Editorial
Viele Wege führen zum Reformismus

von Karl Mueller
11/05

trend
onlinezeitung
Vom 11.-13. November treffen sich an verschiedenen Veranstaltungsorten in Berlin rund 70 linke Intellektuelle, um den Kapitalismus mittels eines Kongresses mit dem Titel "Kapitalismus Reloaded" einzuschätzen. Peter Nowak kritisiert in seinem Kommentar das politische Selbstverständnis dieses Projekts. Und die TREND-Redaktion nimmt den Kongress zum Anlass, um mit Texten aus den TREND-Ausgaben der letzten Jahre auf theoretische Versäumnisse dieses Kongresses aufmerksam zu machen. Diese Texte erscheinen als kostenlose Druckausgabe mit der Schlagzeile: "Klassenkämpfe im Neo-Imperialismus" . Die Druckausgabe, bereits die zweite in diesem Jahr, kann zur weiteren Verbreitung heruntergeladen werden. In Berlin wird sie ab Kongress-Beginn in einer Auflage von 1.000 vertrieben werden.

Dass an so einem Kongress autistischer Dialoge auch Karl-Heinz Roth teilnimmt, ist aufgrund seines neuesten Buches - dem Essay "Der Zustand der Welt" - nicht verwunderlich, nimmt er doch darin ausdrücklich Bezug (S.4) auf sein 1994 erschienenes Buch "Die Wiederkehr der Proletarität". Darin hatte er das Konzept der "proletarische Zirkel" als weltumspannendes, selbst organisiertes Netz eines ontologisch und empirisch bestimmten revolutionären Subjektes vertreten (siehe dazu meine Kritik von 1994). Gemessen daran hat er heute - ein Jahrzehnt später - nichts Neues zu bieten. Auch heute propagiert er, wie damals durch die operaistische Brille geblickt, die weltweite Vernetzung regionaler Zirkel, nun aber mittels der Transport- und KommunikationsarbeiterInnen als Transmissionsriemen. Ex Ärmelo bestimmt Roth jene klassensoziologisch als "den Kern der industriellen Arbeiterklasse des 21. Jahrhunderts." Schließlich sollen diese ja "die Vereinten Nationen in einen sozialistische Weltföderation" transformieren. Ein politisches Projekt für Generationen. Selbstgefällig titelt Roth diesen Quark "Umrisse einer erneuerten sozialistischen Alternative".

So far so good bzw. bad, könnte mensch meinen und den Text an die Redaktion der Sesamstraße verweisen. Doch Roth geht es um mehr, er möchte endlich den klaren Trennungsstrich zum wissenschaftlichen Sozialismus ziehen. Daher verknüpft er mit seinen zwei zum Essay aufgeplusterten Referaten eine fundamentale Marxkritik (S. 46-61). Für Roth ist nämlich die "doppelt freie Lohnarbeit", die auf der Ware Arbeitskraft gründet, eine "Fiktion", weil ihr seiner Meinung nach ein nicht hinreichendes "Zirkulationsmodell" zugrunde liegt, so dass gegenwärtige und zukünftige "proletarische Konstitutionsformen" mit der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie nicht mehr zu erfassen sein werden.  Damit hat Roth sein Klassenkampfkonzept denklogisch gegen die Wand gefahren. So bemerkt er schlussendlich, dass eine damit einhergehende "begriffliche Konzeptualisierung" als "eine der wichtigsten Aufgaben der erneuerten Kritik der politischen Ökonomie" erst noch zu leisten sei.

Viele Wege führen zum Reformismus. Karl-Heinz Roths Weg führte dorthin über den theoriearmen Pfad des Operaismus. Wert-Ware-Geld-Beziehungen waren für diese Klassenkampflehre ohnehin nur personifizierte ökonomische Kategorien. Für Roth verkürzen sich daher komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge auf empirisch fassbare Konstellation und daran geklebte soziologische Zuweisungen ("soziale Autonomie"). Als sich Karl-Heinz Roth bereits vor vielen Jahren von der materialistischen Dialektik verabschiedete und die Theorie für ihn nur noch die instrumentalisierte Magd der Praxis sein konnte, war klar, dass die Entsorgung revolutionärer Inhalte folgen musste. Dieser Prozess darf mit seinem Essay "Der Zustand der Welt" als abgeschlossen betrachtet werden.

Michael Heinrich und andere zeitgenössische Neorevisionisten, wie etwa Ingo Stuetzle und Christoph Jünke lehnen Karl-Heinz Roths Zurückweisung der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie keineswegs ab, sie stört eher, dass ein namhafter Konkurrent ihr angestammtes Terrain betritt. Solche Widersprüche werden sicherlich den Unterhaltungswert des "Kapitalismus reloaded"- Kongress steigern und das mit sozialer Autonomie ausgestattete Publikum wird es zu goutieren wissen.