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1998

Rubrik
Theorie & Debatte
 

Anarchistische Utopien heute
Diskussion und Debatte

Samstag, 13. Juni 1998 € 17.00 Uhr
Alter Schlachthof; Dragonerstrasse 22, 4600 Wels


Einleitung
Alles steht in Frage. Kein Stein soll auf dem anderem bleiben. Nichts wird so hingenommen, wie es ist. Wir akzeptieren die Welt ganz einfach nicht so; nicht ihre Zwaenge, nicht die Hierarchien, nicht das Oben und Unten, nicht die Frauenunterdrueckung, nicht das ganze System von Ausbeutung und Unterdrueckung. Und wir meinen, dass es sich gerade heute lohnt, ueber gesellschaftliche Utopien nachzudenken. Ueber ein ganz anderes Leben. Ja, wir meinen, dass sich das lohnt: Angesichts von politischem Rechtsruck und allgegenwaertigem Rassismus. Verschaerfter Lohndrueckerei und Arbeitshetze. Innerer Mobilisierung gegen einen imaginaeren Feind und verschaerfter Aufruestung von Polizei und Militaer. Angesichts dessen, dass behauptet wird, mit dem Niedergang des realen Sozialismus sei das »Ende der Geschichte« gekommen. Nein, wir sagen: Die Geschichte hat gerade erst begonnen. Eine herrschaftslose, anarchistische Gesellschaft ist moeglich und machbar.

Gegen die Welt von heute, die Utopie von morgen

Die Oekonomie: Kein Arbeitszwang, kein Privateigentum an Produktionsmittel. Industrielle Ueberflussproduktion. Jedem nach seinen Beduerfnissen, nicht nach Leistung - und zwar von Anfang an, ohne »Uebergangsphase«. Kein Geld, auch keine Tauschwirtschaft, statt dessen Planung der Produktion. »Planung« bedeutet hier - damit keine Missverstaendnisse aufkommen - freiwillige Absprache, bedeutet Bedarfserhebung, bedeutet zu schauen, wer ist bereit, wo wann, wieviel zu arbeiten, ohne Zwang, ohne irgendwelche Noetigung. »Gearbeitet« wird ohne Hierarchien, ohne Chef und Vorarbeiter. Strukturen und Koordination braucht es trotzdem? Natuerlich: Aber muessen sie unbedingt mit einer Machtposition verbunden sein? Braucht es Macht nicht dazu, etwas durchzusetzen, was jemand freiwillig nicht machen wuerde? Ja, richtig gehoert: Zentrales Moment einer anarchistischen Gesellschaft ist Regelung aller Angelegenheiten ohne Befehlsgewalt fuer irgend jemanden. Das soll nicht gehen? Entscheidungsfindung in einer so komplizierten Gesellschaft wie der unseren geht ohne Hierarchie gar nicht? In einem »Kommunikationszeitalter«, in dem wir ja angeblich leben, wo alle moeglichen Mitteln der Informationsverbreitung wohlfeil zu haben sind? Wo noch niemals zuvor Meinungsaustausch und gesellschaftliche Debatte so einfach gewesen waeren? Sehr viele Menschen koennen sich auf nichts einigen? Warum denn nicht? Man muss sich auch nicht immer auf eine bestimmte Sache einigen, man kann auch mehreres nebeneinander zulassen. So dass trotzdem alle zu ihrem kommen. Zentrale Voraussetzung dafuer allerdings ist: Ueberproduktion an Guetern. Denn die menschliche Geschichte ist eine, die von Armut und Mangel handelt. Und von Herrschaft als einzigem Mittel, selber, als Einzelner, dieser Armut zu entkommen. Und sie gerade dadurch immer fester zu zementieren.

Exkurs: Die Welt von morgen ist nicht heute fertig
Wir verhehlen auch nicht - und das soll an dieser Stelle relativ deutlich gesagt werden - dass wir keine fertigen Rezepte haben. Dass auch nichts so sein muss, wie wir ausgerechnet uns das einbilden. Was wir tun, ist Vorschlaege zu machen, Probleme einmal anzudenken. Wir wollen auch nicht Utopia am Reissbrett entwerfen. Eine anarchistische Gesellschaft wird so sein, wie die Menschen sie letztendlich wollen. Sie soll durchaus moeglichst vielfaeltig verschiedene Lebensweisen gleichberechtigt nebeneinander zulassen. Sehr viele Schwierigkeiten und Fragestellungen werden auch erst waehrend ihrer Errichtung auftauchen und sind heute gar nicht serioes beantwortbar. Wieder anderes ist viel zu gewichtig, um heute endgueltig entschieden zu werden. (Auch halten wir uns dafuer ganz einfach nicht fuer befugt - was uns wahrscheinlich von dem meisten Gruppen kommunistischer Provenienz deutlich unterscheidet.) Was aber niemanden - und auch uns nicht - der Aufgabe enthebt, sich den Kopf zu zerbrechen und sich eine Meinung zu bilden. Offenheit und Nachdenklichkeit ist naemlich kein Freibrief fuer Ignoranz und Beliebigkeit. Von wegen »Heute kann man dazu nichts sagen« und »Wir koennen nicht wissen, wie eine befreite Gesellschaft aussehen wird«. Wie man selber will, dass sie aussieht, sollte man schon wissen, bevor man sich auf so ein Abenteuer einlaesst.

Noch einmal von der Oekonomie in der Anarchie
Eine Ueberproduktion geht nicht? Es wird immer zuwenig fuer alle geben? Die Fakten: Es werden heute genug Lebensmittel fuer die gesamte Weltbevoelkerung produziert und ein Drittel der Menschen hungert weltweit. Ein Verteilungsproblem. Die, die nicht bezahlen koennen, kein Geld haben, verhungern. In Europa und den USA tuermen sich Butterberge und Milchseen, werden Lebensmittel in grossem Massstab ganz einfach vernichtet. Man scheut sich ja, das Wort in dem Zusammenhang in den Mund zu nehmen: Vernuenftig betrachtet, ist Ueberfluss an Lebensmitteln - und zwar weltweit - eine Frage der richtigen Planung. Also weg davon, das Ueberleben vom Geld abhaengig zu machen, sondern hin mit Nahrung, dort wo sie gebraucht wird. Andere Gueter? Immer noch fliessen weltweit ungefaehr ein Drittel der Ressourcen und Arbeitsstunden in die Ruestung. Es gibt zuwenig? Weil es von
anderem zuviel gibt! »Statt Panzer Traktoren erzeugen? Wer soll das bezahlen?« Wer bezahlt die Panzer? Es ist vielleicht insgesamt Zeit, vom »Bezahlen« ein bisschen wegzukommen. Es ist vielleicht eine Frage des politischen Willens, was erzeugt wird. Und vielleicht ist das Geld eben auch nur ein Mittel hier politische Entscheidungen zu bemaenteln. Und weiter: »Wenn jeder alles kriegen soll, was er will, das geht sich niemals aus.« Ach, ja? Mehr als fuenf Fernseher gehen in die groesste Wohnung nicht hinein, mehr als drei Maentel kann der sierigste Mensch nicht uebereinander anziehen. Was wir sagen wollen, ist dies: Verbrauch stoesst irgendwann an eine natuerliche Obergrenze. Vor allem: Der Fetischcharakter der Ware, wie es Marxisten wohl nennen wuerden, kommt daher, dass es immer zuwenig gegeben hat. Das Streben nach Reichtum kommt von der Armut als zwanghafter, einziger Alternative. Dazwischen gibt es nichts. In einer herrschaftslosen Gesellschaft werden materielle Gueter nach einer gewissen Zeit den bescheidenen Platz im Leben der Menschen haben, der ihnen zukommt. Als etwas das es geben muss und gibt. »Wenn jeder nur freiwillig arbeiten zu braucht, arbeitet keiner?« Mag schon sein, dass so wie heute gearbeitet wird, keiner arbeiten will. Dann gehoeren vielleicht die Arbeitsbedingungen gruendlich geaendert. Selbstbestimmt und ohne Chef. Dann sind es moeglicherweise schon mehr Leute, die etwas machen wollen. Nur: Wieviel Arbeitsleistung ist ueberhaupt noetig? Wieviel von dem was heute produziert wird, schlicht und ergreifend ueberfluessig? Wieviel an Arbeitsleistung, die heute erbracht wird, nur in einer Leistungsgesellschaft, in einer Marktwirtschaft, ueberhaupt notwendig? Banken, Versicherungen, der Gros der Beamtenschaft, Polizei und Justiz, die Werbebranche, was erbringen die an tatsaechlicher Leistung? Deren Ware ist die Verwaltung der Klassengesellschaft. Wieviel Schuhe, Moebeln, Brote erzeugen sie? Was sie »herstellen«, sind die Herrschaftsbedingungen, unter denen heute Schuhe, Moebeln, Brote erzeugt werden. In einer anderen Gesellschaft ist solche Arbeit schlicht ueberfluessig.Oder weiter: Wieviele Angestellte in einem Kaufhaus sitzen an der Kasse und kassieren, ueberwachen die Kollegen und Kunden, damit auch nichts gestohlen wird - und wieviele sind tatsaechlich zum Einschlichten der Ware und Aufschneiden der Wurst noetig? Nur eine Gesellschaft, die mit Geld ihre Armut verwaltet, bietet so viel Beschaeftigung.Und wie dann die Bananen nach Europa kommen? Ganz einfach: Rein ins Schiff und ab damit. Entsprechendes wird sich wohl vereinbaren lassen. Warum wir uns mit Wirtschaft, Arbeit, Verteilung so ausfuehrlich befassen? Nicht, weil sie wichtiger als anderes sind. Sondern weil hier die Loesungen relativ einfach sind. Einfach, selbstverstaendlich nicht im Sinne konkreter Umsetzbarkeit (hier wird es jede Menge praktischer Probleme und Faehrnisse geben), sondern als Theoriegebaeude. Anderes ist viel schwieriger zu analysieren: Unterdrueckung in all ihren Spielarten und Facetten, beispielsweise Frauenunterdrueckung. Aber auch hier kann man ein bisschen was sagen: Die Antworten muessen von den Betroffenen kommen. Die Aufgabe einer herrschaftslosen Gesellschaft ist es, allen aus verschiedenen Formen von Unterdrueckung entstandenen Wuenschen, Hoffnungen und Utopien, Raum nebeneinander zu geben.Eine herrschaftslose Gesellschaft wird - und das sei auch in aller Deutlichkeit gesagt - mit einem Paradies auf Erden nicht viel zu tun haben: Sie kann erkennbare, fassbare, greifbare Widersprueche aufloesen, sie kann Unterdrueckung, egal welcher Art, die viele Menschen erfahren und ausformulieren, beseitigen. Und nur das. Sie ist keine Lizenz und schon gar keine Garantie zum Gluecklichsein. Das ist nicht alles? Das mag sein. Es ist aber das, was moeglich und machbar scheint.

Gewalt, Polizei und Justiz
Kein Gefaengnis, keine Polizei, keine Justiz. Dann wird das Chaos herrschen, Moerder und Brandstifter sengend und brennend durch die Strasse ziehen? Nur: Was ist ein »Verbrechen«? Das, was die Herrschenden dazu bestimmen. Drei Viertel aller Delikte sind heute Eigentumsdelikte. Schaff¹ die Armut ab und es wird keinen Diebstahl mehr geben. Und woher kommen Gewaltdelikte? Haben sie nicht vielleicht viel damit zu tun, dass die Ordnung in dieser Gesellschaft der Inbegriff von Gewalttaetigkeit ist? Sind sie nicht vielleicht die Kehrseite von Stress, Hetze, Lieblosigkeit und Schinderei? Von allgegenwaertigem Unterordnen und Gehorchen?Der Kreislauf von Zwang und Angst muss durchbrochen werden.

Kein Staat: Die ganze Gesellschaft muss es sein
Den Staat mit all seinem Arsenal an Zwangsmitteln, Gesetzen und Geboten gibt es nicht mehr. An seine Stelle tritt die Gesellschaft selber, die Menschen.  Gemeint ist die Regelung saemtlicher Angelegenheiten durch die jeweils Betroffenen nach dem Konsensprinzip. Das heisst, es muessen schlussendlich alle mit den getroffenen Entscheidungen einverstanden sein. Und »Betroffene« sind jeweils alle, die sich selber dafuer halten. Kein Repraesentativ- oder Raeteprinzip, keine Mehrheitsentscheidungen, sondern schauen, dass alle zu ihrem letztendlich kommen. Das ist moeglich, weil es in einer herrschaftslosen Gesellschaft keine unversoehnlichen Gegensaetze gibt.

Noetige Abgrenzungen
Eine Anarchie ist kein Kommunismus, hat mit den gewesenen realsozialistischen Regimen nichts am Hut. Aus mehrerlei Gruenden:

  • Weder kennt sie die Uebergangsphase des Sozialismus, die grundlegenden Prinzipien einer klassen- und herrschaftslosen Gesellschaft werden sofort verwirklicht, was nicht heissen soll, dass es nicht wahrscheinlich jede Menge Uebergangsschwierigkeiten gibt.
  • Es gibt keine herrschende Partei (auch und gerade nicht die Anarchisten).
  • Vor allem aber muessen die politischen Freiheiten absolut gewahrt bleiben: Also Meinungs-, Agitations- und Propagandafreiheit fuer wirklich jeden, auch und gerade fuer die Gegner dieser neuen Gesellschaft.

Schluss
Und so eine Gesellschaft ist moeglich? Ja! Sie ist moeglich. Sobald genuegend Leute dafuer sind. Eine klassen- und herrschaftslose Gesellschaft auch wollen.