Anarchismus und Sozialstaat
Bericht vom A-Kongress 09

von Anne Seeck     

05/09

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Aha ein anarchistischer Kongreß, dachte ich mir, da geht’s du hin. Als ich dann das vorläufige Programm las, ärgerte ich mich wieder, wie so oft in der radikalen Linken, dass das soziale Thema nicht zu finden war. Also beschloß ich etwas zu Anarchismus und Sozialstaat zu machen. Nun bin ich zwar seit 10 Jahren in der Sozialprotest-/Erwerbslosenbewegung aktiv, soweit mensch diese überhaupt als Bewegung bezeichnen kann, aber die Verknüpfung von Anarchismus und Sozialstaat war auch mir neu. Im Grunde bezeichne ich mich auch nicht als Anarchistin, habe aber das Gefühl, dass ich in diese "Ecke" gehöre. Prägend war für mich in der DDR die Biographie von Erich Mühsam, ansonsten bekam mensch außer einem Buch zu Linksradikalismus aus marxistisch-leninistischer Sicht kaum etwas Anarchistisches zu lesen, wenn es die Leute im "Underground" nicht selbst schrieben. Seitdem schleppe ich diesen anarchistischen Geist in meiner kaputten Biographie so mit mir herum. Da ich in meiner politischen Arbeit auch viel mit "ReformistInnen" zu tun habe, bekam ich es dann auch gleich mit der Angst zu tun, ich könnte für die AnarchistInnen nicht radikal genug sein. (Wenn ich etwas hasse, dann ist es Dogmatismus.) Und genau: "Das war mir nicht radikal genug", sagte mir (46 Jahre, Hartz IV, psychiatrisiert, ein "Kind" von 22) auf der Veranstaltung dann auch ein junger Anarchist von Anfang 20. Und Thema verfehlt, hörte ich von ihm. Eine Frau meinte, Anarchismus hätte nun überhaupt nichts mit der sozialen Frage und sozialen Rechten zu tun. Das verschlug mir die Sprache, wofür kämpfen eigentlich die Anarchosyndikalisten. Ein marxistischer Genosse wußte natürlich wieder alles besser, ist eben gut geschult. Ihm entgegnete ich zum Schluß, auch wenn der Sozialstaat ein Mittel der Herrschaft und die erkämpften sozialen Rechte schlecht seien, so können Menschen wie ich leider nicht auf die Revolution warten, sondern wir müssen jetzt für Besseres kämpfen. Dafür bekam ich Beifall. Leute waren mir dankbar, dass ich mich mit dem Thema beschäftigte. Einige bekannte Gesichter machten mich sicherer. Einige aus anderen Städten knüpften mit mir Kontakt.

Sprache als Herrschaftsinstrument, ich versuche seit 10 Jahren durch die politische Arbeit meine Sprachlosigkeit in diesem System zu überwinden. Aber eben Thema verfehlt. Aber leider konnte ich auch auf nichts zurückgreifen. Im Internet fand ich keine relevante anarchistische Position zum Sozialstaat und in der Bibliothek der Freien außer einem Artikel auch nichts. Ganz wenig fand ich in meiner anarchistischen Literatur zu Hause, so bei Horst Stowasser und Rolf Cantzen. Auf Literatur vor 150 Jahren wollte ich nicht zurückgreifen, ich bin keine Historikerin und brauche keine Heros. Mich interessieren eher aktuelle Debatten, so meinte Jürgen Mümken in einem Interview mit der Jungle World, dass die Kritik der Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse entscheidender sei als die Staatskritik, denn in vielen Ländern würden sich die Staaten auflösen und seien damit auch nicht das "Paradies der Freiheit". Trotzdem begann ich meinen Vortrag mit Staatskritik.

Eigentlich wollte ich zunächst anarchistische, linksradikale und neoliberale Sozialstaatskritik aufzeigen, um dann zu verdeutlichen, dass viele soziale Rechte erkämpft wurden und diese gegen Verelendung schützen. Ich wollte auch beschreiben, welche Auswirkungen der Sozialabbau hat, wie sich die Krise manifestiert (letztlich werden wir doch dafür bezahlen..., wenn es keinen starken Widerstand gibt) und welche Alternativen die Linke anbietet. All das wollte ich zur Diskussion stellen, denn ich bin selbst ratlos, wie mensch sich "anarchistisch politisch korrekt" (Ha, ha) verhält. In der Erwerbslosenszene, in der ich mich bewege, wird meistens das bedingungslose Grundeinkommen diskutiert. Der Kapitalismus sitzt uns schon so tief in den Knochen, dass auch die Hartz IV-Betroffenen nur noch an den Staat appellieren. Ein Protokoll der Diskussion gibt es nicht, ich habe bereits referiert und moderiert. Jemand sprach auch die Konsumentenhaltung auf dem Kongreß an. Ich wollte mit dem Vortrag nur einen Anstoß dafür leisten, dass sich auch AnarchistInnen mit diesem Thema auseinandersetzen.

Wie gesagt, eine anarchistische Kritik am Sozialstaat fand ich nicht. Anarchistische Staatskritik besagt aber u.a., dass der Staat sich viele gesellschaftliche Errungenschaften angeeignet hat und den Staat vor allem das Erziehungs- und Gewaltmonopol sowie die Bürokratie ausmachen. Der Staat trete weltweit als Problemlöser auf, sei dazu aber nicht in der Lage. Er verbreitet Armut, Hunger, Kriege und Umweltzerstörung. Der Staat verdeckt die Privilegien der Mächtigen und im Staat fehlen die Freiräume zum Experimentieren.

Linsradikale Sozialstaatskritik betont vor allem die Befriedungsfumktion des Sozialstaates. Schon Bismarck hat das erkannt. Die Sozialdemokratie wurde gezähmt und aus den Gewerkschaften wurden Sozialpartner. In Zeiten der Systemkonkurrenz wurde der sogenannte "Wohlfahrtsstaat" ausgebaut, so z.B. 1961 mit dem Bundessozialhilfegesetz. Aber die Linksradikalen hatten schon immer eine Kritik am "Fürsorgestaat", denn er war immer repressiv und disziplinierend. Es gab immer Arbeitszwang. Vorbild war die männliche Erwerbsbiographie, die Reproduktionsarbeit der Frauen und die gesellschaftliche Arbeitsteilung blieben unbeachtet. Alle Lebensbereiche der Beschäftigten wurden und werden kontrolliert (durch Schule, Gesetze etc.), Erwerbslose entmündigt und diszipliniert.

Hartz IV treibt das Ganze auf die Spitze. Ganz abgesehen, dass Hartz IV Armut und Arbeitszwang (z.B. bei 1 Euro Jobs) bedeutet, Erwerbslose werden auch noch ausgeschnüffelt, sei es in dem ALG II-Antrag, beim Profiling oder durch Sozialdetektive, die ggf. in Schränken herumwühlen. Hartz IV-beziehende Jugendliche bis 25 dürfen aus ihrem Elternhaus nicht ausziehen, während andere vom Jobcenter gezwungen werden, aus ihren Wohnungen auszuziehen, weil die Miete zu teuer ist. (wie ich vor kurzem) Die ALG II-BezieherInnen sind zuerst von der Gentrifizierung betroffen. Meinungsfreiheit im Jobcenter? Wer kann schon offen sagen, dass er diese und jene Arbeit ablehnt. Dann verschwinden auch noch Akten und es wird kein Geld ausgezahlt. Und schließlich müssen sich die Erwerbslosen in der Öffentlichkeit anhören, dass sie "Parasiten" (Clement-Papier "Vorrang für die Anständigen") und "Sozialschmarotzer" seien oder sich "waschen und rasieren sollen, dann finden sie schon Arbeit". (Das Mißverständnis gab es in der Diskussion, wenn ich für soziale Rechte eintrete, dann bestimmt nicht für das Hartz IV-Gesetz...Was ja eigentlich auch klar sein sollte. Was AnarchistInnen unter sozialen Rechten verstehen, bedarf einer Diskussion, die ich hiermit anregen möchte.) Eine linksradikale Kritik ist auch, dass der Sozialstaat immer mit dem Nationalstaat verknüpft war. Und der Sozialstaat hat zwar die Verelendung beseitigt, zerstöre aber auch autonome Kapazitäten, die Bürokratie verwaltet die Menschen und entmündigt sie damit. Die Selbsthilfe müsse erweitert werden, sozialstaatliche Einrichtungen vergesellschaftet werden (Entbürokratisierung, Erweiterung der Partizipation); z.B. könnten an die Stelle staatlicher KITA`s selbstverwaltete Kinderläden treten (Ich sehe eher in Berlin, dass zum Beispiel Schülerläden nicht mehr ausreichend finanzielle Unterstützung erhalten und schließen müssen oder Kinder- und Schülerläden zu Mittelschichtseinrichtungen werden, um die Kinder abzuschotten.)

Aber nicht nur Linksradikale üben Kritik am Sozialstaat, sie sitzen mit Neoliberalen in einem "Boot", das ist scherzhaft gemeint. Neoliberale Sozialstaatskritik besagt, dass der Sozialstaat freiheitsgefährdend, bürokratisch und ineffizient sei. Neoliberale beklagen die Rundumversorgung, die Vollkaskomentalität und das zu hohe Anspruchsdenken. Der Sozialstaat sei aufgrund des demographischen Wandels und des globalen Standortwettbewerbs nicht mehr finanzierbar. Die soziale Sicherheit sei ein Standortrisiko, sie gefährde die Konkurrenzfähigkeit. Das Totschlagargument bei den Neoliberalen ist die Globalisierung. Ich beobachte immer mehr sozialdarwinistische Tendenzen, so die Einteilung der Gesellschaft in Höher- und Minderwertige, heute sind das oben die Leistungsträger und unten die Sozialschmarotzer.

An dieser Stelle folgte nun ein kurzer Vergleich zwischen Neoliberalismus und Anarchismus. Wie komme ich dazu. In meinen seltenen Diskussionen mit AnarchistInnen, die sich selbst so nennen, mußte ich einmal eine Nähe zu liberalen Einstellungen (FDP) feststellen.

Zum Menschenbild: Anarchisten sprechen oft von Selbstverantwortung, denn die Menschen seien mündig. Der Staat solle sich nicht in das Leben der Menschen einmischen. Genauso sieht es die FDP. Die Neoliberalen reden ständig von der Eigenverantwortung. Angeblich ist für die Neoliberalen der Individualismus der höchste Wert, in Wirklichkeit geht es ihnen aber um die Unterordnung unter Sachzwänge, und die Menschen werden schließlich zu Objekten. Dazu muß man sagen, dass der neue Geist des Kapitalismus die Kulturkritik der Linken aufgesogen hat. Kritik 1968 und danach war, dass der Kapitalismus die Freiheit, Autonomie und Kreativität beeinträchtige. Reaktion auf die Künstlerkritik war, dass statt Sicherheit jetzt "Autonomie" gewährleistet wurde, d.h. was Kapitalisten darunter verstehen, Flexibilität und Eigenverantwortung. Die "Selbstorganisation" fand Einzug in Managementkonzepte. Heute ist vor allem Kreativität und Eigeninitiative gefragt, aber sie muß natürlich profitabel sein. Der damaligen Kritik an der Vermassung wurde eine differenzierte Warenpalette entgegengesetzt. D.h. der Kapitalismus ist extrem wandlungsfähig, er hat sich "modernisiert", wozu auch die Linke beigetragen hat. Schon deshalb taugen anarchistische Texte, die vor 150 Jahren geschrieben wurden, nur noch bedingt.

Der Staat: Für Anarchisten geht es um weniger Staat (oder die vollständige Abschaffung), aber mehr Gesellschaft. Neoliberale wollen einen Minimalstaat/schlanken Staat bei sozialer Sicherheit (allerdings erschlagen sie Hartz IV-BezieherInnen mit Gesetzen) und öffentlichen Gütern, aber einen starken Staat, wenn es um die Durchsetzung des "nationalen Wettbewerbstaats" geht. Sie wollen nicht vergesellschaften, sondern privatisieren. Kernpunkt des Neoliberalismus ist das Privateigentum, Neoliberale kritisieren das öffentliche Eigentum, selbst Bildung und Kultur sollen privatisiert werden. Hier ist ein wesentlicher Unterschied zu den Anarchisten. Anarchisten unterscheiden zwischen Besitz (Gebrauch von Werten) und Eigentum (das infolge von Ausbeutung als Profit entsteht). Sie wollen die kapitalistische Produktionsweise abschaffen, die Alternative ist eine solidarische Bedarfswirtschaft /dezentrale Bedürfnisproduktion. Dabei stehen die Bedürfnisse der Menschen im Mittelpunkt, und nicht der Profit. Nun kam ich zum Aber. Denn bei aller Kritik am Sozialstaat von Seiten der Linksradikalen, die sozialen Rechte wurden oftmals erkämpft und sie schützen vor Verelendung und Willkür. Allerdings muß man auch feststellen, dass die Arbeiterbewegung damit immer zahmer und bürgerlicher wurde. So sahen noch Arbeitslosenprotesten 1892/94 in Berlin aus: "Ein Augenzeuge schreibt uns: An der Ecke der Schilling-und Großen Frankfurter Straße begegnete mir, von der Landsbergerstraße kommend, ein Zug von arbeitslosen Bauarbeitern. Diesselben holten sich von den dortigen Bauten Steine und warfen, immer im Marsche bleibend, fast sämtliche große Fensterscheiben ein. Der Zug bewegte sich die Blumenstraße und den Grünen Weg entlang. Hier wurden die Schaufenster verschiedener Bäcker- und Zigarrenläden, auch vereinzelter Hut-und Schirmgeschäfte zertrümmert. Die ausliegenden Sachen nahmen die Leute mit sich...Von einigen Ausnahmen abgesehen, machte die Masse durchaus nicht den Eindruck von Menschen, die nur aus Freude am Zerstören handeln. Man sah, es war der Ausdruck der Verzweiflung. Bei der Plünderung hörte man verschiedentlich die Rufe: "Gebt uns Arbeit!" - "Wir wollen Brot." Wir sahen, wie die Menge, nachdem sie einem Bäcker am Grünen Weg die Scheiben zertrümmert hatte, den Laden ausräumte und die Waren sofort aß."(aus "...ein bißchen Radau...") Und wie verhielt sich die Sozialdemokratie zu den Arbeitslosenprotesten. Sie distanzierte sich. Liebknecht sagte auf dem SPD-Parteitag 1892: "Ehrliche Arbeiter sind keine Lumpen...Jedenfalls haben unsere Parteigenossen bei den Februarkrawallen weder Fenster eingeworfen, noch Läden geplündert; wer das getan hat, verdient den Namen Lumpenproletarier, und zwar noch in schlimmerem Sinne als Marx ihn gebraucht hat." Auch als z.B. Anfang 1932 das Neuköllner Arbeitsamt in der Sonnenallee öffnete, wo sich heute "mein" Jobcenter befindet, kam es zu Unruhen: "In den ersten Tagen warteten bis zu 16000 Antragsteller in kilometerlangen Schlangen stundenlang auf Einlaß. Bei großer Kälte brachen unterernährte Menschen zusammen. Schließlich stürmten die wütenden Erwerbslosen das Arbeitsamt. In den folgenden Tagen blieb das Arbeitsamt von innen durch Wirtschaftsbeamte und Polizei verbarrikadiert. Die Lage beruhigte sich erst, als der Magistrat, unter dem Druck der Betroffenen, Verbesserungen im Alltagsablauf des Arbeitsamtes beschloß." (aus Schnauze voll !) In der Geschichte haben sich die Strategien geändert. Zunächst waren die Aktionen meistens spontan, direkt und oft gewaltsam. Mit den bürgerlichen Bewegungen und der Arbeiterbewegung hielten dann intermediäre (Wahlkampf, Petition, Unterschriftensammlung etc.) und demonstrative (Kundgebung, Demo) Aktionsformen Einzug. Es gab ein Mehr an Organisation und Planung, und weniger Spontanität. Nach dem 2. Weltkrieg, in Zeiten der Systemkonkurrenz und der Sozialpartnerschaft der Gewerkschaften, wurde in Westdeutschland ein sogenannter "Wohlfahrtsstaat" errichtet, aber auch dieser war oft ein Resultat von Kämpfen. In Zeiten des Fordismus, der Massenproduktion, des Massenkonsums und des Keynesianismus war die Staatsintervention hoch. Durch die Krise Mitte der 70er Jahre und vor allem den Regierungswechsel 1982 begann dann wiederum der Sozialabbau, der sich mit dem Zusammenbruch der Systemkonkurrenz seit den 90er Jahren noch verschärfte. Trotz alledem ist die soziale Situation in der Dritten Welt mit jener hier nicht zu vergleichen. Dort, wo es keine sozialen Rechte gibt, ist das Maß der Verelendung ungeheuerlich. Mike Davis hat das erschütternd in seinem Buch "Planet der Slums" beschrieben. Nach Schätzungen gab es 2001 921 Millionen Slumbewohner, 2005 mehr als eine Milliarde. Es gibt wahrscheinlich mehr als 200 000 Slums auf der Erde. Slumbewohner sind von Naturkatastrophen bedroht, so in der Nähe von Küstengebieten. Slums sind oft lebensgefährlich, sie befinden sich neben Chemieanlagen, Pipelines und Raffinerien, die Straßen sind verstopft. Aber das Schlimmste an allem ist das Leben im Unrat. Kinshasa mit 10 Millionen Einwohnern hat überhaupt kein Abwasserkanalisationssystem, in einem Slum in Nairobi gab es 1998 zehn Latrinengruben für 40 000 Menschen, in Mathare 4A gab es zwei Toiletten für 28 000 Einwohner. In Indien müssen ca. 700 Millionen Menschen ihren Darm im Freien entleeren. Die mangelnde Hygiene und Trinkwasserverschmutzung führen oft zu Krankheiten. Die Armutsbevölkerung in den Slums ist in der gegenwärtigen internationalen Ökonomie heimatlos. Sie ist zum Unternehmertum in der informellen Ökonomie gezwungen. Dieses Elend vor Augen, ich habe allerdings selbst noch keinen Slum gesehen (für mich einfach unvorstellbar), bin ich der Meinung, dass wir gegen Verelendung und damit für globale soziale Rechte kämpfen müssen.

Nun zurück zur Situation hier vor Ort. Die sozialen Rechte, die natürlich nicht ausreichend und kritikwürdig sind, sind also oftmals erkämpft und schützen hierzulande in der Regel noch gegen absolute Armut. Natürlich gibt es auch hier Obdachlose, Illegale etc., die kein Geld vom Staat bekommen. Und natürlich reicht auch vielen Hartz IV-Beziehenden das Geld nicht bis zum Monatsende oder Lohnarbeitende können von ihrer Arbeit nicht leben etc. Trotzdem ist generell die Situation nicht vergleichbar mit jener, die in vielen Ländern dieser Welt herrscht. Nun kam ich zu weiteren Argumenten, warum mensch für soziale Rechte eintreten muß. Denn was geschieht infolge des Sozialabbaus? Zunächst einmal beobachte ich einen Demokratieabbau. Aus dem Sozialstaat wird ein Kriminal- und Überwachungsstaat. Von einem Rückzug des Staates kann keine Rede sein. Der Staat wird zunehmend autoritärer, Normabweichung wird härter sanktioniert. Dazu muß ich sagen, dass ich bis 1989 in der DDR gelebt habe, und auch dort Repression gegen "Asoziale" und die soziale Randschicht in dem Arbeiter- und Bauernstaat der sogenannten Vollbeschäftigung erlebt habe. Um so mehr nahm ich die zunehmende Kriminalisierung der sozialen Randschichten in den 90er Jahren in Gesamtberlin wahr, die innerstädtische Verdrängungspolitik. Die sozialen Probleme nahmen zu, in der Bevölkerung wurde ein Sicherheitsbedürfnis angeheizt. Vorbild der Politik war jetzt die "Zero Tolerance" Strategie in New York. Die Verhaftungen wegen Bagatelldelikten stiegen in New York in den neunziger Jahren stark an, 1993 waren es 129 404 Verhaftungen, im Jahr 2000 75% mehr, die Zahl der Verhaftungen wegen minderschwerer Drogendelikte stieg sogar um fast 275%.

Maßnahmen gegen soziale Randgruppen hier waren Aufenthaltsverbote und Verbringungsgewahrsam (oftmals Verbringung an den Stadtrand). Viele Städte erließen Gefahrenabwehrverordnungen, in denen Betteln, das Niederlassen zum Alkoholkonsum und Nächtigen verboten wurden. Was ich auch feststellen mußte ist, dass dieser Staat sich immer eine Legitimation für den Ausbau der Repression sucht. Waren es früher Kommunisten und RAF, seit der "Vereinigung" plötzlich die "Ausländerströme" (Das Boot ist voll) und die "Organisierte Kriminalität", so nach dem 11.September 2001 der Terrorismus. Nun wurde der Sicherheitsstaat ausgebaut. Die wahren Gründe für das alles war natürlich die neoliberale Politik selbst, die zu einer zunehmenden sozialen Spaltung der Gesellschaft führte. Was sind nun einige Instrumente dieses repressiven Sicherheitsstaates? Es sind die Videoüberwachung, der Große Lauschangriff (Telefonüberwachung), die Überwachung von Emails und Internet, der Einsatz von V-Leuten und verdeckten Ermittlern, die Schleierfahndung (verdachts- und ereignisunabhängige Polizeikontrollen), Rasterfahndung, genetische Fingerabdrücke, Massengentests und polizeiliche DNA-Profil Dateien, Brechmittel-Einsatz und Vorratsdatenspeicherung. Eine Methode der Überwachung ist die Biometrie, wie die elektronische Lohnsteuerkarte, zentrale Identifikationsnummer, die elekrtonische Gesundheitskarte, biometrische Reisepässe. Es sind Online-Durchsuchungen und vieles mehr. Die technologischen Überwachungsmöglichkeiten sind unbegrenzt und Big brother nicht fern.

Der Sozialabbau führt auch zur Marginalisierung und Prekarisierung, zum Ausbau des Niedriglohnsektors. Hartz IV diente dazu, die Löhne zu senken. Auch in der Linken sind mittlerweile viele von Prekarisierung betroffen und Prekarisierung wurde zum Thema in der radikalen Linken. Robert Castel unterscheidet zwischen der "Zone der Verwundbarkeit", also jenen Prekären in unsicheren Verhältnissen, die sich in einer Schwebelage befinden, und der "Zone der Entkopplung", also jenen, die ausgegrenzt sind wie Hartz IV-BezieherInnen.

Besonders in den Städten polarisiert sich die Bevölkerung. Soziologen sprechen von der Segregation, auch eine Folge des Sozialabbaus. Laut dem Sozialstrukturatlas 2009 leben in Berlin 15 Prozent von Hartz IV, fast 40 Prozent der Berliner Haushalte müssen mit weniger als 1300 Euro monatlich auskommen. So sahen in Friedrichshain-Kreuzberg 35 Prozent der arbeitenden Menschen weniger als 900 Euro monatlich auf ihrem Konto. "Soziale Brennpunkte" in Berlin sind vor allem der Wedding und Neukölln.

Insbesondere in den Städten hat die Vertafelung der Gesellschaft zugenommen, eine weitere Auswirkung des Sozialabbaus. Aus dem Sozialstaat wird ein "Suppenküchenstaat" Vor 15 Jahren wurden die ersten Tafeln für Obdachlose gegründet, inzwischen nutzen viele arme Menschen (über eine Millionen) die Tafeln. 2005 gab es 320 Tafeln, Ende 2008 800. In Berlin gibt es 40 Ausgabestellen von LAIB und SEELE. Die Tafeln stützen eine Almosenpolitik, für die Dankbarkeit erwartet wird. Erwerbslose und Arme werden zu Almosenempfängern. Auch deshalb: Statt Almosen fordern wir soziale Rechte! Und auch die Rechten machen die soziale Frage zum Thema, so verknüpft die NPD Antikapitalismus mit Rassismus und Nationalismus. Oft wird ein Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Rechtsextremismus hergestellt. Aber Arbeitslosigkeit wirkt nur indirekt auf rechtsextreme Einstellungen. Sie kann dazu führen, daß die eigene Wirtschaftslage und der persönliche Lebensstandard schlechter eingeschätzt wird, daß in Folge die Unzufriedenheit mit der Politik steigt und in weiterer Folge "ausländerfeindliche" Einstellungen verstärkt werden. Arbeitslosigkeit sei aber keine Ursache von rechtsextremen Einstellungen. Je "normaler" soziale Ausgrenzung von Fremden auf gesellschaftlicher Ebene betrachtet und befürwortet wird, desto wahrscheinlicher sind rechtsextreme Einstellungen und Handlungen. Rechtsextreme Einstellungen werden in der Sozialisation erlernt und Arbeitslosigkeit kann dazu führen, daß sie ausgelöst oder verstärkt werden.

Hier kam die berechtigte Kritik von jemandem in der Diskussion, ich solle nicht die Begriffe der Herrschenden wie "Ausländer" benutzen. Ich rege mich auch immer auf, wenn von dem Begriff "Sozial Schwache" die Rede ist. Sprache ist ein Herrschaftsinstrument. Und selbst der Begriff "neoliberal" kann suggerieren, dass der Kapitalismus ansonsten nicht so schlimm ist. Und wie ich im Kapitalismus erfahren mußte, ist hier der Begriff "Freiheit" von den Herrschenden besetzt. Sie reden von Freiheit und meinen die Freiheit des Kapitals. Für mich war Freiheit immer wichtig, ich meine die Freiheit, wie sie Horst Stowasser in seinem Buch "Freiheit pur" beschreibt. Das Buch, das mir in einer psychotischen Phase sehr weitergeholfen hat. So habe ich mir Gesellschaft immer vorgestellt, die Zwangsverhältnisse im Realsozialismus und Neoliberalismus haben mich krank gemacht. Ergänzen möchte ich an dieser Stelle auch, dass meine Palette, welche Folgen der Sozialabbau hat, natürlich unvollständig war. So hat der Sozialabbau zur zunehmenden Spaltung der Gesellschaft geführt. Armut, Unsicherheit und Streß machen wiederum häufig krank. So ist die Zahl schwerer psychischer Erkrankungen in den vergangenen Jahren in Berlin stark gestiegen. Wie die Techniker Krankenkasse mitteilte, mussten deshalb 2005 insgesamt 49 000 Menschen und damit 11% mehr als 2001 in Klinken eingewiesen werden. Insbesondere in den sozialen Brennpunkten der Großstädte nehmen die Psychiatrisierungen zu. Eine weitere Strategie ist die Kriminalisierung. In den USA werden soziale Probleme auf diesem Umweg unsichtbar gemacht. In den USA saßen im Jahre 2001 2,1 Millionen Menschen in den Knästen, ca. 6,5 Millionen waren von strafrechtlichen Überwachungsmaßnahmen betroffen. Insbesondere junge schwarze Männer aus den Ghettos bekommen es mit dem riesigen Gefängniskomplex in den USA zu tun. Junge schwarze Frauen, die als Alleinerziehende Sozialhilfe bekamen, kamen in den "Genuß" der Sozialhilfereform von 1996, die Arbeitszwang im Niedriglohnsektor (workfare) bedeutete. Loic Wacquant schreibt, dass die Hauptklienten des Sozialhilfe- und des Gefängnisarms des neoliberalen Staates im Wesentlichen die beiden Gender-Seiten ein und derselben Medaille sind.

Soweit zu den Folgen des Sozialabbaus vor der Krise. Auf einer Kongreß-Veranstaltung mit Wolf Wetzel wurde mir nochmal deutlich, dass die Auswirkungen der Krise erst noch auf uns zu kommen. Er meinte, dass nach der Bundestagswahl auf uns Verhältnisse zu kommen, die wir so noch nicht kannten. Bevor es die Krise gab, waren immer folgende Argumente zu hören. Die nationale Politik sei entmachtet, weil das Kapital mit Abwanderung droht. Es gebe eine globale Konkurrenz um den besten Standort. Außerdem werde vieles EU-weit vereinbart.

In der Krise nun haben wir es mit einem verstärkten Staatsinterventionismus zu tun. Dazu muß mensch sagen, diese Krise ist keine konjunkturelle kleine Krise, sondern eine weltweite große Krise, die sogar eine multiple Krise ist (Weltfinanz- und Weltwirtschaftskrise, Welthungerkrise, weltweite ökologische Krise, Krise der Politik und Legitimationskrise des Kapitalismus, Verslumung der Dritten Welt, hegemoniale Krise). Was tut der Staat angesichts der Finanzkrise, er reagiert mit einer Feuerwehrpolitik: Bürgschaften für Kredite, Konjunkturprogramme, internationale Geldpolitik (Leitzins der Zentralbanken), Verstaatlichungen z.B. in USA, GB und Island, Garantien für Spareinlagen, Stärkung internationaler Organisationen z.B. IWF. Der Staat tritt als ideeler Gesamtkapitalist auf und stabilisiert das System. Der Staat war allerdings nie weg. Er hat nicht weniger, sondern anders reguliert. Seit den 80er Jahren hat er garantiert, dass der Markt so funktioniert. Er hat dafür gesorgt, die Löhne zu senken, dass der Arbeitsmarkt flexibilisiert wurde, ein Niedriglohnsektor entstand, mit seiner Steuerreform Lohnabhängige be- und Unternehmer entlastet wurden, in den USA wurde Wohnen im Eigenheim gefördert, es wurde die Rente privatisiert, Währungen wurden zur Ware durch das Ende der festen Wechselkurse, der Welthandel wurde liberalisiert, der Staat hat eine Privatisierungspolitik betrieben (Energie, Bildung, Wasser, Wohnen, Kommunikation etc.). Der Staat setzte den Markt als Instanz durch. Einige politische Entscheidungen waren z.B. 1988 die Liberalisierung der Finanzmärkte durch Basel I (die Kredite sollten nur mit 8% Eigenkapital gedeckt sein). 1990,94,98 gab es in Deutschland Finanzmarktförderungsgesetze; so wurde die Börsenumsatzsteuer abgeschafft, Derivate wurden zugelassen, Aktienrückläufe legalisiert. 1999 gab es einen EU Aktionsplan für Finanzdienstleistung, 2000 die Lissabon-Strategie, so wurden Landesbanken und Sparkassen unter Druck gesetzt, sich profitorientiert zu verhalten. 2000 kam es in Deutschland zur Steuerbefreiung bei Veräußerungsgewinnen; also Steuerfreiheit für Gewinne aus dem Verkauf von Unternehmensanteilen (Private Equity, Müntefering bezeichnete sie als "Heuschrecken"). 2001/2002 wurde die Rente privatisiert, 2004 das Anfangskapital für Investmentfonds abgesenkt, 2004 Hedgefonds in Deutschland zu gelassen, 2007 wurden Anlagemöglichkeiten durch das Investmentförderungsgesetz erweitert.

In der heutigen Zeit der Krise müssen wir eingestehen, dass die Linke nichts für die Krise getan hat, die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse haben sich nicht geändert. In Zeiten der Krise entstehen nationale, betriebliche Schicksalsgemeinschaften, wie "Wir sind Opel". Alte ökonomische Muster werden fortgeschrieben, so wird mit der Abwrackprämie die Autoindustrie gefördert. Und die Kosten werden schließlich auf die Lohnabhängigen abgewälzt. Wenn, dann ist perspektivisch am ehesten ein Green New Deal zu erwarten- ein grüner Kapitalismus, um auch daraus Profite zu schöpfen. Immer noch dominiert das Kapital das Problem und den Diskurs.

Was bieten nun die linken "Problemlöser" an. Die Gewerkschaften sind staatsfixiert und koppeln das Schicksal der Lohnabhängigen an den Betrieb (Wir sind Opel). Sie tragen nicht zur Politisierung bei und legitimieren ihre Zugeständnisse. Zu einer inhaltlichen Radikalisierung sind sie nicht fähig. Auch die Linkspartei ist staatsfixiert. Sie sagt, wir hatten schon immer Recht und kritisiert nur die soziale Unausgewogenheit. In der Linkspartei werden fortschrittliche Kräfte marginalisiert. Die Linkspartei ist nicht mobilisierungswillig und -fähig. Sie schreibt überkommene politische Konzepte fest (den national-keynesianischen Sozialstaat). Die Radikale Linke ist zu breiten Bündnissen bereit, aber es fehlen die Bündnispartner. Oft herrscht Verbalradikalismus und Ideenlosigkeit vor. Die Erkenntnisse zum Staatsinterventionsmus in der Krise habe ich aus einem Seminar mit Ingo Stützle, der für "Analyse und Kritik" schreibt. Zu dem, was zu tun sei, bot er insbesondere folgendes an. Es müsse Aufklärungsarbeit geleistet werden, da wo wir leben und arbeiten: Was bedeutet die Krise für meinen Alltag? Der Politische Austausch sollte über Bündnisse hinweg erfolgen, Widersprüche sollten auch benannt werden. Und gesellschaftliche Erfahrungen müßten als kollektive Prozesse organisiert werden. Es sollten offene Projekte sein, bei denen jede/r mitmachen kann. M.E. sind natürlich auch Alternativen wichtig. Der Neoliberalismus spiegelte Alternativlosigkeit vor. Jetzt hat diese Ideologie eine Legitimationskrise, das ist die Chance für die Linke. Der Kapitalismus bringt weltweite Verelendung und Ausbeutung, er steckt in einer großen Krise. In dieser Zeit werden Menschen wieder offener für andere Ideen. Der Marxismus-Leninismus als Staatsideologie mit seiner Parteiendiktatur hatte für viele Menschen verheerende Auswirkungen (genannt seien hier die Opfer des Stalinismus, aber auch die vielen tausenden politischen Gefangenen in der DDR). Eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem Realsozialismus in der Linken hat nicht stattgefunden. Aber wenn mensch den Kapitalismus abschaffen möchte..., muß mensch natürlich auch darüber nachdenken, was ist in der DDR schiefgelaufen und was muß anders gemacht werden. Der Sozialismus des 21.Jahrhunderts in Lateinamerika macht mir zum Teil Hoffnung, nicht der Führerkult und die Staatsfixierung, sondern die Selbstorganisation in den Armenvierteln. Gerade was die Selbstorganisation betrifft, sehe ich viele Chancen für AnarchistInnen auch in der heutigen Zeit. In der aktuellen Debatte zur Finanzkrise habe ich am ehesten bei Karl-Heinz Roth anarchistische Positionen gefunden. So schlägt er zwei Wege vor: Reformprogramme und die revolutionäre Transformation der kapitalistischen Gesellschaft. Auf lokaler Ebene spricht er von Arbeiterföderationen und Rätedemokratie, global von einer Weltföderation der gesellschaftlichen Autonomie, die auf diesen Arbeiterföderationen und Rätedemokratien basiert. Was sind nun anarchistische Alternativen? Diese kann ich in Stichworten nur kurz anreißen, hier sei z.B. das Buch "Freiheit pur" empfohlen. Die Gesellschaft sollte entstaatlicht werden, weniger Staat bedeutet die Zurückdrängung staatlicher Eingriffe, Kontrolle und Reglementierung. Der Staat sollte vergesellschaftet werden. Alternative wäre eine basisdemokratische und selbstverwaltete Gesellschaft; der Ausbau der Selbstverwaltung und Selbstbestimmung, die Dezentralisierung, Föderalistische Organisation, Basisdemokratie; Kommunalisierung der Gesellschaft (z.B. Nachbarschaftsräte) und eine Entbürokratisierung der Verwaltung, Vollversammlungen in der Nachbarschaft, Wahl von Delegierten, gewählte Räte vertreten die Interessen ihrer Wähler, sie unterliegen dem imperativen Mandat, Vernetzung von Bürgerinitiativen, Selbsthilfegruppen und Alternativbetrieben.

Und was ist nun das "Angebot" an Alternativen in der Linken. Da steht einmal der Keynesianismus im Raum. Die Löhne sollen erhöht werden, um die Binnennachfrage zu stärken. Das Ideal ist die Vollbeschäftigung. Mir wird bei dieser "Alternative" immer speiübel. Die Wachstumslogik wird nicht in Frage gestellt, auch nicht die ökologischen Folgen. Wieviel Scheiß soll noch produziert und konsumiert werden. Die Krise ist doch auch eine Überproduktionskrise. Und auch die Arbeitsgesellschaft wird nicht hinterfragt. Sollen wir alle Beschäftigung simulieren. Das Problem ist hierbei auch, dass gerade viele Erwerbslose sich genau das wünschen- ihre Normalbiographie, die wir in der DDR- Subkultur schon abgelehnt haben. Ich will mich nicht dem Verwertungsprozeß aussetzen, hänge damit aber am staatlichen Tropf.

Und hier kommt die nächste Alternative, die auch bei den Erwerbslosen und in Kreisen bis zum dm-Chef Götz Werner diskutiert wird -das bedingungslose Grundeinkommen als Forderung an den Staat, meistens national gedacht. Auch hier wird das kapitalistische System nicht grundsätzlich in Frage gestellt, das Grundeinkommen verlangt eine florierende Realwirtschaft (also die kapitalistische Produktionsweise mit hoher Produktivität) Auch befürchte ich, dass wenn es im Kapitalismus eingeführt werden sollte, so knapp ist, dass es nicht zum Leben reicht (Kombilohn) und alle anderen Sicherungen wegfallen. Positiv finde ich, dass auch ein Recht auf Faulheit und die Entkopplung von Arbeit und Einkommen diskutiert wird. Es würden die Bedürftigkeitsprüfung, die Mitwirkungspflicht und die Sanktionen wegfallen.

Bei den Linksradkalen und AnarchistInnen wird oft von Selbstorganisation gesprochen: Aufbau von kollektiven Strukturen wie Umsonstläden, Food-Coops, Tauschringe, Nachbarschaftsinitiativen, Kommunen, Hausprojekte, Antifa- und Antirassismusgruppen, Erwerbsloseninitiativen, selbstorganisierte Sozialberatung, Alternativbetriebe; Solidarische Ökonomie. Ziel ist es, sich dem Staat, sowie der Markt- und Geldlogik in allen Lebensbereichen, in unserem Lebensalltag zu entziehen. Die Freiräume können für neue Aktivitäten (soziale und politische) genutzt werden, sie sind Ausgangspunkte für Experimente. Allerdings ist die Selbstorganisation bei Erwerbslosen sehr schwierig.

Die Selbstorganisation in Alternativbetrieben führte oft in die Marktlogik, die Projekte waren nur noch am Arbeiten und entpolitisierten sich. Erwerbslosen ist auch schwer das Thema Aneignung nahe zu bringen. Sie wollen soziale Rechte und nicht "klauen" gehen müssen. Oftmals fürchten sie Kriminalisierung. Das liegt auch daran, dass sie schwer kollektiv zu organisieren sind, denn individuellen Widerstand leisten viele, so durch Tricks oder z.B. Klagen. Kollektive Aneignung sind Hausbesetzungen , kollektives Schwarzfahren, gemeinsame kostenlos angeeignete Besuche von Museen, Schwimmbädern oder Luxusrestaurants, aber auch die Aneignung von Land wie in Brasilien. Aneignung ist auch das millionenfache unerlaubte Kopieren von Software, Musik und Filmen.

Und Alternativen sind auch Soziale Kämpfe, wie sie in den Büchern "Die großen Streiks" und "Die neuen Streiks" beschrieben sind. Das ist z.B. auch Sabotage in Betrieben.

Insgesamt bin ich gegen Stellvertreterpolitik, jede/r sollte in seinem Alltag Politik der 1. Person betreiben. Leider sind Politik und Arbeit in der Linken oft getrennt. Am Tag prekär arbeiten, am Abend dann radikal diskutieren. Ich bin Anhängerin der Arbeitsverweigerung, obwohl mensch an dieser Stelle den Arbeitsbegriff diskutieren müßte, denn ich arbeite ständig unbezahlt. Auf der Abschlußkundgebung am 28.3. in Berlin wurden von Gysi und Gewerkschaftern die Alternativen Verstaatlichung und "Roß und Reiter- Nennen" angeboten. Der Staat und die Trennung zwischen "raffendem und schaffendem Kapital" sind nicht meine Alternativen. Peter Grottian schlug den Politischen Streik und Zivilen Ungehorsam vor. Aber wir müssen es machen, sagte er. Michael Wilk (Anti-AKW-Bewegung, Startbahn West) verdeutlichte in einer Veranstaltung auf dem Kongreß, ihm war es immer wichtig gewesen, den Widerstand sinnlich zu erfahren. Meine Erfahrungen in der Sozialprotestbewegung zeigen leider, dass dort kaum Radikalität vorhanden ist. Sinnlich habe ich eher das Sozialamt und das Jobcenter erfahren. Aber es gilt, bei dem Unmut und der Wut der Ausgegrenzten und Verunsicherten anzudocken und zu verhindern, dass sie Rechten in die Arme laufen. Die nächsten Jahre werden zeigen, inwiefern der Linken das gelingt. Ich hoffe, jetzt hat jede/r begriffen, wofür der Kampf um soziale Rechte steht. Wie diese sozialen Rechte in einer befreiten Gesellschaft aussehen könnten, das ist ein kollektiver Prozeß, der sich von unten entwickelt und nicht die Sache von Einzelnen, die dicke Bücher schreiben oder lange Vorträge halten...AnarchistInnen kommt heraus aus dem Spanischen Bürgerkrieg oder Euren Freiräumen, und mischt Euch ein in aktuelle soziale Kämpfe, die uns alle betreffen!

Wenn ich nur aufhören könnte zu denken..

 

Editorische Anmerkungen

Der Text wurde uns von der Autorin überlassen. Wer mehr über die Autorin erfahren möchte, besuche ihre Website: www.freiheitpur.i-networx.de  

Infos zum A-Kongress 09 gibt es hier:
Anarchismus im 21. Jahrhundert - Anarchie organisieren.