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Nr. 7-8/1998

Konferenz der DKP: "150 Jahre Manifest der Kommunistischen Partei"

Referat von Hans Heinz Holz
Das Kommunistische Manifest und die Sozialismusvorstellungen der DKP

gehalten am 21.2.1998

I

Der 150. Jahrestag der Entstehung des Kommunistischen Manifests ist hinreichend Anlaß für eine kommunistische Partei, dieses Datums zu gedenken. Das Manifest ist das Gründungsdokument der kommunistischen Arbeiterbewegung. Natürlich gab es schon vorher eine utopische Theorie des Kommunismus, gab es kommunistische Organisationen, die sich an den utopischen Theorien mehr oder weniger orientierten. Erst das Manifest aber gab diesen Bewegungen die programmatische Grundlage, auf der der Kampf um eine von Ausbeutung und Unterdrückung freie Gesellschaft nicht nur von subjektiv bedingten Wünschen und Zielen angetrieben, sondern aus der Einsicht in die Gesetzlichkeit geschichtlicher Prozesse geführt werden konnte. Mit dem Manifest beginnt eine neue Ära der Politik. Das Manifest ist das Dokument des welthistorischen Übergangs von der Vorgeschichte der Menschheit, in der die gesellschaftlichen Verhältnisse sich hinter dem Rücken der Menschen herstellen, zur Geschichte, in der die Menschen aus Erkenntnis der und Möglichkeiten von Produktion und Reproduktion ihres Lebens ihr Schicksal frei gestalten können. Hatte Hegel gesagt, die Weltgeschichte sei der "Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit", so schmiedet das Manifest nun den Schlüssel des Tores zur tatsächlichen Freiheit. Seitdem wissen wir nicht nur, wofür – sondern auch nach welchen strategischen Regeln wir zu kämpfen haben. Grund genug, das Manifest in Erinnerung zu behalten, es immer aufs neue in unserem Bewußtsein zu verankern, nicht als eine Urkunde aus einer fernen Zeit, sondern als einen Motor unseres Tuns und als ein Organon unseres Selbstverständnisses.

Wir Kommunisten sind kein Traditionsverein. Wenn wir das Manifest feiern, dann geht es uns zwar auch um unsere Geschichte, die mit allen ihren Kämpfen, Siegen und Niederlagen, Leistungen und Fehlern ein unverzichtbares Moment unserer Identität ist; vor allem und vorrangig geht es uns aber um unser Ziel, die Errichtung einer sozialistischen und dann kommunistischen Gesellschaft. Darum fordert uns die Erinnerung an unser erstes programmatisches Manifest heraus, die angestrebten Etappen unseres heutigen Kampfes zu bestimmen. Kants drei Grundfragen "Was können wir wissen? Was sollen wir tun? Was dürfen wir hoffen?" lassen sich auch für uns stellen. Wir spitzen sie allerdings in anderer Richtung zu: Was wir wissen können, sagt uns der dialektische und historische Materialismus, der wissenschaftliche Sozialismus als Theorie der Geschichte und des Verhältnisses von Natur und Mensch, als Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs, in dessen Rahmen sich das Einzelne und Besondere einzufügen haben, wenn wir keine fatalen Fehler machen wollen. Was wir tun sollen, hier und jetzt und mit Blick auf die Zukunft der Menschheit, formulieren wir in unserem Aktionsprogramm, das wir von Fall zu Fall den sich verändernden Umständen, Kampfbedingungen und erreichten Zielen anpassen. Was wir hoffen dürfen und worauf unser ganzes Tun sich richtet – das ist der Sozialismus als die erste Stufe auf dem Wege, der uns am Ende in die kommunistische Gesellschaft führt, von der es im Manifest heißt: " An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist" (MEW 4, 482).

II

Was dürfen wir hoffen, das heißt, was sollen wir als erstes Etappenziel auf dem Weg zum Kommunismus erstreben? Wie kann und muß eine sozialistische Gesellschaft beginnen, welche Schwierigkeiten und Probleme werden sich ihr stellen? Den Rahmen einer allgemeinen Vorstellung von Sozialismus zu entwerfen, ist gegenwärtig eine der theoretischen Aufgaben, die sich die DKP gestellt hat. Ein Entwurf – nach einer ersten Diskussionsrunde bereits in überarbeiteter Fassung – liegt vor und wird von den Genossinnen und Genossen heftig und kontrovers diskutiert. Wir hoffen, am Ende dieser Diskussionen wird eine aussagekräftige Bestimmung des politischen Ziels der Partei, des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus, gegeben werden können.

Man kann dem entgegenhalten, Ihr nehmt Euch mehr vor, als die Verfasser des Manifest glaubten sagen zu dürfen. Aus gutem Grund haben Marx und Engels keine ausgearbeiteten Vorstellungen über die Lebensweise und gesellschaftlichen Organisationsformen im Kommunismus entwickelt. Ihnen genügte, die allgemeinen Bedingungen anzugeben, unter denen nach Beseitigung kapitalistischer Produktionsverhältnisse eine neue Stufe der Menschheitsgeschichte beginnen sollte: Aufhebung des Privateigentums an den gesellschaftlichen Produktionsmitteln und damit Aufhebung der Klassenspaltung. Wie im einzelnen dieser Übergang sich vollziehen würde, könnte nur aus der Analyse der konkreten historischen Umstände zu bestimmen sein: wo, in welcher Phase des Verfalls des Kapitalismus und der Entwicklung der Produktivkräfte, in Anknüpfung an welche kulturellen Traditionen der Formationswechsel stattfinden würde. Das zu realisieren, ist die politische Aufgabe derer, die in dieser Epoche leben und handeln werden.

Eines war Marx und Engels klar: der Übergang würde nicht ohne Kämpfe gehen und gegen den Widerstand der bisher herrschenden Klasse und ihrer Gefolgsleute durchgesetzt werden müssen. Die Arbeiterklasse und ihre Verbündeten brauchten darum, gestützt auf ihre Mehrheit, politische Macht zum Aufbau der neuen Gesellschaft; dies nannten Marx und Engels die Diktatur des Proletariats als die Form der politischen Machtverteilung, die die Veränderung der Eigentumsverhältnisse garantieren sollte. Der Beginn des Sozialismus würde die Übernahme der Staatsfunktionen durch die Organe der Arbeiterklasse sein.

Allerdings haben Marx und Engels die ersten notwendigen "Maßregeln" genannt: "Die ökonomisch unzureichend und unhaltbar erscheinen, die aber im Lauf der Bewegung über sich selbst hinaustreiben und als Mittel zur Umwälzung der ganzen Produktionsweisen unvermeidlich sind" (MEW 4, 481). Das heißt, sie haben den vorläufigen Charakter von Eingriffen in die bestehenden Verhältnisse beim Namen genannt – vorläufigen Eingriffen, die aber unerläßlich Schritte zur Einleitung des Übergangs sind, wenn überhaupt die Veränderung der Gesellschaft in Gang kommen soll. Wie das Sprichwort sagt: Rom ist nicht an einem Tag erbaut worden. Es gibt keine Regel, nach der sich dieser Übergang in aller Welt auf die selbe Weise vollziehen müßte. Im Gegenteil. Marx und Engels betonen: "Diese Maßregeln werden natürlich je nach den verschiedenen Ländern verschieden sein." (MEW 4,481). Was sie als die ersten Schritte für die damals ,fortgeschrittensten Länder ziemlich allgemein' nennen, entspricht einem aktuellen Aktionsprogramm des Jahres 1848. Einiges möchte auch heute noch (oder wieder) gelten, anderes ist durch die Veränderung des Kapitalismus in seinem imperialistischen und heute staatsmonopolistischen (beschönigend Neoliberalismus genannten) Stadium und durch die neuen Formen der Produktionsmittel überholt. Aktionsprogramme und Sozialismusvorstellungen sind verschiedene Dinge; sie haben andere historische Bezugspunkte, einen anderen historischen Stellenwert. Man darf sie nicht vermengen.

Genügt es also nicht, die allgemeinen und unverzichtbaren Voraussetzungen für den Übergang zum Sozialismus zu wiederholen, die schon Marx und Engels angegeben haben? Nämlich die Aufhebung des privaten Eigentums an den Produktionsmitteln. Vergesellschaftung von Grund und Boden, von Rohstoffen, von Kommunikationsinstrumenten, Verstaatlichung des Kreditwesens, Herstellung echter Demokratie durch Sicherung der Herrschaft des Volkes (der Allgemeininteressen) über Sonderinteressen und gegen die Bestrebung konterrevolutionärer Wiederherstellung des Kapitalismus, d.h. Diktatur des Proletariats. Darf eine kommunistische Partei heute weiter ins Detail gehen angesichts der Tatsache, daß eine sozialistische Revolution gewiß nicht nahe bevorstehend ist, und sich bis zum Eintritt des Übergangs noch mancherlei in der wissenschaftlich-technischen Umwelt und in der weltweiten Organisation der Kapitalmacht ändern wird.

Es gab 70 Jahre lang eine sozialistische Sowjetunion, mehr als 40 Jahre ein sozialistisches Gesellschaftssystem in Osteuropa. Die Systemkonkurrenz zwischen Kapitalismus und Sozialismus war die weltpolitische Struktur der Epoche seit der Oktoberrevolution. In dieser Systemkonkurrenz hatten die sozialistischen Länder von vornherein den Nachteil des niedrigeren Entwicklungsstandes, der geringeren Ausbildung gesellschaftlicher Institutionen, wie sie von den bürgerlichen Revolutionen des 18. Jahrhunderts in Westeuropa und Nordamerika erkämpft worden waren, der Behinderungen und Zerstörungen durch militärische Bedrohung und Überfälle. Sie hatten den Vorzug, all ihre gesellschaftlichen Kräfte für das allgemeine Ziel einsetzen zu können, "vermittels der gesellschaftlichen Produktion allen Gesellschaftsgliedern eine Existenz zu sichern, die nicht nur materiell vollkommen ausreichend ist und von Tag zu Tag reicher wird, sondern die ihnen auch die vollständige freie Ausbildung und Betätigung ihrer körperlichen und geistigen Anlagen garantiert" (MEW 19, 226). Die sozialistischen Gesellschaften haben in dieser Systemkonkurrenz Unvergleichliches geleistet. Sie sind zum Schluß unterlegen.

Es ist hier nicht der Ort, um auf die vielfachen Gründe dieser Niederlage einzugehen; das ist an anderer Stelle geschehen. Aus dem 70 Jahre dauernden und schließlich gescheiterten Bemühen, eine sozialistische Gesellschaft mit dem Ziel des Kommunismus in der Sowjetunion und in Osteuropa aufzubauen, folgern die Gegner des Sozialismus dessen historische Unmöglichkeit; sie führen vor allem jene Fehler und Mängel ins Feld, die aus besonderen Ausgangsbedingungen der Oktoberrevolution hervorgegangen sind und verallgemeinern diese negativen Erfahrungen. Kommunisten, die am Ziel des Sozialismus als der historischen Alternative zum Kapitalismus festhalten, geraten daher in die Lage, für die Entwicklungsperiode der Ablösung des Kapitalismus und des beginnenden Aufbau des Sozialismus inhaltlich bestimmtere Aussagen zu machen, als dies die Klassiker taten. Da dieser Übergang sich nur auf der Basis einer breiten und durchaus nicht gesamthaft kommunistischen Bevölkerung vollziehen kann, wird von Kommunisten erwartet, daß sie sagen, wie sie ihre eigene Stellung und Funktion in diesem Übergangsprozeß und im Bündnis mit anderen fortschrittlichen Kräften verstehen. Der Hinweis auf die allgemeinen geschichtlichen Entwicklungsgesetze reicht nicht mehr aus. Menschen, die sich für uns entscheiden sollen und wollen, haben angesichts offenkundiger Mängel beim ersten Aufbau des Sozialismus ein Recht zu fragen, wie es beim nächsten aussehen soll und besser gemacht werden kann.

III

Wir brauchen diese Fragen nicht zu scheuen. Gerade die DKP hat in diesem Deutschland, das einmal aus zwei Staaten mit den verschiedenen Gesellschaftssystemen bestand und durch einen Eroberungsakt vereinigt wurde, einen einmaligen Erfahrungsschatz. Die Genossen und Genossinnen in Westdeutschland kennen seit 1945 die Entwicklung des modernsten Kapitalismus von innen und die Formen des politischen Kampfes in diesem System; die Genossinnen und Genossen in Ostdeutschland haben 40 Jahre sozialistischer Aufbauarbeit, ihrer Erfolge, ihrer Fehlschläge, ihrer Deformation hinter sich, und kennen das Lebensgefühl, die Lebensweise in einer sich entwickelnden sozialistischen Gesellschaft. Wer in Deutschland vom Sozialismus spricht, muß auch von der DDR sprechen, und von den Erfahrungen. die die Menschen in der DDR gemacht haben.

Es ist sicher nicht leicht, im nur formell geeinten Deutschland davon ein Bild zu vermitteln, 40 Jahre lang ist die DDR in der BRD ein Gegenstand dauernder publizistischer Hetze gewesen, die nahtlos an den Antikommunismus der Nazis anschloß. Das hat tiefe Spuren im öffentlichen Bewußtsein hinterlassen. Das Mißtrauen gegen die Gesellschafts- und Staatsform der DDR ist im Westen ungeheuer groß. Andererseits haben Sozialisten aus Solidarität oder Utopismus tatsächlich bestehende Mängel in der DDR nicht sehen wollen; sie wurden durch die Ereignisse der "Wende" und danach enttäuscht und in dieser Enttäuschung durch den Opportunismus der "Wendehälse" bestärkt. (Man darf auch nicht verschweigen, daß es, besonders auch in den Wissenschaften, eine rechthaberische Bevormundung der in Westdeutschland kämpfenden Genossen durch dogmatische DDR-Kollegen gab, die in mißmutiger Erinnerung geblieben ist. Doch das alles sollte unter Kommunisten nicht zu Verständigungsschwierigkeiten führen!) So gibt es Hindernisse für die gerechte Beurteilung und Aneignung der Leistungen, die mit dem Aufbau des Sozialismus in der DDR verbunden waren, der Erfolge in der Systemveränderung, die errungen wurden. Ich erinnere mich an einen umfangreichen Sammelband Marburger Politologen und Soziologen, "Systemvergleich BRD – DDR" (1971), in dem die DDR keineswegs schlechter weg kam als die BRD. Auf Einzelheiten gehe ich nicht ein; die können von DDR-Bürgern besser dargestellt werden als von einem Westdeutschen. Nur prinzipiell möchte ich sagen: wer immer darüber nachdenkt, wie der Übergang von einer kapitalistischen zu einer sozialistischen Ökonomie vollzogen werden könne, wird eine genaue Analyse der Entwicklungsphasen der DDR, der da gemachten Erfahrungen, und der theoretischen Reflexionen der DDR-Ökonomen vornehmen müssen; die sozialistischen Planer waren mit Realitäten konfrontiert, die sicher in einem zukünftigen Sozialismus nicht die gleichen sein werden, aber doch näher daran, als alles abstrakte Wunschdenken. Ohne Analogien gibt es keine geschichtliche Erkenntnis.

IV

Im Kommunistischen Manifest haben Marx und Engels sich die Zeit des Übergangs zum Kommunismus noch ziemlich kurz vorgestellt. Schon beim Nachdenken über die Pariser Commune haben sich ihre Zeiterwartungen verändert. Die historischen Erfahrungen mit den erfolgreichen sozialistischen Revolutionen, der Oktoberrevolution in der Sowjetunion, der Begründung der Volksrepublik China, dem Sieg der revolutionären Befreiungskämpfe in Kuba und in Vietnam haben gezeigt, daß zwischen dem erfolgreichen Abschluß des revolutionären Kampfes, also der Eroberung der politischen Macht, und der Errichtung einer neuen Gesellschaftsordnung eine lang zu bemessende Übergangsphase liegt. Mit der Übernahme der politischen Macht durch die Arbeiterklasse und der Veränderung der grundlegenden – also der Verstaatlichung der großen Industrie und der Finanzinstitute, sowie der Bodenreform – ist die Formationsspezifik der kapitalistischen Gesellschaft gebrochen, der Sozialismus als Anfang einer neuen Gesellschaftsform hat begonnen. Aber das heißt nicht, daß die bürgerliche Gesellschaft als Ganzes bereits überwunden ist, denn diese besteht aus vielen Elementen ökonomischer, institutioneller, menschlicher Vergesellschaftungsprozesse, nicht zuletzt aus lang dauernden Lebenseinstellungen, Werthaltungen, Bewußtseinsformen, die nicht einfach "abgeschafft" werden können, wie ein Parkverbot oder das Gebet vor der Mahlzeit.

Die Übergangsphase vom Kapitalismus zum Kommunismus ist als solche eine relativ selbständige gesellschaftliche Struktur, die in dauernder Veränderung – tendenziell zur Verwirklichung des Kommunismus, aber mit den Widersprüchen des Übergangs und der noch nicht vollendeten Aufhebung der Klassenunterschiede – begriffen ist. Sie ist also, formationslogisch, die erste Phase der geschichtlichen Ära des Kommunismus, aber keineswegs verwirklichter Kommunismus, und in ihren Anfängen noch nicht einmal wirklich verwirklichter Sozialismus. Gesellschaftsformationen darf man sich ja nicht als in sich geschlossene und gegeneinander genau abgrenzbare Einheiten vorstellen, sondern muß sie als Entwicklungsprozesse denken, die um den Kern zentraler Bestimmungsmomente der Produktionsverhältnisse statthaben.

Der beginnende Sozialismus wird unter anderem durch folgende Merkmale bestimmt sein:

  1. Im Sozialismus werden zunächst weiterhin Klassen bestehen; die klassenlose Gesellschaft entsteht erst am Ende dieses Prozesses und Ist bereits der Anfang des Kommunismus ist die Fortexistenz von Klassen bedeutet auch, daß es Klassengegensätze und Klassenauseinandersetzungen geben wird, die voraussichtlich durch Einfluß von außen verschärft werden, solange es noch kapitalistische Staaten neben sozialistischen in der Welt gibt.
  2. Die Entwicklung einer gesamtgesellschaftlichen Bewußtseinslage, die die sozialistische Lebensweise In einer allgemeinen Lebenseinstellung oder "Jedermannsphilosophie (Gramsci) spiegelt, wird langsamer vor sich gehen als die institutionellen Veränderungen; es gibt ein zeitliches Zurückbleiben des Bewußtseins und von Teilbereichen der Weltanschauung gegenüber dem Fortschritt in den Produktionsverhältnissen.
  3. Während die allgemeine Tendenz der gesellschaftlichen Entwicklung auf den Ausbau des Sozialismus ausgerichtet ist, wird es aus den unter 1 und 2 genannten Gründen auch Gegenströmungen geben, die den Fortschritt verzögern oder gar frühere Zustände wiederherstellen wollen.
  4. Der sozialistische Staat, aus einem Bündnis der Klassen hervorgegangen, die sich zur Überwindung des Kapitalismus zusammengetan haben, wird einen Klassenkompromiß zu vollstrecken haben. Diese seine Funktion wird sich auch in seinen Institutionen niederschlagen. Der sozialistische Staat ist der Ort, an dem der Widerspruch zwischen dem Fortschritt im Allgemeininteresse und der Verteidigung von Sonderinteressen (möglichst nicht-antagonistisch, d.h. mit geringem Konfliktpotential) ausgetragen wird. Daraus folgt, daß die Kommunistische Partei nicht Staatspartei ist, sondern den fortschrittlichsten Teil des Staatsvolks in sich vereinigt.
  5. Da nicht anzunehmen ist, daß der Sozialismus gleichzeitig überall in der Welt verwirklicht wird, muß international von der Koexistenz zweier Gesellschaftssysteme ausgegangen werden. Aber auch der Entwicklungsstand der sozialistischen Länder wird nicht einheitlich sein. Man muß also mit einer vielfältig differenzierten Weltgesellschaft rechnen, die nicht automatisch von solidarischen Interessen gelenkt wird. Kommunistischer lnternationalismus und staatliche Belange eines sozialistischen Staates sind nicht ohne weiteres und nicht immer gleichzusetzen. Aus dem Gesagten ergibt sich, daß wir mit allem Nachdruck formulieren können: der Sozialismus beginnt mit der Enteignung der in privater Hand befindlichen Produktionsmittel und Kapitalien, soweit sie für die Produktionsverhältnisse ökonomisch und politisch ausschlaggebend sind. Um diesen Kern gesellschaftlichen Eigentums wird er schrittweise weiter ausgebaut. Welche Schritte in einer Übergangsphase die erstmöglichen sind, ist nicht prognostizierbar. Das hängt von der tatsächlichen Ausgangslage ab, das heißt, vom ökonomischen Entwicklungsstand, von den bestehenden Kommunikationsstrukturen, von den Machtverhältnissen, von den mit Bündnispartnern einzugehenden Kompromissen.

Selbstverständlich gehören zu den ersten Schritten, die den Sozialismus einleiten, neben der grundlegenden Veränderung in den Eigentumsverhältnissen und dem damit verbundenen Aufbau einer rationalen Nutzung des gesellschaftlichen Reichtums durch eine globale Wirtschaftsplanung die elementaren sozialpolitischen Maßnahmen, die der unmittelbaren Hebung des Lebensstandards der Menschen dienen. Auf diesen Aspekt hat der DKP-Entwurf besonderen Wert gelegt. Recht auf Arbeit, Wohnung, Bildung, Gesundheits- und Altersversorgung werden von Anfang an im Sozialismus verfassungsmäßig gesichert sein.

V

Marx und Engels haben stets gesagt, daß der Übergang zum Sozialismus und dessen Aufbau die Fortexistenz des Staats unter der Hegemonie der Arbeiterklasse erforderlich macht. Der Staat wird nicht einfach abgeschafft, sondern er wird allmählich absterben; das schreibt Engels mit Marx' Einverständnis noch 1880 in "Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft", also mehr als 30 Jahre nach dem Manifest. Eine der zentralen Fragen wird daher sein, in welcher Weise ein sozialistischer Staat verfassungsmäßig organisiert ist.

In westeuropäischer Tradition ist davon auszugehen, daß die plurale Klassenstruktur und die noch nicht homogenisierten Interessenlagen der verschiedenen Bevölkerungsteile sich in der Existenz von Parteien ausdrücken und in ihnen und anderen gesellschaftlichen Organisationen, wie Gewerkschaften, Frauenverbänden usw. ihre politische Organe finden. Dabei ist das Modell des bürgerlichen Parlamentarismus sicher nicht die geeignete und auf jeden Fall nicht die einzige Form gesellschaftlicher Willensbildung und in großem Umfang durch dezentralisierte Beteiligungsmodelle zu ergänzen: Arbeitermitbestimmung in den Betrieben, örtliche Räte, Bürgerinitiativen, Konsultationsgremien u. a. m. sind geeignet, die Bürger in die politische Verantwortung einzubeziehen und Selbstbestimmung, die in jeder Massengesellschaft ja immer nur über Vermittlungsvorgänge zu einer gesamtgesellschaftlichen Politik werden kann, so zu verankern, daß sie von jedem als eine Lebenswirklichkeit erfahren wird.

Die kommunistische Partei, die als die Kraft des gesellschaftlichen Fortschritts zum Kommunismus an der vordersten Front der Geschichte steht und darum nie mit dem bereits ins sozialistischen Staat jeweils Erreichten zufrieden sein darf – das ist es, was Ihre Avantgarde-Rolle ausmacht – wird mit der Doppelfunktion zurechtkommen müssen, zugleich als führende Kraft des Staats im Bündnis mit anderen Parteien und Gruppen zu fungieren und die Instanz dauernder Kritik dieses Staat in seinem jeweiligen Zustand und treibende Kraft des Weiterschreitens zu sein. Um diese Doppelrolle ausüben zu können, sollten die Parteifunktionen personell getrennt sein von den Staatsämtern, die die Partei besetzt. Daß dies eine Frage der Stärke der Partei ist, liegt auf der Hand. Die Partei wird jedoch um so stärker sein, je deutlicher sie ihre Aufgaben als Partei von ihren Aufgaben als Teil der Staatsmacht zu unterscheiden vermag.

Der Aufbau des Sozialismus unter Beteiligung einer Mehrheit der Bevölkerung schließt eine fortlaufende Bewußtseinsentwicklung ein. Die Herausbildung einer Kultur mit neuen Lebenszielen und Wertorientierungen ist ein unerläßlicher Bestandteil sozialistischer Politik. Das ist kein Prozeß der Erziehung, in dem es Erzieher und zu Erziehende gibt, sondern das Ergebnis einer gemeinsamen Veränderung der Lebensweise. Die Bewußtseinsveränderung wird immer länger dauern als die Veränderung der materiellen Basis, und sie setzt diese voraus, sonst entsteht eine forcierte Willensanstrengung, die für kurze Zeit möglich und sinnvoll sein kann, aber auf längere Zeit nicht durchzuhalten ist. Subjektivismus und Voluntarismus haben keine historische Perspektive.

Abschließend: Der Übergang zum Sozialismus und der Aufbau des Sozialismus als Weg zum Kommunismus ist ein Prozeß mit zahlreichen Variablen und einigen Konstanten, an denen nicht gerüttelt werden kann, wenn es Sozialismus sein soll. Die Konstanten müssen mit aller Deutlichkeit und kompromißlos benannt werden. Die Variablen festlegen zu wollen, wäre ein Mangel an historisch materialistischer Offenheit und ein politischer Fehler. Diese Erkenntnis von Marx und Engels, die den wissenschaftlichen vom utopischen Sozialismus unterscheidet, werden wir nicht preisgeben dürfen.


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