online archiv 1998
Rubrik Soziale Bewegungen |
Komitee für Grundrechte und Demokratie e. V
Bismarkstr. 40 50672 Köln
Köln, den 23. März 1998
Presseerklärung *
Der Castor rollt mit autoritär-rechtsstaatlicher
Hilfe über demokratische Grundrechte
Demonstrationsbeobachtung während des Transportes von
hochradioaktivem Müll in das Zwischenlager in Ahaus am 19. und 20. März
1998
Die sechs Castor-Behõlter mit hochradioaktivem Müll
aus Neckarwestheim und Gundremmingen sind am Freitag, den 20.3.1998, abends
im Zwischenlager in Ahaus eingelagert worden. In einer Überrumpelungsaktion
ist der Transport vom angekündigten Mittwoch, den 25. März 1998,
auf Freitag, den 20. März, vorgezogen worden. Dahinter stand der
Wunsch der ,,Obrigkeit", die Atomkraftgegner auszutricksen, den
Widerstand auszuschalten und den Protest zu umgehen. Das
Demonstrationsrecht ist jedoch kein Gnadenakt der herrschenden Repräsentanten.
Es ist ein zentrales demokratisches Recht. Die Öffentlichkeit in die
Irre zu führen, um die Wahrnehmung des Demonstrationsrechts für
eine Vielzahl von BürgerInnen praktisch auszuschalten, ist
folgerichtig antidemokratisch.
Tausende von Demonstrierenden sind trotzdem nach Ahaus gekommen. Sie
organisierten ihren Protest unter diesen schlechten, Kommunikation und
Organisation verhindernden Bedingungen. Sie machten deutlich, daß sich
der Widerstand durch regierungsamtliche Tricks nicht einfach unterbinden läßt.
Deutlich wurde, wie selbstverständlich der gewaltlose, aber
konsequente Protest in der Antiatombewegung verankert ist. Seit der Ankündigung
des Transportes von Castor-Behältern aus Süddeutschland nach
Ahaus hat die Bürgerinitiative in Ahaus breiten Rückhalt in der münsterländischen
Bevölkerung gefunden. Trotz des Überraschungscoups wurde
deutlich, daß auch in Ahaus eine widerstandslose Einlagerung von
hochradioaktivem Müll aus Atomreaktoren, die in Betrieb sind, nicht möglich
ist. Die Skepsis eines großen Teils der Bevölkerung gegenüber
,,Chaoten", die in das ruhige Städtchen einfallen könnten,
ist weithin der Empörung über das Auftreten der Polizei gewichen.
Die offizielle politische Strategie und das Polizeikonzept zeigen ein
undemokratisches Verständnis von Bürgerprotest und einen
entsprechenden Umgang mit demselben. Hinter einer äußerst brüchigen
und dünnen Fassade, die den Anschein erweckt, als würden die
etablierten politischen Instanzen die Grundrechte, allen voran das
demokratische Urrecht auf Demonstration, wahren, verbergen sich
patriarchalisch-undemokratische Repressionen. Demokratie läßt sich
jedoch nicht auf eine schöne und freundliche Fassade für die Medien
reduzieren. Die Polizei war darauf vorbereitet, jeden Protest ohne Schonung
der Bürgerrechte zu beseitigen.
Wie bereits in den letzten drei Jahren hat das Komitee für
Grundrechte und Demokratie auch diesmal die Proteste beobachtet, die den
Transport von hochradioaktivem Müll in ein Zwischenlager in der
Bundesrepublik Deutschland begleiteten. Trotz der Desinforrnationspolitik
und der Vorverlegung des Transports waren ab Donnerstag, den 19 März
1998, zunächst vier, ab dem frühen Freitag morgen sechzehn
Beobachter und Beobachterinnen in Ahaus anwesend, um das Geschehen sorgfältig
zu protokollieren und zu dokumentieren.
1. Die Landesregierung, der Innenminister und ein Gutteil der Medien
erzeugt zu propagandistischen Zwecken falsche Bilder von ,,gewaltbereiten"
Demonstranten.
Einerseits kritisierte die Landesregierung NRW die
Castor-Transporte nach Ahaus und bezeichnete sie als ,,Provokation"
und ,,überflüssig".Gleichzeitig warnten Innenminister Kniola
und Verfassungsschutz vorden erwarteten ,,2000 gewaltbereiten Autonomen".
Die Bevölkerung sollte so darauf eingestimmt werden, die
Protestierenden zu disqualifizieren. Die Polizei wurde auf Härte und
,,konsequentes" Vorgehen vorbereitet. Nach dem Transport ist in vielen
Medienberichtet worden, die Polizeibeamtlnnen hätten sich erstaunt über
die Gewaltfreiheit der Demonstrierenden in Ahaus geäußert.
,,Erstaunt" ist vor allem derjenige, der zu propagandistischen Zwecken
andere Erwartungen äußert. Die in den Medien und von der Polizei
vielbeschworenen "Gorlebener Zustände", mit denen
Gewaltanwendung seitens der Demonstrierenden assoziiert werden soll, haben
dem Protestgeschehen in Gorleben nie entsprochen. Bereits in einer
Podiumsdiskussion zum bevorstehenden Castortransport nach Gorleben im Jahr
1997 beklagte ein Polizeibeamter, daß sie vor dem Transport 1996
innerhalb der Polizei nur auf Gewalttäter vorbereitet worden seien. Im
Wendland seien ihnen jedoch vor allem freundliche, das Gespräch
suchende, Kaffee und Plätzchen schenkende Bürger und Bürgerinnen
begegnet. Dieses Gewaltbild dient der Bereitschaft von Polizeibeamtlnnen
zuzuschlagen. Es erzeugt unnötig Aggressionen,Angst und Abwehr.
2. Eine Politik des Scheindialogs.
Polizei und Landesregierung haben im Vorfeld Gespräche mit
verschiedenen Gruppen und Initiativen geführt, um sich über die
Einschätzungen und Demonstrationserfahrungen derjenigen zu
informieren, die Proteste organisieren. Angeblich sollte eine Demokratie
und Grundrechte wahrende Form des Umgangs mit dem Protest gefunden werden.
Diese Gespräche mußten jedoch von den Beteiligten schon kurz vor
dem Transport als substanzlose Öffentlichkeitsarbeit empfunden werden.
Wenn man bedenkt, daß auch ein verantwortlicher Polizeipräsident
gemäß dem hier angewandten hohlen Demokratieverständnis übergangen
werden konnte, so verwundert dieses Public-Relation-Verfahren nicht.
3. Die willkürliche Handhabung von grundrechtswidrigen
Allgemeinverfügungen.
Schon früh wurde ein Demonstrationsverbot erlassen. Zeitlich und
räumlich weit ausgedehnt wurden Demonstrationen verboten. Schon sechs
Tage vor dem (vorgesehenen) Transporttermin, 24 Stunden über den
Transportabschluß hinaus und entlang einer 12 km langen
Transportstrecke waren unangemeldete Demonstrationen verboten. Auf den
Bahngleisen waren alle Versammlungen verboten. Die Verbotskriterien waren
so formuliert, daß offensichtlich der Wille bestand, auch jede
angemeldete Demonstration willkürlich verbieten zu können.
Grundrechtswidrig wurde somit das Recht auf Versammlungsfreiheit und freie
Meinungsäußerung eingeschränkt.
4. Schikanöser Umgang mit Bürgern und Bürgerinnen.
Die Demonstrierenden hatten schon frühzeitig mehrere Wiesen
gepachtet oder von Bauern zur Verfügung gestellt bekommen. Auf diesen
sollten Camps eingerichtet werden. Hier sollten die Demonstrierenden übernachten
können. Hier wollten sie ihre Verpflegung wie die Kommunikation
untereinander organisieren. Hier hätten sie Ruhe und Entspannung
finden können. Auch diese Camps auf Privatgelände sollten, selbst
wenn sie außerhalb der Versammlungsverbotszone lagen,angemeldet und
nur nach Genehmigungen eingerichtet werden dürfen. In allen Betätigungen
wurden die Bürger und Bürgerinnen somit abhängig von den
Entscheidungen der Polizei. Kurz vor dem Transport waren die Entscheidungen
jedoch teilweise noch nicht einmal gefallen.Das Nordcamp lag
beispielsweise außerhalb der Demonstrationsverbotszone und war vom
Ordnungsamt genehmigt worden. Donnerstag spätnachmittag wurde es
verboten. Die Bewohner, die bereits Zelte und vor allem die Küche für
die Demonstrierenden aufgebaut hatten, wurden aufgefordert, das Camp
innerhalb von einer halben Stunde zu räumen. Die Versorgungsstrukturen
mußten auf einem anderen Platz im Dunkeln neu aufgebaut werden. Der
neue Platz lag näher an den Schienen als der alte. Nicht wesentlich
anders erging es dem Südcamp, das ebenfalls außerhalb der
Demonstrationsverbotszone lag und trotzdem Donnerstag nachmittag verboten
wurde. Auch hier wurde die Räumung angedroht. Einige
Sitzblockiererinnen wurden bei der Räumung in Gewahrsam genommen. Das
Camp mußte an einem anderen Ort neu aufgebaut werden.
5. Polizeigewaltige Abschreckungspolitik bürgernormalen Protests.
Nicht genehmigte Demonstrationen und Proteste und gewaltfreie Aktionen
zivilen Ungehorsams wurden von der Polizei von vornherein als Störungen
wahrgenommen, gegen die mit aller Konsequenz vorzugehen sei. Deutlich
gemacht wurde ein rücksichtsloses Vorgehen gegen alle diejenigen, die
ihr Demonstrationsrecht wahrnehmen wollten. Diejenigen, die versuchten, auf
die Gleise zu gelangen, oder dort eine Sitzblockade machten, wurden in
Gewahrsam genommen oder - später -mit polizeilicher Gewalt unter Mißachtung
der Verhältnismäßigkeit von den Gleisen vertrieben.
6. Die neu-alten Geheimnisse vor- und nachdemokratischen Herrschens.
Geheimhaltung ist eines der wesentlichen Kennzeichen der Planung
dieses Transportes. Nicht nur der Termin des Transportes, auch die Orte der
Gefangenensammelstellen sollten geheim bleiben. Kontakte zu den Gefangenen
durften nur von Verwandten aufgenommen werden. Zumindest in einer
Gefangenensammelstelle durften keine Telefongespräche mit dem
Ermittlungsausschuß, der die Einschaltung von Rechtsanwälten ermöglicht
hätte, geführt werden. Explizit wurde nur ein Telefongespräch
mit Verwandten erlaubt.
7. Vorsätzlich-amtliche Verletzung von Grundrechten.
Der Umgang mit den Gefangenen entsprach nicht den notwendigen
grundrechtlichen Bedingungen. Diejenigen, die beispielsweise am frühen
Freitag morgen in Ahaus in Gewahrsam genommen worden waren,saßen über
Stunden gefesselt im Bus. Stunden mußten sie auf die
Personalienfeststellung in Rheine warten. Die Zellen waren mit keinerlei
Mobiliar ausgestattet. In Zellen von ca. 17 qm mit einem Fenster von ca. 30
x 30 cm waren ca. 20 Personen eingesperrt. Obwohl sie die Sitzblockade auf
den Schienen vor 8.00 Uhr begonnen hatten und von dort in Gewahrsam
genommen worden waren, bekamen sie erst gegen 22.00 Uhr Getränke und
erst ab 23.00 Uhr Essen. Einige bekamen in diesen kahlen Zellen erst ab
3.00 Uhr Decken oder Isomatten.Obwohl der Grund der Ingewahrsamnahme, der
Protest gegen den Castor-Transport, sich um 20.30 Uhr erledigt hatte,
wurden die Gefangenen nicht vor 6.00 Uhr entlassen. Viele erlangten erst im
Laufe des Vormittags ihre Freiheit.
8. Behinderungen freien Verkehrs überall. Eine freie
Bewegung war weiträumig nicht möglich. Straßen wurden
jenach polizeilichem Bedarf völlig gesperrt, die Zufahrt nach Ahaus
war für BürgerInnen zeitweise kaum oder gar nicht möglich.
Busse wurden über Stunden aufgehalten. Die
Demonstrationsbeobachterlnnen wurden während laufender polizeilicher
Aktionen mehrfach nicht durchgelassen und konnten die Orte nur auf Umwegen
erreichen. An mindestens zwei Stellen wurde auch eine Landtagsabgeordnete
an polizeilichen Kontrollstellen nicht durchgelassen.
9. Rabiate Polizeigewalt. Demonstrationen und Proteste
wurden immer wieder mit körperlicher Gewalt gegen die Demonstrierenden
durch die Polizei verhindert. Während der Blockierung der Gleise im Süden
von Ahaus wurde mit aggressiven Polizeigriffen die Räumung
durchgesetzt (Kopf und Gliedmaße verdrehen, Griffe in Augen und
Nasen). Während einer Blockade von Gefangenenbussen wurde mit Tritten
und Schlägen in Gesicht und auf Genitalien gegen die Demonstrierenden
vorgegangen. Im Verlauf der Proteste sind auch Schlagstöcke und
Wasserwerfer eingesetzt worden.
10. Trotz aller staatsgewaltigen Herausforderung triumphierte die
bürgerliche Gewaltfreiheit. Auf Seiten der Demonstrierenden war
trotz dieser vielfältigen Beiträge zur Eskalation seitens Politik
und Polizei vor allem die tiefverankerte Gewaltfreiheit zu konstatieren.
Obwohl die Kommunikations- und Organisationsstrukturen nicht oder nur
rudimentär aufgebaut werden konnten, wurde der Protest gewaltlos
ausgedrückt.Freitag nachmittag wurden die Schienen südlich von Ahaus
besetzt.Viele angereiste Demonstrierende, vor allem aber auch viele Ahauser
setzten sich auf die Schiene und blieben dort sitzen, als die Polizei anrückte.
Deutlich wurde, daß die Bürger und Bürgerinnen ihre Erklärung
ernst meinten, den Transport durch eine Sitzblockade aufhalten zu wollen.
Wenn auch - wie bei den Protesten in Gorleben - die hilfreichen, erklärenden
und motivierenden - aber auch beruhigenden - Kommentare durch
Megaphonanlagen der Bürgerinitiativen
fehlten - viele, die dies hätten leisten können, waren in
Gewahrsahm genommen - war dies eine um so eindrucksvollere Demonstration
des
gewaltlosen Protestes und massenhaften zivilen Ungehorsams.
11. Protestkultur gestärkt. Entgegen diesem
polizeilichen Konzept der Verhinderung von Demonstrationen, zeigten die BürgerInnen
ihre Bereitschaft zum gewaltfreien Protest, der sich nicht durch willkürliche
polizeiliche Maßnahmen aufhalten läßt. Im Münsterland
ist innerhalb eines knappen Jahres seit der Ankündigung der Transporte
von hochradioaktivem Müll aus den Kernkraftwerken in Süddeutschland
eine Protestbewegung entstanden, die allmählich ihren Rückhalt in
der Bevölkerung findet hat. Das polizeiliche Vorgehen, das auf eine
Mischung von Deeskalation und tatsächlicher Gewalt gegen den Protest
aus der Bevölkerung setzte, hat den Protest gestärkt.
gez. Prof. Dr. Wolf-Dieter Narr
(Geschäftsführender Vorstand des Komitees)
gez. Dr. Elke Steve
*) verbeitet vom Aktionsbündnis CASTOR-Widerstand
Neckarwestheim Info-tel + fax 07141 / 90 33 63
http://www.i-st.net/~buendnis/
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