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1998

Rubrik
Frauen/Lesben
Schwule & Patriarchat
 

Virtueller Vorabdruck: Schwulenverrat SoSe 98 Nr. 1 (Schwules Semesterinfo für die Freie Universität Berlin)

Abschaffung/Entprivilegierung der Ehe
als Ziel lesbisch-feministischer und schwuler Politik


Seit etwa 1989 fordert eine Minderheitenströmung in der Schwulenbewegung
die sog. Homo-Ehe, die es seitdem – zumindest in den Massenmedien – zur
Hauptforderung „der Lesben und Schwulen" geschafft hat. Das ist ein
Bruch mit der langanhaltenden Kritik von Lesben und Schwulen an der
patriarchalen und heteronormierten Institution Ehe.

Die weltweite Ausbeutung der Frau
Die Ehe ist in vielen Ländern der Erde nicht etwa Zeichen „romantischer
Liebe" (oft entscheiden traditionell die Eltern über die Köpfe ihrer
Kinder hinweg), sondern knallharter ökonomischer Realitäten. In ihr und
durch sie organisiert sich die gesellschaftliche Ausbeutung der Frau.
Deren Arbeit wird in der kapitalistischen Ökonomie auf den Hausbereich
zentriert und als unproduktive Nichtarbeit umdefiniert: sie zählt nicht.
So leisten Frauen zwar de facto zwei Drittel der gesellschaftlichen
Arbeit. Trotzdem gilt der Mann als Ernährer der Familie – schließlich
erhalten Frauen nur ein Zehntel des Welteinkommens und besitzen gerade
mal ein Hundertstel des Weltvermögens.
Mit dem Ehegattensplitting wird in Deutschland diese
geschlechtshierarchische Arbeitsteilung steuerlich gefördert: Je größer
der Unterschied zwischen den Einkommen der „Ehepartner" ist, desto
größer ist auch der steuerliche Gewinn, den heterosexuelle Pärchen aus
ihrem rechtlich privilegierten Ehedasein ziehen. Er beläuft sich pro
Jahr auf ca. 40 Milliarden DM. Gleichzeitig spart sich der Staat jedoch
auch Geld durch die Ehe, denn es gilt das Subsidiaritätsprinzip, nach
dem eine verheiratete Frau nur dann Anspruch auf staatliche
Unterstützung hat, wenn sie nicht von ihrem Mann „versorgt" werden kann
(mensch kann das gerne auch geschlechtsneutral formulieren; das ändert
aber nichts an der gesellschaftlichen Regel). Damit ist die Abhängigkeit
der Frau rechtlich festgeschrieben.

Die Intimisierung der Ehe und der Verfall der „Freundschaft"
In der Ehe wird die sexuelle Verfügbarkeit der Frau nach dem Muster von
Monogamie und Heterosexualität gesellschaftlich organisiert. Während
dies in früheren Zeiten vor allem hieß, die Frau auf ihr Gebärfunktion
zu reduzieren, so tritt in der bürgerlichen Moderne der Anspruch hinzu,
die lebenslange Einstehensgemeinschaft (so die Wortneuschöpfung Volker
Becks, der noch nicht einmal den Zynismus dieses Wortes kapiert) mit den
Requisiten von Treue, Partnerschaft und sogar Liebe zu versehen. Gab es
früher Leidenschaft meist nur außerhalb der Ehe, so wird heute eine
Institution, deren Zwecke im ökonomischen und reproduktiven Bereich
liegen, mit genau diesem, sie überfordernden Anspruch verbunden. Aber
wer glaubt schon ernsthaft, daß eine lebenslange innige Liebe unter
Eheleuten mehr sein könnte als eine ganz normale Unwahrscheinlichkeit.
Die alltägliche Realität von Ehe und Familie sind hingegen sexueller
Mißbrauch, Vergewaltigung und Prügel.
Parallel zur Durchsetzung des bürgerlichen Ehemodells wurden
gesellschaftlich exterritoriale Leidenschaften, wie vor allem die Liebe
zwischen Frauen und zwischen Männern oder das Mätressenwesen sie
darstellten, historisch durch ein neues brutales System von Erpressung
bzw. homosexueller Panik ausgedünnt und in ein Ghetto von ausschließlich
homosexuell identifizierten Menschen (nach offiziellem Zeitungsdeutsch
das „Homosexuellenmilieu") und in ein ebenso gesellschaftlich geächtetes
„Prostituiertenmilieu" verlagert. Dieser Prozeß der Enteignung einer
autonomen Lebenspraxis im Rahmen bürgerlicher Modernisierung findet
seinen Ausdruck im Verfall der konventionalisierten Formen männlicher
Freundschaft, die noch im 17. Jahrhundert durch den öffentlichen
Austausch von Liebe und Zärtlichkeit bis hin zu Umarmungen und Küssen
sowie das Teilen des Nachtlagers geprägt waren. Statt dessen etabliert
sich die wissenschaftliche Konstruktion des Homosexuellen als besonderer
abnormer Spezies spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und
findet seinen Höhepunkt während des postfaschistischen
CDU/Adenauer-Regimes, als ca. 50.000 Menschen wegen Vergehen gegen den §
175 (in der von den Nazis verschärften Form) in die Knäste einwandern,
ein konservatives Frauen- sowie Ehe- und Familienbild regiert und die
mediale und Alltagsöffentlichkeit von „Homosexuellen" gereinigt wird.

Der Rassismus der Bürgerrechte
„Die Ehe ist ein Menschenrecht" und „Die Arbeiterbewegung hat immer
gegen Eheverbote gekämpft" behauptet der grün dominierte Schwulenverband
(SVD), jenes „linkenfreie Biotop" (Ralf Dorschel), das sich 1990 als
konservative Konkurrenz zum strömungsübergreifenden schwulen Dachverband
BVH etablierte. Das mag ja allerhand Licht auf die Arbeiterbewegung und
deren Bewußtseinsstand in Sachen Geschlechterverhältnis werfen, täuscht
aber darüber hinweg, daß die Ehe sich als solche über den Ausschluß
anderer Lebensweisen definiert. Ein Menschenrecht ist sie definitiv
nicht (vgl. die allgemeine Erklärung der Menschenrechte). Daß sie als
solches behauptet wird, entblößt die Methode des SVD, Begriffe entgegen
ihrem ursprünglichem Gehalt zu besetzen: etwa den Menschenrechtsbegriff
für eine antiegalitäre Politik zu mißbrauchen oder den in seiner
bewegungspolitischen Form aus der afroamerikanische Tradition stammenden
Bürgerrechtsbegriff über den Umweg DDR nach Deutschland zu transferieren
und ihn dadurch mit einem latent rassistischem Gehalt zu füllen. Denn in
Deutschland bindet er Rechte an die Zugehörigkeit und letztlich
Bekenntnis zu diesem Staat. Schwule sollen als „Bürger dieses Staats"
Rechte genießen, während Migrantinnen keine Bürgerinnen sind und somit
auch keine Rechte haben. Konsequent schrieb denn auch der
Homobürgerrechtler Arno Schmitt in der Siegessäule: „Das Wahlrecht denen
zu geben, die 'türkisches Blut und muslimische Lebensart reinhalten'
wollen, entwertet das Bürgerrecht. Von denen haben ... Schwule ...
nichts Gutes zu erwarten." (November 1992). Ein besseres Beispiel für
rassistische Projektion läßt sich kaum finden. – Die Einforderung von
„Bürgerrechten" kann kein Ziel radikal-emanzipatorischer Politik sein,
sondern nur Teil einer Anbiederung und kollektiven Demütigung von Lesben
und Schwulen.

Die Ehe als bevölkerungspolitisches Instrument
Gesamtgesellschaftlich ist die Ehe vor allem auch als
bevölkerungspolitische Instanz von Bedeutung. Mit Foucault ließe sich
sagen, daß sie als Scharnier zwischen einer Mikro- und einer
Makropolitik der Macht funktioniert. Die Funktion der Ehe im
kapitalistischen Modernisierungsprozeß kann an einem historischen
Beispiel illustriert werden: Während in den dörflichen Gemeinden der
frühen Neuzeit die Heiratserlaubnis an den Besitz einer
Vollerwerbsstelle gebunden war (mit der Folge der erzwungenen
Ehelosigkeit des Gesindes) und zusätzlich das Heiratsalter gemäß der
demographischen Situation herauf- und heruntergesetzt wurde, entfielen
diese Mechanismen der Bevölkerungskontrolle in den neuen ländlichen
Gewerberegionen mit protokapitalistischer Hausindustrie völlig. Je mehr
Arbeitskräfte eine Familie hier zur Verfügung hatte, desto besser stand
es um ihre finanzielle Situation. So stiegen schließlich die
Bevölkerungen, die in das lukrative Ausbeutungssystem des
frühneuzeitlichen Handelskapitals involviert waren, sprunghaft an und
schufen die Rekrutierungsbasis für die internationale Akkumulation des
Kapitals. Dieser Prozeß war nicht überall funktional. Wenn es auch dem
Handelskapital darum ging, ein massenhaft verelendetes Proletariat zu
zeugen, aus dem billige Arbeitskräfte rekrutiert werden konnten, so war
man an anderer Stelle an einer allzu raschen Bevölkerungsvermehrung
durchaus nicht interessiert. Im agrarischen Sektor etablierte sich im
Rahmen des neuen europäischen Weltsystems in Polen eine Form zweiter
Leibeigenschaft, in der die Abhängigen jeweils durch ihren Gutsherren
verheiratet wurden. Im europäisch-amerikanischen Sklavenhandel des 17.
und 18. Jahrhunderts schließlich waren Ehe und Familie für die Schwarzen
überhaupt nicht mehr vorgesehen. Es war billiger, die Sklaven im
arbeitsfähigen Alter aus Afrika zu importieren, sie in kurzer Zeit zu
vernutzen und damit die Kosten, die mit „Aufzucht" und Erziehung
verbunden waren, auf die dortigen Stammesgesellschaften abzuwälzen.

Metropole und Peripherie
Wie dieses Beispiel illustriert, ist eine unterschiedliche Ehe- und
Familienpolitik in unterschiedlichen Staaten der Erde eine grundlegende
Voraussetzung für das Funktionieren einer kapitalistischen Ökonomie. In
der Weltwirtschaft periphere Staaten sind nicht einfach nur rückständig,
wenn sie Homosexualität strafrechtlich verfolgen und Ehe und Familie als
Ort der sozialen Absicherung des einzelnen in den Vordergrund stellen.
Vielmehr ist diese Bevölkerungspolitik Teil des kapitalistischen
Expansionsprozesses in der Dritten Welt, mit dem die ständige Neubildung
eines Halbproletariats gewährleistet wird, das durch niedrige
Unterhaltskosten, Ausnutzung von Kinderarbeit und den Verzicht auf
staatliche Unterstützung gekennzeichnet ist. Zwischen der Lockerung der
Institution Familie in den Metropolen der Weltwirtschaft (wo Lesben und
Schwule das durch die Massenmedien hergestellte Ideal eines sozial
ungebundenen, flexiblen Konsumenten- und Produzententyps verkörpern)
und der gegenläufigen Tendenz in den sogenannten „Entwicklungsländern"
besteht ein funktionaler Zusammenhang. Doch selbst in den Metropolen der
entwickelten Welt hört die durch Ehe und Familie heteronormierte
Gesellschaft nicht auf zu bestehen – ihre Auflösung hat immer nur einen
tendenziellen und beschränkten Charakter. Unterlaufen wird sie durch die
Ausbildung von neuen proletarischen Armutszonen, in denen die Menschen
für ihre soziale Sicherung auf Verwandtschaftsnetze angewiesen sind und
die auch erfahrungsgemäß Orte extremer Homophobie sind.

Resümee
Die Integration der Homosexuellen ist nur ein Oberflächenphänomen in
Randbereichen der kapitalistischen Gesellschaft, selbst noch in einer
Stadt wie Berlin auf die mittelständischen Innenbezirke beschränkt. Eine
Ausweitung der BGB-Ehe auf das homophile Kleinbürgertum wird an der
Marginalisierung von Lesben, Schwulen, Trans- und Intersexuellen nichts
ändern, sondern lediglich die Chancen emanzipatorischer Politik durch
die Aufwertung zwangsheterosexueller Institutionen verringern und die
gesellschaftliche Normierung von Lebensstilen auch im schwulen Ghetto
durchsetzen („Sach mal, bist Du eigentlich verheiratet?"). Schließlich
wird sie in eine Zweiklassengesellschaft von angepaßten Biedermännern
auf der einen Seite und schwulen Säuen und Tunten auf der anderen Seite
münden. Statt dessen käme es darauf an, eigene Lebensweisen zu
entwickeln und rechtlich abzusichern, statt sich dem heterosexistischen
Blick von Grünen und SPD zu fügen, wonach für Lesben und Schwule gut
sein müsse, was für die herrschende Heterosexualität schon jetzt recht
und billig ist: die Ehe. Emanzipatorisch wäre es, Verwandtschaft neu und
selbst zu definieren statt einfach ein heterosexuelles System von Heirat
und Blutszugehörigkeit fortzuschreiben.

Ausblick
Die Homo-Ehe ist überflüssig. Schon jetzt ist über ein einfaches
Formularheft, das von der Deutschen Aids-Hilfe herausgegeben wurde, eine
weitgehende rechtliche Absicherung von lesbischen und schwulen
Lebensweisen in den wichtigsten sozialen Bereichen möglich. Hingegen
steht eine Absicherung etwa im Zeugnisverweigerungsrecht noch aus.
Ansonsten läßt sich das juridische Ziel der FrauenLesben-, Schwulen- und
Transsexuellenbewegung in der Abschaffung der Ehe, der Entprivilegierung
eines heterosexuellen Verwandtschaftssystems, Durchsetzung des
Individualrechts, freiem Zugang zu Namen und Geschlecht und dem Recht
auf körperliche Unversehrtheit für Menschen außerhalb der
geschlechtlichen Norm zusammenfassen. Solange SPD, Grüne und große Teile
der PDS das nicht kapiert haben, sind sie für uns Gegner, die wir mit
aller Militanz angreifen. Denn außer uns selbst wird sich niemand für
unsere Rechte einsetzen.

Gigi l'Amorosa

Literatur:
Alan Bray, Homosexuality and the Signs of Male Friendship in Elizabethan
England. In: Jonathan Goldberg (Hrsg.), Queering the Renaissance.
Durham; London 1994
Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit. Erster Band: Der Wille zum
Wissen. Frankfurt/M. 1983.
Peter Kriedte, Spätfeudalismus und Handelskapital: Grundlinien der
europäischen Wirtschaftsgeschichte vom 16. bis zum Ausgang des 18.
Jahrhunderts. Göttingen 1980.
Eve Kosofsky Sedgwick, Epistemology of the Closet. New York u.a. 1990.
Eike Stedefeldt, Schwule Macht oder Die Emanzipation von der
Emanzipation. Berlin 1998.
Immanuel Wallerstein, The Modern World-System I: Capitalist Agriculture
and the Origins of the European World-System in the Sixteenth Century.
San Diego 1974.