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  KOMMUNISTISCHE STREITPUNKTE - Zirkularblätter - Extra zum Krieg - 16.10.1999 - Onlineversion

Die albanische Frau /FREITAG /26.4.99

von Martina Achenbach
 
Das Bild der totalen Manipulierbarkeit der Menschen. In immer kürzeren Fristen gelingt es, aus Nachbarn Feinde zu machen, aus fernen Zuschauern Parteigänger der einen Seite und Hasser der anderen. So wie einige Männer mit Karabinern genügen, um die Menschen eines Dorfes zu terrorisieren und zu trennen, so kann Haß an beliebigen Orten der Welt erzeugt werden und zur Rechtfertigung und Unterfütterung für militärisches Eingreifen dienen. Obwohl die Methoden durchschaubar sind, läßt ihre Effektivität nicht nach. Ein Grund für die Wirksamkeit mag sein, daß dem oder der Einzelnen keine Interpretationsalternative übriggelassen wird. Allein Nein zu sagen aber ist sehr schwer, und manche müssen es unverhältnismäßig teuer bezahlen.Brecht ließ seinen Galilei sagen :  die Menschen ertragen es nicht, daß man einen Stein fallen läßt und behauptet, er falle nicht. Er glaubte an die Erfahrung, an die Überzeugungskraft der Beobachtung. Heute sagt ein Sprecher zu Bildern von flüchtenden Männern, Frauen und  Kindern :  es kommen nur Frauen und Kinder aus dem Kosovo, die Männer werden zurückgehalten und ermordet. Das Bild von Srebrenica taucht auf, soll auftauchen. Und ich fürchte, Millionen Zuschauer sehen nicht, was auf dem Bildschirm vor sich geht, sondern was sie sehen sollen. 
Und das Schlimmste :  so wie angekündigt, wird es auch kommen, ist es wohl schon gekommen. Was gedacht wird, geschieht irgendwann. Mit unheimlicher Gewalt. Gibt es für uns Beobachter dieses Krieges so etwas wie Erfahrungen, denen zu trauen ist ?
 Abertausende werden nun ihre Odyssee als Vertriebene rund um die Welt beginnen, wie vor ihnen schon Tausende.Albaner und Serben ,denn auch Belgrad entleert sich.Die Flüchtlingserfahrung ist in der  Nähe zu finden, bei ganz zivilen Menschen, einer Familie aus Kosova, die in Berlin lebt, die ihre Lage als Geduldete und Abhängige haßt, sich quält, weil sie weit entfernt von ihren umhergetriebenen Familien und Landsleuten ist und die sich mit Hoffnung ernährt: Feride, Besim, drei Kinder. Sie kommen aus Prishtina.
Eines Tages, es ist sechs Jahre her, suchte die serbische Miliz Besim zu Hause. Seine Mutter informierte ihn in seiner Arbeitsstelle, brachte ihm seine Papiere und Geld.
Wie bei so vielen Flüchtlingen war es Zufall, daß er nach Deutschland geriet. Vier Wochen später folgte seine Frau Feride mit den Kindern, dem sechsjährigen Sohn Gent und der fünfiährigen Rozofa. Als scheinbare Touristen begannen sie die Reise, ein ganzer Bus füllte sich, die meisten waren Bosnier. Durch Mazedonien, Bulgarien, Rumänien, Ungarn, Tschechien ging es, an jeder Grenze mußten sie Geld in die Pässe legen. Nach fast zwei Wochen lag vor ihnen die deutsche Grenze. Hundert Menschen warteten in einem Wald auf der tschechischen Seite die Dunkelheit ab. Es war Dezember 1993. Sie gingen los über unwegsames Gelände. Säuglinge wurden mitgetragen. Sie weinten oft. Die Leute ohne Kinder herrschten die Mütter an. Schon waren sie auf deutschem Territorium, da wurden sie entdeckt. Feride kam mit ihren Kindern und anderen Müttern ins Gefängnis. Wie der Ort hieß, weiß sie nicht mehr. Eineinhalb Tage waren sie im Gefängnis, 600 Mark Strafe nahm man ihr ab, dann wurden sie zurück nach Tschechien abgeschoben. 
Das war ihre erste Begegnung mit Deutschland. Nach der Abschiebung, am selben Abend noch, sammelten sich die übermüdeten. Flüchtlinge erneut auf der tschechischen Seite. Die Schleuser erwarteten sie. Und wieder kletterten sie Hänge hoch und hinab. Wieder weinten Babies, ausgerechnet dann, wenn Häuser im Dunkeln auftauchten. Hunde bellten. Dann stockte alles, die Schleuser verloren den Kontakt zu ihren Verbindungsleuten. Zwei Stunden wartete die große Flüchtlingsgruppe, die schlafenden Häuser in Sichtweite. Gents Zehen froren ein. Feride überlegte: soll sie zu diesen Häusern gehen, ihr Kind retten? Würde man sie anzeigen? Soll sie es in Kauf nehmen? Endlich war der Kontakt wiederhergestellt, in einem Wäldchen wartete auf sie ein Fleischtransportwagen.. Sie hatten Glück, es gab einen Schlitz zum Atmen. Vorn verloren viele das Bewußtsein. Sieben Stunden fuhren sie, ihre beiden Kinder, die nie die Nerven verloren, drückte sie an sich. Auch jetzt sitzen sie dabei, hören aufmerksam zu und verbessern die Mutter, wenn ein Detail nicht stimmt. 
Einmal mußte getankt werden, der Fahrer gebot ihnen Stille. Den Kindern wurde der Mund zugehalten. Ankunft in Berlin. Es sollte wieder ein Wäldchen sein, aber die dünnen, gerade gepflanzten Bäume verbargen nichts. Sie fühlten sich ausgesetzt. Ein PKW stand da, ein Albaner darin, der seine Leute erwartete, die aber nicht unter den Flüchtlingen waren. Feride setzte sich einfach in sein Auto, mit den Kindern, mit der anderen Mutter und deren Fahrer. Er war der letzte Führer aus der zweiwöchigen Reise, der sich teuer bezahlen ließ. Kurz nach ihrer Abfahrt tauchte die Polizei auf und nahm alle restlichen Ankömmlinge fest.
Feride und Besim waren in Prishtina Maschinenbauingenieure. Feride mit ihrem schmalen, feingeschnittenen Gesicht, langen glatten Haaren und lebhaften Bewegungen hat in Deutschland keine Arbeitserlaubnis, ihr Mann erhielt politisches Asyl und damit ein Recht auf Arbeit. Aber er findet sie nur selten. Feride betreut unentgelltich, unter Aufsicht des Sozialamts, eine traumatisierte Albanerin. Als freiwillige Dolmetscherin hat sie so viele Einblicke in psychische und soziale Not gewonnen, daß sie inzwischen wohl die Qualifikation einer Sozialarbeiterin hat.
Am zweiten Tag der NATO-Bombardements riß der Telefonkontakt nach Prishtina ab. Zehn Tage lang wußten sie nichts von Ferides Eltern. Dann kam ein Anruf aus Mazedonien, dorthin waren sie gelangt. Die ganze Familie weinte lange aus Erleichterung. Und dann überfiel Feride eine Lähmung, zwei Tage lag sie steif und starr, sank in völlige Gleichgültigkeit gegen ihre Umgebung. »Meine Eltern! Sie sind phantastische Menschen«, sagt Feride. Ihr Vater war ein Waisenkind: Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, als er zehn war, erschossen Partisanen seinen Vater als albanischen Nationalisten und verschleppten den älteren Bruder. Die Mutter starb vor Kummer. Der Zehnjährige versorgte zwei jüngere Brüder, konnte nie eine Schule besuchen, blieb Analphabet, aber war »der klügste - ein freier Mensch!« Und er ermutigte seine acht Kinder, auch die Töchter, ebenfalls freie Menschen zu werden. Ein freier Mensch ist ihr Lieblingswort, ihr Ideal. Es scheint, darunter versteht Feride einen Menschen ohne Vorurteile
 "Drei Religionen umgeben uns: der Islam, die Orthodoxie, der Katholizismus. Die Kinder fragen uns manchmal: welche Religion haben wir denn? Wir sagen ihnen: wir glauben an Gott. Punkt. Mehr ist nicht wichtig." So hat auch der Vater Feride erzogen und sie fügt an :  »Ich bin froh, daß wir nicht noch den religiösen Irrsinn im Kopf mit rumtragen. ... Sie wollte, daß die Kinder sich bilden und rückte dafür das letzte Geld heraus. Im Haus in Prishtina gab es hunderte Bücher, einer der Brüder sammelte eine große Bibliothek, er heiratete nicht, lebte mit den Büchern, studierte Philosophie, hatte auch Stipendien in Westeuropa. Er ist jetzt zusammen mit den Eltern geflohen, mußte seine Schätze zurücklassen. Den aufflackernden Schmerz über diesen Verlust versucht Feride sofort wieder abzukühlen: "Daß man immer an das Materielle denkt! Das ist doch egal."
Für sie sind die NATO-Bomben auf Serbien ein Labsal, ein Trost, Gerechtigkeit, die langersehnte Strafe für den Gegner, gegen den man nicht frontal antreten konnte, weil er lange Zeit der Stärkere war. Vergewaltigung und Gemetzel würden zu den Serben gehören. Dieses Volk sei wahnsinnig, es verfolge ein Mord- und Selbstmordprogramm. Allerdings seien die Serben immer noch geschickt und erfolgreich, es gelinge ihnen, Mitleid zu wecken mit den wenigen Opfern, die sie bisher zu bringen hatten. Eine Angst schwingt mit, daß die Serben Mitgefühl von den vertriebenen und geschundenen Albanern abziehen könnten. Für alle kann das Mitgefühl kaum reichen: Daß es auch ein authentisches serbisches Leben in Kosova gab, leugnen beide. Sie meinen, es seien nur Beamte, später angesiedelte Bauern. Zu einem Brief des Bischofs Pavle,   heute Patriarch der serbisch-orthodoxen Kirche, aus dem Jahr 1961 an den Heiligen Synod kann sie nur die Achseln zucken :  »Es besteht noch ein Drangsal..., das ist die stärkere Abwanderung unserer Leute. Als ich im Winter in Devici war, gab es in diesem Dorf 17 serbische Häuser. Es blieben nur noch sechs übrig. Jetzt wandern die letzten drei ab...« (zitiert nach Christine von Kohl; Kosovo: Gordischer Knoten des Balkan.1992)
In Ferides und Besims Vorstellung ist kein wirklicher Platz auf dieser Welt für Serben. Daß nicht alle Serben gleich sind, wollen sie konzedieren, aber es klingt matt, und in ihrer Ehrlichkeit sagt Feride : »Ich kann es jetzt nicht glauben.« Die emotionale Kraft reicht nicht, um für Serbien eine gleichberechtigte Existenz, ein Gedeihen, ein gutes Nebeneinander mit Albanien zu denken. Es ist nachvollziehbar, und es ist zugleich die Falle. Sobald anderen die Entwicklung nicht zugestanden wird, ist die eigene Emanzipation in Gefahr. Nationalismus bedeutet immer und überall den falschen Konsens und die unkontrollierbare Herrschaft der selbsternannten Wächter der Nation.
Sie schaut ihr jüngstes Kind an, blauäugig wie die beiden Großmütter. »Dieses Kind habe ich geboren, damit es ein Flüchtling wird,« sagt sie bitter. Sie habe sich Vorwürfe gemacht. Es werde wie sie immer am Rand leben, nie zu den »Einheimischen« gehören, nie integriert sein. Denn wird das Flüchtlingsleben je ein Ende finden?, zweifelt sie. ... Eigentlich lebten, erzählen beide, die Albaner auf dem ganzen Balkan noch vor den Slawen, in Gestalt ihrer Vorfahren im Altertum, den Illyrern. Die Römer besiegten und integrierten sie.
 Ob sich die albanische Sprache von der illyrischen ableitet, ist nicht völlig gesichert. Im vorigen Jahrhundert nannte sich die Erneuerungsbewegung in Kroatien »Illyrier«, es war zu jener Zeit ein Losungswort gegen nationale Borniertheit, Fremdherrschaft und Kleinstaaterei. Für Feride und Besim bekräftigt der Gedanke an den illyrischen Ursprung ihr Recht auf einen funktionierenden, angesehenen, von niemandem bedrängten Staat, der alle albanisch besiedelten Gebiete, auch mazedonische,umfasse.
 Wenn Kosova jetzt in Grund und Boden  bombardiert wird - "Was tuts? Wir werden es wieder aufbauen." Die  Sucht nach der tabula rasa ist eine überwältigende Tendenz dieser Zeit. Bei allen Unternehmungen ist es nicht das Ziel, Gewachsenes zu erhalten, sondern es zu überwinden, Authentisches zu eliminieren oder darauf zu verzichten. Der radikalste und schnellste Vernichter ist natürlich der Krieg. Und obwohl alle sehen können, wie mühsam und unzureichend noch fünzig Jahre nach dem letzten Weltkrieg in Europa das Zerstörte restauriert wird, hält sich der Mythos, an dem die Deutschen ihren fatalen Anteil haben, man könne alles wieder aufbauen, es diene sogar dem Fortschritt
Der Hauptimpuls für diesen langlebigen Irrtum ist wieder der Nationalismus. Haben wir je Abend für Abend solche Flüchtlingsströme gesehen? Die Hochebene Kosova wird von Menschen entleert und vermint. Der Bodenkrieg wird vorbereitet. Die Erschöpfung der Menschen an den Grenzen, ihre aufgerissenen Lippen, ihre ratlosen Blicke füllen wieder die inneren Atlanten aller Fernsehzuschauer  mit Bildern der Grausamkeiten an. Diese Flüchtlinge sind die wahrhaftigen Opfer, und obwohl sie die größte Macht der Welt an ihrer Seite haben, sind sie Verlassene. Nicht unähnlich den Serben, die zur gleichen Zeit in die »Steinzeit zurückgebombt werden« (Zitat aus einem anderen Krieg). Und fast alle Zuschauer halten angesichts der unerträglichen Bilder ihr Denken an und antworten im fast weltweiten Chor: Wir kennen den einzigen Schuldigen.
 
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