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1998

Rubrik
Theorie & Debatte

Verbot dem Wahlfang

1 Wer seine Stimme abgibt

hat nichts mehr zu sagen.

Es gibt Dinge, die Unterliegen keinem Zeitgeschmack, keiner Mode. Es handelt sich hierbei um zeitlose Wahrheiten, die zugegebener Massen in ihrem Zeitkontext gestellt werden müssen, aber der Kern der Botschaft bleibt ein ewiger - zumindest solange, wie sich grundlegend nichts geändert hat. Hierzu gehört das Thema Wahlen, welches in Europa zur politischen Machtbildung erst seit dem 19. Jahrhundert ein Rolle zu spielen begann. Seitdem haben sich AnarchistInnen gegen dieses Vertreterwesen gewehrt, da es nicht der Selbstbestimmung, einem wichtigen Wesenszug der Anarchie, entspricht. Und je grösser die Verwaltungseinheiten, desto absurder scheinen Wahlen zu sein. Wer fühlt sich denn heute im Europaparlament vertreten (das Kapital in Form ihrer Lobby mal ausgenommen) ?

Der Anarchist und Dichter Erich Mühsam veröffentlichte 1912 in seiner Zeitschrift KAIN den Artikel "Der Humbug der Wahlen", wo er zurecht, wie sich zwei Jahre später herausstellte, vorallem gegen das Machtstreben der Sozialdemokratie anschrieb. Die SPD als die klassische Verräterpartei, errang 1912 erstmals einen erdrutschartigen Sieg bei den Parlamentswahlen, um dann 1914 den Kriegsanleihen im Reichstag zu zustimmen, um den ersten Weltkrieg zu finanzieren.

Das Wahlrecht hat sich inzwischen verändert, so durften beispielsweise zur damaligen Zeit weder Frauen, noch Militärangehörige oder Gefängnisinsassen wählen. Ausserdem galt ein sog. Zensuswahlrecht bis 1918, welches in einem Dreiklassenwahlrecht gegliedert war und nicht einmal jedem erwachsenen Mann das Wahlrecht zugestand. Es liegen zwei, von den Deutschen angezettelte Weltkriege, eine 12jährige Diktatur der Nazis (dessen Opfer Erich Mühsam wurde ) und eine nun bereits seit 50 Jahre andauernde "Demokratie" (zumindest was das Modell BRD betrifft) hinter uns. Warum wäre dieser Text heute noch aktuell? Dieses vielbeschworene: "Dies ist das beste System auf deutschen Boden" - schliesst ja nicht aus, dass es bessere gäbe, wenn wir uns nur bemühen würden. Die Erfindung der Dampflok war eben nicht das non plus ultra der Fortbewegung, selbst wenn dies zu jener Zeit so gesehen wurde.

Es hat sich im Prinzip - trotz vermeintlichen Verbesserungen der Wahlmodalitäten - nichts an der Zweifelhaftigkeit eines vierjährigen Urnenganges geändert. Wir können viele Paralellen erkennen, hinsichtlich der Parteien vo damals (vor allem der sozialdemokratischen), ihren Anliegen, mit denen sie uns ja vertreten wollen, sowie ihren Machtspielen, Lügereien, Täuschungen usw. Den Frauen das Wahlrecht einzuräumen hiess u.a. ja auch eine grössere Legitimation vom Volke zu erhalten. Heute, wo Politikverdrossenheit ein Schlagwort ist, gibt es Überlegungen und Diskussionen, 16jährigen das Wahlrecht einzugestehen (nachdem ja das Volljährigkeitsalter mit der Zeit von 21 Jahren auf 18 heruntergesetzt worden ist). Ein anderes Thema ist das AusländerInnen-Wahlrecht. Menschen, die zwar an einem bestimmten Ort wohnen und Steuern zahlen, dürfen aber längst nicht darüber mitentscheiden, was in ihrer Umgebung passiert. Auf kommunaler Ebene führen diese Verhältnisse, wie z.B. in Berlin-Kreuzberg zu völlig verzerrten Wahlergebnissen. Nicht Mehrheiten entscheiden, sondern eine politische Minorität, die in den Lebenszusammenhängen eigentlich keine Rolle spielen. Das Verhältnis bei den Zahlen zwischen EinwohnerInnen, Wahlberechtigten, Wahlausübenden, und den Regierenden sind frappierend. Wenn wir das Koalitionsspielchen noch dazu betrachten, erreichen wir diktatorische Verhältnisse. Dazu kommt noch, dass rund zweidrittel der Wahlberechtigten, laut einer Umfrage des Allenbacher Institutes von 1990, das System von Erst- und Zweitstimme überhaupt nicht verstehen. (Vgl. hierzu: Uwe Koch; Das Gewicht der Stimme. o.O. 1994 , S. 31)

Es war richtig sich 1912 dagegen auszusprechen und es ist richtig sich 1998 dagegen auszusprechen. Das System ist faul, und dadaistische Witzparteien helfen da auch nicht weiter.

2 Wenn Wahlen etwas ändern würden,

dann wären sie verboten.

Die Mächtigen dieser Welt haben beschlossen, dass nur diejenigen Staaten akzeptiert werden - jedenfalls nach aussen hin -, wenn alle "freie" Wahlen in ihren Ländern einführen mit den dazu gehörigen Parlamenten usw.

Manchmal geht allerding das nette Demokratiespiel etwas in die Hose. Beispielsweise Algerien: Die oppositionelle, fundamentalistische Islamische Heilfront (FIS) gewinnt bei Kommunalwahlen im Juni 1990 von 48 Bezirken 32. (vgl. hierzu TAZ vom 6. 6. 1991 und 19. 6. 1991)

Dies passt aber der regierenden FLN nicht, also werden die "freien" Wahlen annulliert und ein jahrelanger Terror beginnt.

In Italien wechseln die Regierungen wie andere ihre Hemden. In Asien und Afrika hat man das eh noch nicht so gut drauf mit den "sauberen" Wahlen, und in Ex-Jugoslawien möchte schon gar keiner mehr an die Wahlurnen gehen. Hier gibt es Schwierigkeiten überhaupt die 50% Wahlbeteiligung zu erreichen.

Ein Gegenbeispiel ist Deutschland. Im November 1932 ist Hitlers NSDAP stärkste Partei im Reichstag, trotz Stimmenverluste. Es ging also weniger um eine "Machtergreifung" Hitlers (vgl. hierzu auch Uwe Timm; Was ist eigentlich Faschismus. Bern 1997) als vielmehr um eine "demokratische Entscheidung" für einen zukünftigen Massenmörder.

Wahlen sind - vor allem für die internationale Wirtschaft - nur solange interessant, wie sie ein kontrolliertes Risiko darstellen. So stellen die Parteien der "zivilisierten Welt" vor allem einen Einheitsbrei der politischen "Mitte" dar. Keine politischen Überraschungen! Alle Verlierer sind irgendwie auch Gewinner - vor allem das Kapital.

Je grösser die Einheit des zu wählenden Apparates ist, desto lächerlicher der Wahlkampf und desto phrasenreicher die Versprechungen. Wo Kommunalwahlen vielleicht noch Sinn machen, werden Europawahlen fast nur mit Desinteresse gestraft - zurecht.

Selbst die alten Griechen, von denen wir ja das Wort Demokratie übernommen haben, hielten es mit der "Volksherrschaft" nicht besonders. Heute stellt der Parlamentarismus das non plus ultra dar, vor zweihundert Jahren war es die Monarchie - unerschütterlich und gottgewollt.

Der Parlamentarismus mit seinen Abgeordneten und dem dazugehörigen Apparat sind längst der Wirklichkeit entrückt. Ihre Privilegien und Bezüge übersteigen längst die Einkünfte derjenigen, die sie vertreten. Und als "Rädchen in einem grossen Getriebe" sind sie eher Marionetten in einem lächerlichen Theater, was dann mit "Realpolitik" und der Langsamkeit von gesundem Menschenverstand verklärt wird.

Der Staat selbst ist unproduktiv. Er lebt von Steuern, die er uns abpresst, und nach Gutdünken wieder verteilt werden, ohne die Menschen zu fragen, ob es richtig ist Milliarden für Kampfflugzeuge auszugeben und auf der anderen Seite Sozialhilfe, Arbeitslosengeld und Renten zu kürzen.

Wer hat uns gefragt, ob wir wiedervereinigt werden wollten? Wer hat uns gefragt, ob wir Berliner Hauptstadt und Regierungssitz werden wollten? Wer hat uns gefragt, ob wir Deutschen in die EU oder in die NATO wollten? Wer will eine Bundeswehr? Wer hat mich gefragt, ob ich gezwungen werden will, demnächst mit EURO zu bezahlen? (Dario Fo; Bezahlt wird nicht! Berlin 1977. Immerhin Literaturnobelpreis 1997. Gute Wahl!) Niemand.

Wer mich vertreten will, sollte erst einmal ein Wort mit mir wechseln, sollte mich und meine Probleme kennen, sollte nicht mehr verdienen als ich. Also ich kenne keinen Politiker. Sie vielleicht?

Nicht zu vergessen ist, dass Wahlen ein Riesengeschäft sind. Die Parteien erhielten für das Superwahljahr 1994 aus der Staatskasse knapp 228 Mio. D-Mark. ( vgl. TAZ vom 18. 1. 95.) Pro Wählerstimme gibt es Gelder in die Parteikassen, selbst wenn, wie 1992, alle Parteien Mitgliederrückgänge zu verzeichnen haben. Und selbst Parteien, die nicht gewählt werden erhalten noch die Wähler(Kopf-)prämie und können so weiterhin ihren Quatsch mit unseren Geldern finanzieren.

Und jetzt stehen wir wieder einmal vor einem Superwahljahr.

3 Nur die dümmsten Kälber

wählen ihrer Schlächter selber

Kritik am Parlamentarismus ist verpönt. Damals wie heute scheinen die Menschen zu glauben, dass, wenn sie ihre Stimme in eine Urne werfen, wird ihr Wille zum Ausdruck gebracht. Letztendlich kann ich doch wählen, was ich will, meine, meine persönlichen Interessen vertritt niemand! Und schon bevor die Wahllokale, schliessen gibt es Hochrechnungen, die wohl zu 98% stimmen, man weiss, wer wen gewählt hat, welcher Wähler zu welcher Partei gewandert ist, welche Einkommensschicht und welche Altersgruppe welche Partei gewählt hat. Und ich sitze vor dem Fernsehapparat (als Nichtwähler) und wundere mich immer wieder, woher die das wissen. Alles Technik, Demoskopie usw. Na gut, aber dann frage ich mich, warum überhaupt wählen, warum einen dreistelligen Millionenbetrag ausgeben? Eine schöne Fernsehshow, und wie bei "Wetten das?" wird das Parlament gewählt. Wäre doch auch schön.

Meine Liebste hat ja die These aufgestellt, dass die -vornehmlich Männer- nur deshalb in der Politik sind, weil sie so eine unerotische Ausstrahlung haben, und diese a-sexuellen Krawattenträger sonst zu nix taugen würden. Der Wille zur Macht als Kompensation von verdrängter Lust. Die These hat was.

Aber ehrlich, die Alternativen müssen anders aussehen. Einen Beitrag dazu lieferte der nordamerikanische Indianer Vine Deloria jr. mit seinem Buch "Nur Stämme werden überleben- Indianische Vorschläge für eine Radikalkur des wildgewordenen Westens" (München 1982). Er weiss, wovon er redet, denn bei den meisten nordamerikanischen Indianerstämmen wurden die Häuptlinge gewählt, wenn sie gebraucht wurden. Dazu bedarf es aber einer übersichtlichen Anzahl von Menschen, einer Gruppe, in der sich die Mitglieder jeweils kennen, nur dann kann ich auch sicher sein, dass jemand meine Interessen, wenn es denn sein muss, vertreten kann.

Auch der schweizer Schriftsteller p.m. - auch kein ausgesprochener Anarchist - machte hier konkrete Vorschläge für eine direkte Demokratie. (vgl. u.a. hierzu: p.m.; Der arbeitsfreie Mittwoch / Für eine planetare Alternative - Zwei Vorschläge. Bern 1997). Für ihn sind demokratiefähige Gruppen, Wohn- und Lebenszusammenhänge von nicht mehr als 400 Personen. Sie bilden die kleinste Einheit. Sie ist übersichtlich, hier kennt man sich. Und in einem lockeren, föderalen System bauen sich darum immer grössere Zusammenhänge auf, die sich freiwillig zusammenschliessen.

Die Frage des Parlamentarismus ist eng mit der Frage des Staates verknüpft. Als im März 1997 die "Anarchie in Albanien"(dieses Zitat war der Aufmacher der 20 Uhr "Tagesschau" vom 13. 3. 97) ausbrach, d.h. das Volk bewaffnete sich selbst, es erkannte nicht mehr die Regierung an, riefen alle nach militärischen Eingriffen Europas. Es darf eben nicht sein, dass ein Land regierungslos ist, dass Menschen sich selbst organisieren - ohne jede Administration.

Aber wer redet uns denn ein, dass wir diesen Parlamentarismus brauchen, dass wir diesen Staat brauchen, dass wir Grenzen brauchen, dass wir Armeen brauchen? Nur diejenigen, die davon profitieren: Die PolitikerInnen. (Den Kapitalisten sind, dank des Zauberwortes "Globalisierung" die Grenzen eh schon schnuppe geworden.)

Lachen wir sie aus, ignorieren wir ihre Urnen (so oder so), nehmen wir unseren Mut zusammen und organisieren uns selbst. Das Leben würde bestimmt nicht einfacher werden, aber es wäre unser.

Dieses Jahr steht ein neues Superwahljahr ins Haus: Bundestagswahlen, vier Landtagswahlen und Kommunalwahlen. Wählen wir die Freiheit, lassen wir die Politiker unter sich. Wahlbeteiligung: 20%, das wäre doch ein Ziel. Und wir könnten endlich anfangen unsere, durch Politiker verursachte Misere zu beheben. Bestimmen wir uns selbst.

Jochen Knoblauch

Literatur: E. Mühsam, Der Humbug der Wahlen. Klaus Guhl Verlag Berlin 1998, Uwe Koch, Das Gewicht der Stimmen, Rotbuch-Verlag 1994