein Gespenst geht um, das Gespenst des Kommunismus" Damit erkennt Derrida dem Karl Marx immerhin noch ein Nachleben zu: eben das dessen, der nicht nur selbst gespenstisch schreckt, sondern auch die Lehre vom gespenstischen Nachleben des Abgestorbenen überhaupt erst entwickelt hat. Derridas Aufsatz enthält demnach eine These, die zu überprüfen, unter Umständen zu radikalisieren wäre. Marx ist zum bloßen Text geschrumpft, Text unter Texten. Und diese Schrumpfung hieße: Schrift auf Buchseiten, um gelesen zu werden wie alle anderen großen Texte, wie die Platons oder die des Descartes auch. Was heißt "zum Text geschrumpft.". Zunächst: es gibt keine selbstverständliche Lehre mehr, innerhalb welcher der Text kommentiert, traktiert und tradiert wurde. Die Institute und Akademien, in denen das in den offiziell sozialistisch genannten Staaten betrieben wurde, verfielen entweder der Abwicklung oder haben von selber umgesattelt.  Was geschieht in diesem Augenblick mit dem Bündel beschriebner Papiere, die uns als Text auf den Tisch geknallt werden? Im Anblick des Mumifizierten, das nicht mehr durch die Gelatine des nur künstlichen Lebens einer Tradition zusammengehalten wird, fallen die Risse auf.  Im Korpus des Zusammengehörigen finden sich Elemente des Widersetzlichen.
 

Der Vorgang entspricht äußerlich der Verwerfung der ganzen kirchlichen Lehrautorität durch Luther. Der biblische Text blieb als er selbst zurück, Gegenstand philologischer Zerlegungen und psychologischer Nachvollzüge. Die Losreißung Luthers aus dem Korpus der anerkannten Deutungen machte der Fortwirkung der SCHRIFT keineswegs ein Ende, sondern setzte ungeheure Energien des Willens zur Aneignung

Das MANIFEST ist keine Bibel.

Der Vergleich deckt aber den entscheidenden Unterschied auf : In ihrer Preisgegebenheit -Text unter Texten enthüllen MANIFEST und KAPITAL auf jeweils verschiedene Form eine ganz andere Herangehensweise sowohl als die heiligen Schriften der christlichen Überlieferung - wie auch die Platons, Heideggers oder des Descartes, unter die sie eingereiht werden. Während offenbarende Texte genau wie platonisierende und cartesianische auf ein vorgängiges abgeschlossenes Sein rekurrieren, von dem sie bloß berichten, damit wir es dann auch kennen, enthalten Marxens beide Texte einen Appell an die Erinnerung, einen Rückbezug auf das, was jeder zugeben muß und selbst wiedererkennt wenn er darauf hingewiesen wird. Es geschah und geschieht weiterhin. Dann erweist sich, daß das KAPITAL auf das Unleugbare der Warenzirkulation verweist, an der du, Leser, jetzt schon Teil haben mußt, da du dich über eben diesen Prozeß bis jetzt am Sein erhalten hast. Im MANIFEST wird erinnert an eine Bewegung, die immer schon lief - lange bevor du das Buch aufgeschlagen hast: die der Klassenkämpfe. Das vorliegende MANIFEST macht einen Teil von ihnen aus. 
Die Denkstruktur bleibt in beiden Texten gleich : das Schreiben beruft sich auf eine vorgängige Bewegung, die in der Schrift selbst nur zusammengefaßt wird, um selbst wieder auf die Bewegung und ihre Teilnehmer zurückzuwirken: klärend, verstärkend. In dieser Bewegung findet sich der unweigerlich vor und wieder, der sich lesend auf den Text einläßt. 
Diese Erkenntnis fordert, um fruchtbar zu werden, daß wir über Derridas "Marx Gespenster" hinaus auf seinen ursprünglichen Ansatz zurückgreifen. In seinen ersten Schriften hatte Derrida die bisherigen Selbstbegründungen des Ich als Illusion gekennzeichnet: Der berühmte Selbstbeweis des Descartes über das cogito ist eigentlich die Wiederholung einer inneren Ansprache an mich selbst, die ich dauernd wiederholen muß. Eine nur variierte Fassung des inneren Mühlchens, das sein "OM MANI PADME HUM" herunterrattert. Nur in dieser ewig wiederholten Selbstansprache bekommt das Ich den Schein von Gegenwart, von Gleichzeitigkeit mit sich selbst. Wechsle ich das Medium der Vergegenwärtigung - gehe ich vom Sprechen zur Schrift über - gelange ich in den Status der Nachträglichkeit: Nachträglich erst einige ich mich mit der Intention des Textes auf mich hin.
 Gehen wir von dieser Vorstellung Derridas aus, wird erst die Dringlichkeit der Aufgabe deutlich, vor dem Text MANIFEST uns in Beziehung zu setzen, uns mit ihm gleichzeitig zu machen.
  Rettung von Gegenwart
Was wir als solche aufgenommen haben, die in die zum Teil nur nachgespielte - Tradition der Arbeiterbewegung eintraten, das ist inzwischen vor unseren Augen wieder zum bloßen Text geschrumpft. Die interpretierende Tradition ist weggefallen. Insofern wiederholt der Marxismus die Bewegung anderer Traditionsbestände. Er geht aber über die Bewegung des Buddhismus oder des nachlutheranischen Christentums hinaus, weil es sich hier nicht darum handelt, einen bestimmten Lehrbestand durch Uminterpretation zu retten, sondern um Rettung überhaupt. Was mir im Griechischunterricht auffiel, daß sich "am Sein erhalten" passiv/medial als >sozesthai< bezeichnet wurde, damit als "gerettet werden", enthält einen Wink. Gerettet werden muß offensichtlich etwas vor dem drohenden Fall, dem Absturz ins Nichts. Darauf bezieht sich die einzige Versprechung, die Marxismus heute noch enthält. Nicht die vom Sieg einer Gruppe über die andere, und danach würde alles besser darauf haben wir Hoffnung ohne Gewißheit, aber die einer GEGENWART.
Was Theologie negativ verhieß: kein Urteil ist endgültig, das verspricht Marxismus positiv: es steckt in jeder Erscheinung noch etwas weiteres, das mit dem Ende der Erscheinung selbst noch nicht zu Ende ist. Gerade an dieser unscheinbaren Stelle widersetzt sich der Text des Karl Marx genau der Zeitvoraussage und letzten Verheißung, die das herrschende System noch zu bieten hat. Denn was verspricht es in Ausdrücken wie "Globalisierung"?
Der Absicht nach unaufhörliche Bewegung, die aber eines niemals enthalten darf: das Neue, das Einmalige, den Augenblick. Die Zeit des Kapitals darf in ihrer perfekten und erhofften Ausführung nichts enthalten als die Möglichkeit, von einem gegebenen Zeitpunkt t1 einen späteren t2, tn bis tx zu erschließen. Dem Wunsche nach sollte aus dem heutigen Börsenkurs der in einem Jahr, in zwei Jahren, in x Jahren zu erschließen sein. Das Versprechen eines ewigen Laufs wird damit zu einem der ereignislosen Dauer, zur Einsargung, zum Begräbnis. Weitermachen als Höllenstrafe in Neckermann-Ausführung. Konsequent haben dann auch Philosophen wie der Japaner Fukuyama das Ende der Geschichte angekündigt. Die Zeit würde weiterlaufen, aber Wesentliches nicht mehr passieren. Genau dagegen wurde das MANIFEST verkündet für den heutigen Augenblick damit es weiterhin Augenblick gebe. Gerade darum zieht es immerfort die erbittertsten Angriffe auf sich Angriffe, die aber schon die müde Verdrießlichkeit  letzter Abwehr verraten.
Der Text als tote Arbeit.
Text ist naturgemäß immer tote Arbeit. Wir stehen vor ihm jeweils vor der Aufgabe, mittels unserer lebendigen Tätigkeit des Verstehens und Anwendens diese tote Arbeit unserer gegenwärtigen Aktivität dienstbar zu machen.
Auf keinen Fall dürfen KAPITAL und MANIFEST so verstanden werden, als würde darin eine lineare zeitliche Abfolge erzählt. Gerade dieser Irrtum entsteht erst in einer bestimmten Rezeption, in der dann das Wort "industrielle Epoche" als eine Art Imperativ der temporalen Correctness verwendet wird, etwa mit dem tadelnden Unterton: "Mein Junge, so was wird doch heute nicht eigenhändig erledigt sondern INDUSTRIELL". Tadelworte wie "vormodern" mit ihrem moralischen Unterton verraten genau die gleiche Vorstellung: die bloße Stelle in der Zeit soll zu zeitgemäßen Handlungen verpflichten. Tatsächlich geschieht aber z.B. ursprüngliche Akkumulation immerfort - damit kommt immerfort der Aufschrei Fausts zustande: "Tausch wollt ich, wollte keinen Raub", als er entdeckt, daß seine angeblich friedliche und menschheitsbeglückende Kolonialarbeit im Sumpf am Meer zur Zerstörung der Hütte von Philemon und Baucis und ihrem bösen Tod führte. Das bürgerliche System konnte sein eigenes bürgerliches Vertragswesen niemals rein durchsetzen ohne die stützende Zuhilfenahme von gewalttätigem Zugriff auf den Körper der Unterworfenen. Und dieser Zustand liegt niemals in grauer "vorziviler " Vergangenheit: er herrscht noch heute fort. Dasselbe gilt von der immer neuen Verwandlung von Handlungen oder Dingen in Waren. Das ist nicht etwas, was einmal geschah und mit dem man sich eben abzufinden hätte. Es geschieht immerfort neu: immer neue Stoffe oder Dienstleistungen werden unersättlich zu Waren gemacht. Wer hätte vor zwanzig Jahren an die Tarife für Leihmütter und Nierenspender auch nur gedacht: der Handel damit geschieht inzwischen ganz offiziell, jederzeit und allerorten. Vom derartig Offenbaren und Fortlaufenden gibt es keine Geschichte zu erzählen, also auch nicht den "grand recit", von dem Lyotard phantasiert. Denn wie eine jede hätte eine solche Erzählung ja wohl auch ein Ende

Gerade in der schlechten Unendlichkeit des Ausgreifens der Warenwirtschaft und ihrer Zerstörungen über die Welt hin liegt das relative Recht der Postmodernen. Ihr "es geht nicht mehr so weiter" ist der Reflex der Tatsache, daß gewisse blinde und bewußtlose Ausbreitungen an ihr Ende gekommen sein müßten wenn wir überleben wollen - aber zugleich blind weiterlaufen.

 Indem es spricht, entblößt es sich: Das Kapital
Die besondere Eigenart des Textes von Marx besteht darin, daß sie uns in eine vorgängige Bewegung, auf die der Text sich bezieht, mit hineinreißt. Bewegung nicht Standpunkt. In einem ihrer erhellendsten Briefe aus dem Gefängnis redet Ulrike Meinhof es Hannah Krabbe aus, sich auf "den Standpunkt des Proletariats" stellen zu wollen. Einen Standpunkt kann sich nur der leisten, der hat: diejenigen, die nichts haben, schwimmen notgedrungen in dem "weichen Wasser in Bewegung" und bewegen sich in seiner lebendigen Ruhelosigkeit Darin müßte also unser erster Schritt bestehen: die heutige Bewegung wahrzunehmen, die auf den Text zurückzubeziehen wäre - sie mit offenen Augen anzuschauen. Dabei kann es freilich nicht bleiben. Richtig bleibt der Ausgangspunkt: sowohl die Darlegungsform wie die inhaltliche Überlegung eines Marx kommen ohne den Anspruch einer letztbegründenden Substanz aus. So fehlt im MANIFEST der Ausdruck "historisches Subjekt" für die Gesamtheit des Proletariats völlig.
 Im ersten Band des KAPITAL findet er sich zwar, aber niemals im Sinn einer überindividuellen Persönlichkeit, die etwa im letzten Jahrhundert erwachte, 1918 versagte und inzwischen etwas tatterig geworden wäre 
In diesem Licht erweist sich die Einreihung des Marxismus unter die Subjektphilosophien, wie Habermas sie vollzogen hat, zumindest als irreführend. Tatsächlich ist Marx auf seine Weise den Forderungen der Dekonstruktivisten vor der Zeit nachgekommen. Sein Denken richtet sich darauf, den Erscheinungen die Substanz und den angemaßten Wesensanspruch abzusaugen 
Beispiel: Wenn Marx den Wert als Wesen der Warenzirkulation anspricht, dann will er nicht mehr sagen als: Wert = die Menge abstrakter Arbeit, die zur Herstellung dieser bestimmten Ware aufgewendet werden mußte, muß dein Austauschverhalten bestimmen, zumindest auf lange Frist, sonst bekommst du nicht zurück, was Du gegeben hast. - In diesem Fall läßt sich Wesen und Erscheinung nicht so trennen wie in der Scholastik die Trennung von Leib Christi und Hostienbäckerei - oder zwischen dem Leib als vergänglicher Erscheinung und der Seele als überdauernder Wesenheit.
Wert als Wesen ist einfach dasjenige, auf das in Gedanken zurückgegriffen werden muß, um die eigene Tauschhandlung messen,  überprüfen und verstehen zu können. Wesen in diesem Sinn ist also Handlungsbedingung und damit der äußerste Gegensatz zu jeder Vorstellung von ewiger Substanz.
 

 Trotzdem kann es beim Imperativ: "Schau doch einfach hin!" nicht bleiben. Zu sehr würde der bloß starrende Blick auf die Erscheinungen des Warenkreislaufs uns unterwerfen. „SCHAU HIN ES GIBT KEINE ANDERE WELT." Also muß doch wieder Sprache hinzutreten, und zwar die des ganzen Kapitalverhältnisses selbst. Nicht ein menschliches Subjekt erhöht sich ; und bestätigt sich selbst bei Marx. Im "KAPITAL " spricht das Kapital als "automatisches Subjekt" und entwirft eine Welt, die ihm gleich sei: in der es dasein kann Eben damit erweist es sich als Feind der einzelnen, wirklichen, menschlichen Subjekte, besser Individuen, deren Unterwerfung es fordert.

Das Kapital entblößt sich, indem es sich ausspricht.
Indem das Kapital von Marx dazu gezwungen wird, sich auszusprechen - sich in all seinen Erscheinungsformen als einheitlich darzustellen, entblößt es sich. Vor allem erweist es seine Begrenztheit. Eben in der Nötigung, sich auszusprechen verliert es das Undurchdringliche des bloß Gegebenen : es spricht zu Ende und sich das Gericht, indem es Bedingungen seines Daseins nennt, gibt es zu, daß es nicht so absolut ist, wie es tut, nicht bedingungslos, unendlich und immerwährend, sondern endlich - an angebbare Bedingungen gebunden. Dieses Sich-Aussprechen ist das, was Marx unter Wissenschaft versteht. Die Sache selbst spricht aus sich heraus.

Alles Kapital ist von derselben Art

Das also sind die zwei Gesichtspunkte, die festgehalten werden müssen, wenn wir den toten Text des MANIFESTS  uns erneut aneignen wollen. Der Blick, der dem Verweis auf die Erscheinungen folgt - und das Hinhören auf die Sprache, in der das Kapital seinen inneren Zusammenhang durch alle Erscheinungsformen hinweg bekennt: ob als Immobilien-, Produktions-, Handels-, Finanz- oder meinetwegen Kasinokapital. Nur im beharrlichsten Insistieren auf diesem  inneren Zusammenhang eines in sich selbst Gleichen und Austauschbaren verfallen wir nicht den Ablenkungen durch die jeweilige Erscheinungsform, die dann zu den verhängnisvollsten Fixierungen und Parteinahmen führen: etwa gegen  das böse ausländische, dagegen für das brave einheimische, für das reichtumschaffende Produktivkapital - gegen das gefräßige und raffende Finanzkapital usw.
***
Globalisierung 

Freund und Feind sind sich einig, wie treffend Marx im MANIFEST den Aufstieg der Bourgeoisie  geschildert hat - zu einem Zeitpunkt, als ihr Siegeszug erst an seinem Anfang stand.
Das  Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen.(Manif. Kap 1)
Kaum einer, der zum hundertfünfzigsten Jahrestag des MANIFESTS sich dieses Zitat entgehen ließ. Ist damit nicht schon das vorweggenommen, was uns als Globalisierung inzwischen  zur selbstverständlichen  Gegenwart erklärt wird ? Worin besteht aber diese ?Zunächst im Zugriff der Produktion auf Länder, in denen durch historische Bedingungen und gegenwärtige Maßnahmen aller Art ein niedrigeres Lohnniveau herrscht als in den jeweiligen Standortsländern der Industrien. Dann in der Möglichkeit einer blitzschnellen und exklusiven Kommunikation zwischen allen Geschäftszentren der Erde. Schließlich in der Herrschaft von Zeichen, Geldzeichen - die als Wolke über die Börsenplätze hinziehen und deren Taifune die Erde in ihren Wirbeln verwüsten. Eben an dieser Stelle aber erweist sich die Brüchigkeit des Siegeszugs, die Denkbarkeit seines Endes. Die verbreitete Vorstellung, die (Geld)Zeichen hätten sich völlig vom Bezeichneten losgelöst, ist vorschnell. Wäre es möglich, diesen Bezug endgültig zu kappen, wäre der Sieg der Zeichenverfüger für alle Zeiten gesichert. Es muß dauernd, etwa über Pensionsfonds, echtes, Geld (d.h. solches, das aus realer Mehrarbeit und Mehrwertproduktion stammt) hinzutreten, damit die imaginären Anteile sich weiterhin als solche darstellen können, denen wirklich an Waren etwas entspricht oder wenigstens in der Zukunft entsprechen könnte.

Der SPIEGEL-Artikel vom 25.5.98 über den Angriff auf die thailändische Währung zeigt gut, wie mangels ausreichender Profitmöglichkeit durch reale Produktion - die Zeichenbesitzer sich an der Grundlage der Zeichengewährleistung selbst vergreifen müssen. Wenn die Aussage stimmt, daß durch Ausnutzung der fast kostenlos zu bekommenden japanischen Kredite ùund der Garantie Thailands, seinen Baht in Dollar zu einem festen Kurs umzutauschen, in die Hände der Hauptakteure ein Gewinn von 6 Milliarden Dollar fiel nur aus dem Angriff auf dieses eine Land, dann heißt das, daß ein Land - Thailand - um die Realproduktion in sein Niedriglohngebiet zu locken, ein solches Versprechen der festen Umtauschkurse abgegeben haben mußte. Damit ist die Erlaubnis der vollständigen Exportierung der Gewinne sofort mitgedacht. Das heißt: Die Pflicht zur Reinvestition eines Teils der Gewinne im jeweiligen Standortland der Produktion entfällt.
Der Aufbau einer halbwegs unabhängigen Volkswirtschaft, wie etwa Brasilien  und andere Länder in vergleichbarer Lage ihn früher einmal ins Auge faßten, ist damit von vornherein ausgeschlossen.
Der bewußte und gezielte Angriff einer kleinen Gruppe auf die thailändische Währung konnte nur erfolgreich sein, weil den Initiatoren sofort eine Meute zunächst  nicht Eingeweihter über die Börsenimpulse sekundenschnell folgte. Damit kann allenfalls von einer Initialzündung gutbestückter Insider die Rede sein, keineswegs aber von einer Verschwörung...
Schließlich trat der IWF als Aufsichtskraft und Feuerwehr auf den Plan.
Natürlich kann dadurch ein System nie von selbst zusammenbrechen: es wird einfach auf schlechtere Bedingungen herabgestuft. Der Lebensstandard und damit die Löhne können durch die Abwertung und die Auflagen des IWF weiter gesenkt werden: damit wäre auf der Ebene  der realen Produktion eine neue Offensive möglich mit Preissenkung und deshalb Vorteilen in der Konkurrenz auf dem Weltmarkt.

Wichtig bleibt trotzdem: Auf der notwendigen Jagd nach dem Höchstgewinn für den eigenen Fonds, werden die Grundlagen des gesamten Geldsystems selbst angegriffen.
Insofern sind die Realzeichen  des Geldes und die Verfügung über sie tatsächlich die letzte Instanz, die die anderen Ebenen bestimmt. Das heißt - alles, was vom einzelnen Bourgeois oder Unternehmer früher behauptet wurde - daß er durch Umsicht, Entwicklung neuer Geschäftsmethoden, Erfindungen, Ausnutzung von ausgespähten Handelsvorteilen sich durchsetzt, das gilt zwar immer noch, aber nur unter dem Vorbehalt, daß die Währung ihm eine Berechnungsgrundlage zur Verfügung stellt. Sobald einer nicht zu den primären Zeichenverfügern gehört, ist alles, was er tut und jeder Gewinn, den er macht, abhängig von den obersten Entscheidungen der Zeichenverfüger Damit zeigt die Bourgeoisie, daß sie die Grundlagen dessen unbarmherzig angreift, worauf sie doch beruht.

Was bleibt vom Proletariat?

Das Proletariat macht verschiedene
Entwicklungsstufen durch. Sein Kampf gegen die Bourgeoisie beginnt mit seiner Existenz {MANIFEST)
Was ist in diesem Licht von dem gegnerischen "Lager", zu sagen, von jener Klasse, die Marx als berufen sah und aufrief, das Gesetz abzuschütteln, das die Bourgeoisie als das ihre dem Rest der Menschheit auferlegte. Wenn wir uns die ersten Bestimmungen der Situationisten zu eigen machen über die heutigen Kennzeichen der Proletarität, daß Proletarier alle sind, die keine eigene Zeit- und Raumperspektive innerhalb der bestehenden Ordnung entwickeln können, dann wird sofort deutlich, daß alle, die in das System der Zeichen eingesogen wurden und sich nach ihnen richten müssen, in diesem Sinn als Proletarier anzusehen wären. Vor und über die Tatsache hinaus, von wem sie unmittelbar ausgebeutet werden, wem sie direkt den Mehrwert abliefern müssen, stehen sie damit zusätzlich unter dem Gesetz eines Marktes, dessen Regeln sie gerade nicht bestimmen können. Es genügt freilich nicht, das Treibsandschicksal der Massen "ohne Perspektive" zu beschwören, um einen Zusammenschluß mit anderen zu bewirken, die nur einen anderen Teil des selben Treibsandes darstellen es muß die Produktion mit in die Betrachtung einbezogen werden.
 
 

Proletariat - nur noch Mühlstein
am Hals der Bourgeoisie?
  Es tritt offen hervor, daß die Bourgeoisie unfähig ist, noch länger die herrschende Klasse der Gesellschaft zu bleiben und die Lebensbedingungen ihrer Klasse der Gesellschaft als regelndes Gesetz aufzuzwingen. Sie ist unfähig zu herrschen, weil sie unfähig ist, ihrem Sklaven die Existenz selbst innerhalb seiner Sklaverei zu sichern, weil sie gezwungen ist, ihn in eine Lage herabsinken zu lassen, wo sie ihn ernähren muß, statt von ihm ernährt zu werden. Die Gesellschaft kann nicht mehr unter ihr leben, d.h. ihr Leben ist nicht mehr verträglich mit seiner Herrschaft (MANIFEST)

Der ganze Abwehrkampf des herrschenden Lagers in den letzten dreißig Jahren ging darum, sich dieser Voraussage des MANIFESTS zu widersetzen. Wie läßt sich die Herrschaft der Bourgeoisie aufrechterhalten, obwohl ihre Nutznießer immer weniger werden? Wie läßt sich aus denen noch etwas herausholen, die sich als unentbehrlich und überflüssig zugleich herausstellen?
 - Es war wohl Pfingsten vor dreißig Jahren, als Habermas in seiner Abrechnungsrede anläßlich des Studentenstreiks in Frankfurt auch das Argument vorbrachte : Die Unterdrückung der Schwarzen in den USA sei nicht durch den Kapitalismus zu erklären, denn - rein kapitalistisch gedacht - wäre es für die Bourgeoisie der USA das beste, wenn die Schwarzen sich in Luft auflösten. Diese Aussage hat sich nach dreißig Jahren nur zum geringsten Teil bestätigt, denn tatsächlich scheint es durch die verschiedenen Praktiken gelungen zu sein, in der Bush und Clinton-Ära einen Teil der Schwarzen trotzdem wieder in den Arbeitsprozeß einzugliedern.
 

Gegenseitige Blockierung - eine Dienstleistung?

Was heißt das aber für die Frage der angeblich überflüssigen Bevölkerung? Offensichtlich streiten zwei Tendenzen innerhalb des kapitalistischen Lagers: die eine, die auf Verjagung, Ausrottung, zumindest restriktive Bevölkerungspolitik setzt, die andere, die auf Überschuß an Menschen besteht, um den Prozeß der dauernden Umwälzung fortbetreiben zu können. Das Argument der Reservearmee ist zwar zu eng: Wie die Not der Spargelbauern mit ihren zwangsverpflichteten Spargelstechern zeigt, steht keineswegs für jede Tätigkeit immer ein gleich ergiebiger Ersatzmann bereit. Im weiteren Sinn behält es trotzdem seine Gültigkeit. Es geht um die Schar der Namenlosen, die für eine neue Produktion auf einfachster Ebene wieder eingesetzt werden können. Also etwa: Atomwerkreiniger. Schließlich setzt Massenproduktion wirklich auch Massenabnehmer voraus. Empirisch zeigt sich, daß gerade in den Slums  der USA, auf die Habermas seinerzeit zurückgriff, eine kapillare Dauerbewegung sich vollzieht von Handel. Die ganze Rauschgiftproduktion, die von mächtigen Kapitalinteressen getragen wird, stünde im Stau, wenn es nicht unten die Schar von Kleinstdealern gäbe. Ähnliches gilt für Prostitution, Rikschafahren, Schwitzbuden, Kinderarbeit usw.

Wie die Darstellung im Buch Bourdieus aus den Slums von Chicago und New York zeigt, sind diese Slumbewohner keineswegs völlig herausgefallen aus dem Netz von Konsumtion und Produktion. Wie Bourdieu und seine Gewährsmänner weiterhin schildern, wird ein Großteil von Arbeit an den Bewohnern von angeblich ausgegliederten Gebieten verrichtet, nicht zuletzt von solchen Bewohnern, die vorher mehr gelegentlich ihre Nachbarn bespitzelten, und jetzt in offizielle Cop- oder Nachtwächterpositionen aufrücken. Wenn man sich einmal von der Vorstellung frei gemacht hat, Produktion im Kapitalismus müsse unbedingt für jemand oder gar alle nützliche Produktion sein, wird klar, daß man noch am Verfall und dem Untergang der Menschheit seine Geschäfte machen kann - nicht viel anders als der Opiumgroßimporteur im letzten Jahrhundert, der sein Laudanum in Kleinstportionen in den Hinterhöfen Londons herstellen und vertreiben ließ. Zu erinnern wäre etwa an das System des französischen Wohnungsbaus in Form der HLM: diese gehören dem französischen Staat oder staatlich unterstützten Gesellschaften, in deren Hand dann Kontrolle und Gewinnabsicht durch Mieteinnahmen zugleich liegt. Zugleich wird durch die Selektion der geringfügig Besserverdienenden (denen die Wohngelder gestrichen werden und die wegziehen) die soziale Homogenität des Gebiets immer neu hergestellt. An Bau, Vermietung Kontrolle und Verwaltung der HLM - also der gemeindeeigenen Betonsilos - läßt sich immer noch verdienen, auch wenn die Mieter nicht immer aus eigener Tasche zahlen.

Damit ist freilich erst bewiesen, daß die Versuche, ganze Bevölkerungsteile, als überflüssig, einfach zu vernichten, dem Kapital nur ganz kurzfristig einen Vorteil brächten, langfristig aber zu einem System der Erstarrung führen müßten. Gewinn und Produktion sind freilich zweierlei. Wenn wir die Chancen des Programms des MANIFESTS überprüfen wollen, durch das Proletariat die gesamte Macht des Kapitals zu erschüttern und umzuwerfen, dann muß nach der Produktion noch dieser letzten ausgespienen Gruppen gefragt werden - denn wie Marx das beschreibt, werden die Proletarier, Produzenten in einer bisher entfremdeten Welt, nur dann gewinnen können, wenn sie ihre Produktion der Ausbeutung und Fremdaneignung entziehen und fähig werden, nach eigenen Wünschen und Bedürfnissen in gemeinsamer Absprache zu produzieren. Was aber produzieren die, die inzwischen außerhalb der Fabriken stehen? Über all das hinaus, was sie materiell hervorbringen,  produzieren sie eine, dem Kapital unglaublich förderliche Dienstleistung: Gegenseitige Kontrolle, gegenseitige Behinderung.
So furchtbar sich das anhört: die Beschreibungen Bourdieus für Frankreich oder die eines Artikels zur Sozialpolitik in der ZEIT vom 17.5.98 für Deutschland belegen schlagend: es gibt in all diesen Elendsgebieten eine ungeheure Tätigkeit, die niemand zur Ruhe kommen läßt: den Kampf aller gegen alle, und zwar nicht als Natureigenschaft des Menschenwesens, wie Hobbes einst wollte, sondern als letzte verbliebene Handlungsmöglichkeit derer, die man - so weit es ging - von ihren ehemaligen Traditionen, aber auch von  gegenwärtigen Möglichkeiten abgeschnitten hatte.
 

Da schildern Bourdieu und seine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen etwa den Kampf einer Familie, die ursprünglich aus Algerien stammt, mit der französisch gebürtigen Nachbarin um den Lärm, den Katzen auf den Treppenstufen machen. Die Lebensenergie, die zur Entflammung und Verglutung dieses Streits von beiden Familien verbraucht wird, hätte wahrscheinlich früher dazu ausgereicht ganze Häuser aufzubauen.

In diesen - erzeugten - Streitigkeiten lähmt und zerstört sich das freigesetzte Proletariat selbst und leistet eine kostenlose gegenseitige Beaufsichtigung, die durch keine Polizeimacht zu schaffen wäre. 
Als zynisches Endbild ließe sich das New York des Films "Klapperschlange" denken: es wird ein ganzes Stadtgebiet hermetisch abgesperrt und die Insassen - die Mißliebigen aus ganz Amerika - werden rückhaltlos einander ausgeliefert - zur gegenseitigen Zermürbung und Vernichtung. Man hat damit ein kostengünstiges Selbstbeschäftigungs- und Selbstneutralisierungsprogramm. Es hilft nichts, vom Beschämenden und Schändlichen dieser Art Produktion in den Elendsvierteln der Erde den Blick zu wenden. Dem Proletariat ist nicht mit Verherrlichungen und Beschönigung gedient, sondern mit Erkenntnissen. Gefragt werden muß: wie kann aus dieser Destruktivkraft eine neuerliche Produktivkraft im Dienst der Aufhebung der herrschenden Verhältnisse werden ?
 Bourdieu gibt in seinem Buch einen Hinweis. Im Interview wird der >hustler< x aus Chicago vorgeführt, einer, der zwar davon träumt, einmal wieder Profiboxer zu werden, inzwischen aber - das ist der Wortsinn von hustler - durch gelegentlichen Drogenhandel, durch Formen von Edelzuhälterei, durch sehr seltene Lohnarbeit im archaischen Sinn sein Geld verdient.
Im Kommentar wird aber auch aus der Biographie von Malcolm X zitiert: Eben dieser Malcolm X bezeichnet und beschreibt sich da selbst als ehemaligen >hustler < - und doch ist es ihm gelungen, eine Bewegung anzufachen, die zwar zunächst auf enger, religiös fixierter, ja halbrassistischer Basis beruhte, aber paradoxerweise auf dem Umweg über die Bekehrung zum Islam als einer monotheistischen Religion, die Menschheit als ganze zu denken erlaubte - trotzdem zur Konzeption einer Bewegung über alle ethnischen Schranken hinaus führte.

Bourdieus Bestandsaufnahme im "Elend der Welt".

Eine nicht gleiche, aber entsprechende Bewegung finden wir in französischen Bidonvilles und Vorstädten. Lesen wir Bourdieus Interviewsammlung aus dem Jahr 1992, so nehmen wir - bei aller Vitalität doch hauptsächlich Zerstörung und Passivität wahr. Wie der Titel: „Das Elend der Welt" es ausdrückt, dominiert im ganzen Buch das Leiden, nicht die Auflehnung dagegen. Trotzdem kam es im Dezember 1995 in Frankreich zu einer Massenbewegung, in der das wirklich Neue war, daß - obwohl die Gewerkschaften des Öffentlichen Dienstes in Führung gingen - die Trennung zwischen Arbeitenden und Arbeitslosen, Franzosen und Immigranten aus den ehemals französischen Kolonien, Legalen und Illegalen (sans papiers) immer wieder stellenweise überwunden wurde. Also ist es selbst auf der Grundlage dieser massenhaften Zerstörung und Selbstzerstörung der ehemaligen Organisationen der Arbeiterklasse möglich? Wodurch? 
Nicht so sehr durch die Einigung gegen den gemeinsamen Feind. Diese Einigungsmethode, rassistisch von Le Pen immer wieder erfolgreich inszeniert, hat gerade im Dezember 95 versagt.
.Der Bourgeois umgekehrt als der klassische und wirkliche Feind ist weitgehend unsichtbar geworden. Auch er ist "in die Funktionale gerutscht."
 Wodurch aber dann? Es muß tatsächlich in den vom Fabrikzwang freigesetzten Massen - in der normalerweise zerstörenden Beziehung aufeinander eine Möglichkeit bestehen, in einem gewissen Augenblick sich selbst als streitende Masse zu erblicken, als ohnmächtig wimmelnden Ameisenhaufen - und in der Empörung über diese Erniedrigung, sich zusammenzuschließen und damit die Erfahrung zu machen, welche Gewalt in der Organisierung steckt, dem Zusammenschluß zu Genossenschaften, Gewerkschaften, Initiativen und punktuellen Bündnissen. Organisation wird dann zum ersten Mal nicht mehr nur Kasernenbau für künftige Kämpfe, wie die alte Arbeiterbewegung es in ihren Heeresmetaphern für die PARTEI zu sehen liebte. Sie wird Teil des Kampfes selbst. Im Akt der Zusammenballung entziehen notwendig die Zusammentretenden dem Beherrschungssystem die bisherige Zuarbeit der gegenseitigen Beaufsichtigung und Blockierung. Jeder Zusammenschluß dient dann tendenziell der gemeinsamen Regelung der eigenen Angelegenheiten.
Technisch, bzw. in geschichtlichen Begriffen ausgedrückt: die Tatsache der Organisierung nimmt Rätecharakter an.
Die aus der Verzweiflung zu entwickelnde These lautete demnach: eben in der Freisetzung vom Fabrikzwang, in der Freisetzung von der Produktion von Dingen, im leidvollen Zwang zur Hinwendung zum andern Menschen, schlummert die Möglichkeit, die Fesseln abzustreifen, die jene falsche Produktion der gegenseitigen Zerstörung auferlegte. Im selben Augenblick wird dem Kapital jene Zuarbeit entzogen, die bisher die Menge nieder-, Ausrichtung auf Lohnarbeit ohne dauerhafte Aussicht darauf aber aufrechterhielt.
Daß diese Vorstellung nicht eine bloße Spinnerei darstellt, zeigen die intensiven Versuche der Regierung Blair, durch Neuerungen des staatlichen Eingriffs vor allem die Jugendlichen noch einmal bei der Stange zu halten. Die Verlängerung der täglichen Schulzeit etwa bis 16 Uhr soll die jüngeren alleinerziehenden Mütter zumindest dazu befähigen, eine Weiterbildung aufzunehmen, natürlich mit den allergeringsten Aussichten, später eine Arbeit zu finden. Hauptsache, die Arbeitsbereitschaft bleibt erhalten und es entsteht kein allgemeines Klima, in  welchem arbeitsloses Einkommen als Recht gegenüber Staat und Gesellschaft eingeklagt werden könnte. Zugleich werden natürlich die Lehrer und anderen Schulbediensteten auf der einen Seite, die betreffenden Mütter auf der anderen  als Gruppen neusortiert und gegeneinander gehetzt, um in geschlossenen Fronten aufzumarschieren und sich gegenseitig in Schach zu halten. Der Staat kann dann den Posten des sozial verantwortlichen Schiedsrichters übernehmen.
Tote Arbeit - die mich totschlägt
Wenn es sowohl in den USA wie in  England wie in den Versprechungen unseres Schröder solche ungeheuren Anstrengungen gibt, dann muß  in dem Potential der jetzt noch atomisierten und zersplitterten Massen tatsächlich eine Gefahr für die Aufrechterhaltung und Weiterführung eines Systems liegen, das immerfort nicht nur die lebendige Arbeit, sondern das wirklich gelebte Leben zusätzlich der toten Arbeit und  damit dem Erstarren überliefert.
Tote Arbeit verstehen wir, wenn wir den Blick einmal aus der Fabrik hinausgelenkt haben, nicht bloß in der Herrschaft des aufgehäuften Kapitals über die gegenwärtige Arbeit, auch nicht im engeren Sinn in der Herrschaft der Maschine über den lebendigen Menschen, der nach ihrem Takt arbeitet statt  sie nach dem seinen.
Wir sehen auf der Gegenseite des Kapitals - auf der der arbeitenden und auf Vorrat in  Arbeitsbereitschaft gehaltenen Massen - eine Technik, im Zeichen der Moderne, der Flexibilität, der Anpassungsfähigkeit und wie  all die Dompteurworte heißen - die Menschen von eben der Vergangenheit   loszureißen, in der sie  doch die primären Lebensreflexe und die Lebensausrichtung  erhalten haben.
Wieder gibt Bourdieu in der Fundgrube seines Buches unzählige Beispiele:
- der inzwischen selbst alt gewordene Algerier, der von der Verfluchung durch seinen Vater erzählt, als er sich nach Frankreich zur Arbeitsaufnahme aufmachte
- die Lehrerin, die die eigene Lehrtätigkeit, ihr intellektuelles Leben zu verurteilen sich genötigt sieht, weil sie einerseits wie die meisten Lehrer - bloß in der übersteigerten Teilnahme am Beruf produktiv werden konnte, damit aber die Fähigkeit verlor, mit ihrem Lebensgefährten und Ehepartner ein einziges sinnvolles Gespräch zu führen. 
- Oder der alte Gewerkschaftler, der fassungslos auf die jungen Zeitarbeiter schaut, die mehr verdienen als er, aber als Angehörige von Zeitfirmen, am Streik weder teilnehmen können noch wollen. Oder in derselben Fabrik- der Sozialist, der entdecken muß, daß alle anfangen, von der Werksfamilie zu schwallen, von der Selbständigkeit der Arbeitsgruppe und vom Recht dieser Gruppe, einen Facharbeiter der Firmenleitung zur Entlassung vorzuschlagen, weil dieser Leimsieder mit dem Tempo der Bandfertigung inzwischen nicht mehr mitkomme...
Die wenigen Beispiele zeigen : Sozialtechniken entfalten ihre Wirksamkeit, die die Menschen abtrennen von ihrem bisherigen Leben Welches trotzdem Herz, Hirn, Hand, ja die gebahnten Reflexe weiterhin beherrscht. Erst in diesem Augenblick wird das Vergangene der Alb, der auf der Brust hockt oder - eher am Rücken hängt - der Alb, der uns nicht Schlaf noch Wachen gönnt. Erst in diesem Augenblick kann es den Versuch geben, von fundamentalistischer oder nationalistischer Seite, den Menschen eine Wiedervereinigung mit dem eigenen Toten scheinhaft zu versprechen. Wenn nur die Störung durch den anderen weg wäre, dann hätten wir wieder ein Leben, wie wir es inzwischen als unser früheres im Gedächtnis fixieren. eigentlich aber nachträglich erfinden.
 

Vergangenheit als Material
In dieser äußersten und letzten Beraubung, in der Erinnerung nicht nur entzogen, sondern im selben Akt zum Wiederanschluß trügerisch angeboten wird, liegt trotzdem auch die Chance einer Drehung. Durch die Losreißung hat das Vergangene den Charakter des Selbstverständlichen, des bloß Vorhandenen Gegebenen verloren. Es kann aus der Distanz, über den Verlust hinweg ins Auge gefaßt und neu mit dem Leben verknüpft werden - so daß, nach dem Gedanken von Marx das Vergangene der gegenwärtigen Lebenstätigkeit dient Beispiele dafür gibt es wirklich

Eins der bekanntesten aus älterer Zeit verdanken wir der Schilderung Sartres. Aus "critque de la raison dialectique".
Die französische Revolution war in Gefahr. Der König drohte, noch "zuverlässige Truppen" gegen das schon unruhige und halbaufständische Paris zu schicken. Die ersten die von den Truppen erreicht worden wären, waren die Bewohner des Faubourg St. Antoine  Diese  sahen  sich also im Juli 1789 eingeklemmt zwischen der Festung Bastille mit ihren auf das Viertel gerichteten Kanonen und den heranrückenden königstreuen Truppen des Louis XVI, die nur über ihr Viertel in Paris hätten eindringen können. In dieser Lage, da sie nicht bereit sind, sich zu unterwerfen, sehen sie ihr Stadtviertel mit neuen Augen: die Durchgänge, die zu benutzen wären, die Materialien für Barrikaden, die gegebenen Engstellen, an denen solche zu errichten wären. usw.: Was sie bisher bestimmte, was ihre täglichen Wege kanalisierte, was als von anderen errichtete Baustruktur ihr Leben beherrschte, das verwenden sie nun in bewußter Drehung als ihr Werkzeug ihre Waffe. Und dann die Lastwagenfahrerstreiks in Frankreich und den USA als Beispiel aus neuerer Zeit. Die Ritter der Landstraße, wie sie sich selbst sehen, die Unabhängigen und Rauhbeine, werden zunehmend durch Handys immer neuen Direktiven ausgesetzt. Die moderne Technik des Verzichts auf Lagerhaltung (just-in-time) macht pausenloses Umdirigieren möglich und nötig, so daß aus den - in ihren Vorstellungen - Unabhängigen, vielleicht sogar formal selbständigen Lastkraftwagenfahrern unversehens die aller ausgelaugtesten Zappelphilippe und Hampelmänner des Lagerhaltungsmanagements werden. Nur daß die Handys und Funkgeräte nicht nur eine Hör-, sondern auch eine Senderichtung haben: eben über diese Geräte gelang es gerade den Chauffeuren der LKWs, blitzschnell neue Treffpunkte und Straßensperren zu verabreden - und die traditionelle Unabhängigkeit verwandelte sich in die Fähigkeit zum Aufbau einer Organisationsstruktur fast ohne Generäle an der Spitze und die in der alten Gewerkschaft oft so lähmende Vorstellung, es müßten immer alle auf den Troß und die Nachhut warten. In der Fähigkeit der unmittelbaren Kommunikation eines jeden mit einem jeden entwickelte gerade die scheinbar zurückgebliebene handwerkliche Form des Einzelkämpfertums auf der Landstraße beachtliche Schlagkraft.
 Auch an das Kirchenasyl ließe sich denken. Aus verjährter Erinnerung, mühsam hervorgeholt aus mittelalterlichen Zeiten, wird es zur konkreten Waffe umgeschmiedet gegen die rassistische Abschiebepraxis der europäischen Regierungen.
***
Wo bleibt die INTERNATIONALE?

Obgleich nicht dem Inhalt, ist der Form nach der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie zunächst ein nationaler. Das Proletariat eines jeden Landes muß natürlich zuerst mit seiner eigenen Bourgeoisie fertig werden. (MANIFEST)
*
Ahnungsvoll verdeutlichte Marx fast dreißig Jahre später (1875) in der Kritik am Gothaer Programm der Vereinigten Sozialdemokratischen Partei, was er damit gemeint und was er vor allem nicht gemeint hat.
Die damalige - schon die damalige! - SPD hatte den Satz folgendermaßen fortgeführt:
Die Arbeiterklasse wirkt für ihre Befreiung zunächst im Rahmen des heutigen nationalen Staats, sich bewußt, daß das notwendige Ergebnis ihres Strebens, welches den Arbeitern aller Kulturländer gemeinsam ist, die internationale Völkerverbrüderung sein wird." 
Marx schlägt dieser Art Parteifreunden die "Völkerverbrüderung" um die Ohren als eine dem bürgerlichen Friedens- und Freiheitsbund entlehnte Phrase, die als Äquivalent passieren soll für die internationale Verbrüderung der Arbeiterklassen im gemeinschaftlichen Kampf gegen die herrschenden Klassen und ihre Regierungen.
Wie soll, fragt Marx weiter, die deutsche Arbeiterklasse damit ihrer eigenen, mit den Bourgeois aller anderen Länder bereits verbrüderten Bourgeoisie und Herrn Bismarcks internationale Verschwörungspolitik das Paroli bieten.
Die SPD zeigte 1914, wie sie Paroli bot. Sie lag entschlossen auf dem Bauch vor ihrem Kaiser, der zur Belohnung dafür kurzfristig keine Parteien mehr kennen wollte, nur noch Deutsche. Hauptsache, die Kriegskredite flutschten.  Für heute wäre für internationale Verbrüderung der Bourgeoisie IWF und Weltbank einzusetzen - für Bismarck die zeitgemäßen Sparbrötchen Kinkel (alt) und J.Fischer (neu) mit ihrer "Friedens- und Freiheitspolitik" in Bosnien und - demnächst KOSOVO

DREI BERAUBUNGEN - DREI FOLGERUNGEN.
.
Und wie steht es mit der INTERNATIONALE  der Gegenseite?
Dreifach geschah die Beraubung der Arbeiterklasse, und zwar weltweit, ungeachtet aller Einkommenserhöhungen und Lebenserleichterungen:
    Die Erweiterung der Kommunikationsmittel erfüllte Marx 1848 mit ungeheurer Hoffnung. Wie schnell würde jede nationale Abteilung der Arbeiterklasse von den Kämpfen jeder anderen erfahren, sie sich aneignen und aus ihnen lernen. Inzwischen müssen wir uns eingestehen, daß die menschliche Kommunikation eben durch die neuen Mittel, die sie erleichtern sollten, zum großen Teil enteignet wurde. Sie dienen einerseits dem raschen Binnenverständnis unter den Herrschenden, andererseits der Neutralisierung und Bedudelung der Beherrschten. Wenn Wahrheit noch durchkommt, dann nach dem Zufallsprinzip.
 Im Namen der Individualisierung wurde selbst der Gedanke an organisiertes Handeln etwa in der Gewerkschaft zur Perversion erklärt und der Gedanke an die Assoziation freier Menschen zur gemeinsamen Produktion als Verschrobenheit und Idiotie -
 der Stoffwechsel mit der Natur verzog sich endgültig hinter den Rücken der Produzenten, die ihn doch zugleich mit eigenen Händen unmittelbar betreiben. So erscheint das eigene Werk nach den Direktiven des Kapitals (im Beispiel der Bauunternehmen in Süditalien) im Bergrutsch als unfaßbares Naturereignis.
 

Wir haben keine Rezepte anzugeben, wie dagegen vorzugehen wäre. Nur die allernächste Stoßrichtung bleibt offensichtlich:
 Die Kommunikationsmittel müssen zurückerobert werden. die verzweifelten Versuche, z.B. das Internet zu kontrollieren, zeigen, daß  hier die Produktivkraft wie schon bei Tonkassette und  Computerdiskette - die lähmenden Produktionsverhältnisse in Form von Eigentumsgesetzen  und Urheberrechten schon lange hinter sich gelassen hat. Da gilt es weiterzubohren. .. 
    Es muß wieder unmittelbaren sprachlichen Austausch geben zwischen den Kämpfenden in einzelnen Ländern(die gemeinsamen Aktionen gegen beabsichtigte Entlassungen bei den verschiedenen Renaults in Europa boten einen Ansatz)
  Die Rede vom "Postfordismus" der     gegenwärtigen Wirtschaftsentwicklung hat ihren wahren Kern darin, daß die Arbeit - auch die verbliebene Lohnarbeit - weitgehend aus dem begrenzten Raum der Fabrik hinausgetreten ist. In dieser Richtung ziehen wir weiter   ins Offene :Stadt. Land, Fluß, die ganze Erde werden das Arbeitsfeld der einmal selbstbestimmt kooperierenden Menschheit ausmachen
****
                  Denkbild 2
Hegel sah sich selbst am Ende der Geschichte und damit im Besitz eines  endlich erworbenen Wissens über ihren Verlauf und letzten Sinn. Darum sah er die Eule der Minerva - also der Erkenntnis - erst in der Dämmerung fliegen.
Heute dämmert es wieder -. Aber die Eule der Minerva fliegt nicht mehr. Sie hat die Federn eingezogen. Zusammengesunken, zum Käuzchen geschrumpft, hockt sie im fahlen Licht. Die Eule reizt die anderen Vögel. Und alle stürmen auf sie ein. Hacken und Kreischen. In allem, was sie auswürgen gegen das Tier der Nacht, legen sie ihr Innerstes frei. Sie schreien ihre Todesgewißheit heraus. Im Angriff auf das angeblich Tote und Tödliche in Marx setzen sie das Abgestorbene und Erstarrte in sich selbst in Bewegung. Das könnte Chance der Ausfahrt sein, ist aber zunächst Zerstörung des Standpunktes, auf dem sie stehengeblieben sind. Die Vögel fahren auf. Aber sie trauen sich nicht, den Wind der Zeit unter die Flügel zu nehmen. So taumeln sie am Ende vor der Eule nieder, dem verrufenen Kauz....

 
nach oben