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  KOMMUNISTISCHE STREITPUNKTE - Zirkularblätter - Extra zum Krieg - 16.10.1999 - Onlineversion

Belgisches Hühnerklein /taz /12.6.99

von Antoon Wouters
 
Die eifrigen Versuche der christdemokratischen Ministerpräsidenten, Luc Dehaenes, den Skandal in den Griff zu bekommen, standen von Anfang an im Schatten der nahenden Parlamentswahl. Denn am Sonntag wird in Belgien nicht nur für das Europaparlament, sondem so ziemlich alles neu gewählt: nationales Abgeordentenhaus, neuer Senat und neue Regionalparlamente. Kein Wunder also, daß sich Dehaene, der einer christdemokratisch-sozialistischen Koalition aus vier Parteien vorsitzt, gestem bemühte, einen Schlußstrich zu ziehen: "Ich bin überzeugt, daß sich kein Dioxin mehr in den Lebensmitteln findet." Derweil ließ sich seine Frau beim Zubereiten eines Huhns von der Presse ablichten. Trotzdem werden Dehaenes Partei Verluste prognostiziert, die ihn den Anspruch auf die kommende Regierungsbildung kosten könnten.
Seinen Anfang nahm der Dioxin-Skandal in der zweiten Januarhälfte. Bereits im März erfuhr das Landwirtschaftsministerium von der Lieferung verseuchten Viehfutters an Hühnerzüchter sowie Schweine- und Rindermäster,
Besonders in der Hühnerzucht waren die Folgen katastrophal: Tiere erkrankten, legten keine Eier mehr oder starben. Ende April erklärte ein Lebensmittelprüfer dem christdemokratischen Landwirtschaftsminister Karel Pinxten und dem sozialistischen Gesundheitsminister Marcel Colla, daß es sich vermutlich um Dioxin handelte. Er bat die beiden Minister, die Sache nicht bekanntzumachen. Aus gutem Grund. Der Mann arbeitet nicht nur für die Regierung, sondem nebenher auch als Gutachter für die Versicherung eines der betroffenen Hühnerzüchter.
Untemehmerische Belange waren im Spiel, was zählt da schon die körperliche Unversehrtheit der Bevölkerung. Pinxten und Colla hielten die Sache geheim, nicht nur vor ihren Kollegen im belgischen Kabinett, sondem auch vor der EU-Kommission. Die Niederlande und Frankreich, die verseuchte Futtermitel aus Belgien  importiert hatten, wurden Anfang Mai benachrichtigt. Aber auch dort hielten die Verantwortlichen dicht.
 Hinter den Kulissen betrieben  Pinxten und Colla Schadensbegrenzung und versuchten im Interesse der Branche, die Sache unter Kontrolle zu bekommen. Doch die Politiker unterschätzten die Tragweite der Krise. Colla etwa ging  davon aus, daß verseuchte Nahrungsmittel "ohnehin bereits verzehrt" seien.
Am 26. Mai bekamen Pinxten - und Colla durch Labortests den unumstößlichen Beweis geliefert, daß das Futter zweifelsfrei dioxinhaltig war, und zwar 1.500mal über dem zulässigen Grenzwert Einen Tag später wurde die Sache ruchbar. Zwei Wochen vor den Wahlen schlug die Nachricht ein wie eine Bombe.
Anfänglich nahm Dehaene seine Minister in Schutz: Beide hätten alles Notwendige getan. Doch da hatte der Premier die Rechnung ohne den liberalen Oppositionsführer Guy Verhofstadt gemacht. Pinxten und Colla hatten ihrem Chef verschwiegen, daß ein Lebensmittelprüfer sie bereits Ende April in einem Fax gewarnt hatte, daß Dioxin in Futtermittel festgestellt worden sei. Verhofstadt hatte dieses Fax und setzte den Premier "diskret" in Kenntnis - ohne jedoch auf gezielte Indiskretionen gegenüber der Presse zu verzichten.
Fünf Tage nach Bekanntwerden des Dioxin-Skandals mußten Pinxten und Colla ihre Kabinettssessel räumen. Der Christdemokrat und Vizepremier Herman Van Rompuy übernahm das Agrarministerium, sein Kollege von der sozialistischen Fraktion Luc Van den Bossche das Gesundheitsministerium. Ihre Aufgabe war es, die Affäre unter Kontrolle zu bringen und die EU zu besänftigen.
Man wußte seit der Erfahrung Großbritanniens mit BSE, daß man auf die Nachsicht der anderen Mitgliedstaaten nicht zu hoffen braucht. Die EU-Kommission ließ alle halbwegs verdächtigen Produkte ausnahmslos vom Markt nehmen, selbst Milch und Milchprodukte. Belgien indes weigerte sich, den Verkauf von Milch zu verbieten. Eine Kommission aus Dioxin-Experten hatte der Regierung versichert, Milch sei unbedenklich. Die Milch eines Untemehmens würde ihrer Argumentation nach schließlich mit der anderer Betriebe vermischt. Dennoch mußte sich der burgundische Belgier weitgehend mit vegetarischer Cuisine zufriedengeben. Notgedrungen. Die Regierung verfügte ein absolutes Schlachtverbot für Hühner, Schweine und Rinder, Tag für Tag wurden weitere Produkte aus den Regalen genommen: Erst Huhn und Eier, dann eierhaltige Produkte, wie Nudel und Mayonnaise, schließlich alle fetthaltigen Fleischwaren wie Speck und Pastete. Vergangenes Wochenende kamen außerdem Sahne, Käse und Butter auf die Verbotsliste, um Stunden später wieder für unbedenklich erklärt zu werden. Am Montag wurde Butter dann doch aus den Regalen genommen
Alle Welt stoppte die Einfuhr belgischer Nahrungsmittel. Viele Nahrungsmittelhersteller bereiten seither Schadensersatzforderungen vor, deren Umfang im Augenblich noch nicht abzuschätzen ist. Analysten schätzen die Einbußen für das Bruttoinlandsprodukt schon jetzt auf 0,25 bis 0,40 Prozentpunkte, das entspricht etwa bis zu 50 Milliarden belgische Franc (2,4 Milliarden Mark). Als der neue sozialisistische Gesundheitsminister Van den Bossche im Vorfeld der Parlamentswahlen vom Sonntag  seinen christdemokratischen Kabinettskollegen in Femsehauftritten düpierte, kehrte Premier Dehaene am 4. Juni unvermittelt und nur widerwillig vorzeitig vom Gipfel in Köln zurück und erklärte die Affäre zur Chefsache. Aber das Agrarministerium, das mit Getreuen aus den Bauemverbänden durchsetzt war, verweigerte die Zusammenarbeit. In der Nacht zum 8. Juni schob Dehaene die komplette Verwaltung des Landwirtschaftsministeriums beiseite. Anschließend schickte er in einer Blitzoffensive nächtens die Polizei in die Spur, die die Kundenlisten verdächtiger Betriebe beschlagnahmen sollte: Das Ergebnis war verblüffend. Die Liste von neun dioxinverseuchten Futtermittelbetrieben wuchs auf 32 an, diejenige verdächtiger Hühnerzüchtereien auf 810. Insgesamt erbrachte die späte Kontrolle 365 Firmen mehr, als das Landwirtschaftsministerium bis dahin dingfest gemacht hatte.
Am vergangenen Mittwoch kamen noch mal 760 Legebatterien hinzu. Sie wurden von einem großen Futtermittelhersteller "spontan" gemeldet - aus Angst.
 
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