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1998

Rubrik
1.Mai
 

Aus: Interim 450, S.8f

Zu den Krawallen am 1. Mai hier im Kiez

Am 1. Mai hat es in Prenzlauer Berg und Mitte die härtesten Krawalle seit vielen Jahren gegeben. Mehrere Tausend Demonstranten und Demonstrantinnen haben sich rund zwei Stunden lang eine Straßenschlacht mit der Polizei geliefert. Diverse Fensterscheiben wurden eingeschmissen, einige Autos zerstört und Barrikaden gebaut. Die Polizei nahm über 400 Leute fest. Seitdem wird im Kiez heftig diskutiert, viele Anwohnerlnnen sind empört. Auch uns hat die Entwicklung überrascht. Die Hetze, die allerdings seit dem 1. Mai von Medien und Politikern verbreitet wird, hat unserer Meinung nach mit der Realität wenig zu tun. Wir wollen deshalb mit diesem Flugblatt unsere Sicht der Dinge erzählen und hoffen, daß sich möglicherweise eine etwas differenziertere Diskussion entwickeln kann.

  • Was ist eigentlich passiert

Kurz vor 20 Uhr ist wie in den vergangenen Jahren die sog. "Revolutionäre 1. Mai-Demo" vom Rosa-Luxemburg-Platz über die Choriner Straße und die Kastanienallee losgegangen. Bestand der Zug anfangs aus 3.000-4.000 Leuten, wuchs er schnell auf rund 10.000 an (die Polizeizahlen sind wie meistens deutlich zu niedrig). Das Spektrum reichte von Autonomen über Skater, Sprüher und Punks bis zu "Normalos", darunter erstaunlich viele Leute aus den Kiezen in Mitte und Prenzlauer Berg. Die Stimmung war ausnehmend gut, allerdings auch gereizt: Bereits vor der Volksbühne hatten die Bullen Wannen mitten in die Menge gestellt und sich demonstrativ nicht vom Fleck bewegt. Sie haben schon vor dem Beginn der Demo ein Dutzend Leute festgenommen.

Als die Demospitze gegen 21 Uhr bereits an der Kreuzung Schönhauser Allee/Oderberger Straße stand und der Großteil der Demo in dem kleineren Teil der Oderberger sowie noch der Kastanienallee war, gab es kurze Auseinandersetzungen mit der üblichen engen "Spalier"-Begleitung der Polizei. Dabei wurde Baustellengitter als erste kleinere Barrikaden auf die Straße gezogen, die Polizei knüppelte in die Menge, Steine und Flaschen flogen.

Von da ab eskalierte die Lage kontinuerlich und wie ein Gewitter entlud sich der Haß auf die Polizei in einem Steinhagel. Später wurden auch diverse Banken, Computerläden und kleinere Geschäfte sowie einige Autos eingeschmissen und Barrikaden angezündet. Erst nach 23 Uhr kehrte sowas wie Ruhe ein.

  • Wieso diese heftigen Krawalle?

Seit dem Amtsantritt von Innensenator Jörg Schönbohm hat sich in Berlin das politische Klima enorm verschärft: Die Polizei geht massiv gegen Besetzer, Bettler, jugendliche Skater, Sprayer, HipHoper oder ausländische Kids vor. In die Stadt ist ein militärischer Ton eingezogen, der sich in der Stimmung auf der Straße niederschlägt und im Parlament seine Entsprechung hat, wenn der CDU-Politiker Landowsky von "Ratten und Gesindel" im Zusammenhang mit ihm nicht genehmen Menschen spricht.

Ausdruck der repressiven Strategie war auch der 30. April vergangenen Jahres, als die Polizei den gesammten Kollwitzplatz-Kiez absperrte und jeden terrorisierte, der nur irgendwie unterwegs war. Ein ähnliches Bild auch dieses Jahr in der Walpurgisnacht: Nachts um 2 Uhr räumten die Beamten plötzlich brutal den Wasserturmplatz, obwohl alles ruhig und friedlich lief. Vor der Kulturbrauerei wurden friedliche Besucher von Polizeihunden gebissen. Schon seit Jahren geht die Polizei gegen jede Demo von links vor. Auf der Mai-Demo vergangenes Jahr wurden diverse Leute festgenommen, nur weil sie eine Sonnebrille aufhatten - angeblich waren sie vermummt. Auf der Rosa-Luxemburg-Demo im Januar haben die Bullen diverse Kids blutig geprügelt. Wenn in den vergangenen Jahren von Krawallen die Rede war, dann war das meist ein Katz-und-Maus-Spiel, das die Polizei mit Demonstranten trieb. Der Gipfel waren an diesem 1. Mai die grundlose Festnahmen von mehr als 100 Antifas, die gerade in Bussen aus Leipzig wiederkamen, wo sie gegen Neonazis demonstriert hatten. Mittlerweile haben nicht nur Antifas, Autonome oder Hausbesetzer, sondern ganze Jugendszenen eine tierische Wut auf dieses Politik, die sich gerade am 1. Mai in der Polizeipräsenz verdichtet. Deshalb war der 1. Mai dieses Jahr so überraschend: Kurz nach 21 Uhr rechneten alle mit der üblichen Polizeistrategie, die gesamte Demo aufzumischen, nachdem es erste Rangeleien gab. Doch diesmal kippte die Stimmung, die Polizei bekam die Lage nicht in den Griff. Anders als in den Medien dargestellt, richtete sich der Hauptteil des Krawalls nicht gegen den Kiez, sondern gegen die Bullen. Erst, als die das Geschehen nicht in den Griff bekamen, wurden auch Banken entglast und Barrikaden gebaut. Dabei sind die Krawalle nur zum kleinen Teil von der autonomen Szene getragen worden. Der überwiegende Teil der Steinwerfer waren Jugendliche, die spontan merkten, daß es diesmal eine Chance gegen die Bullen gibt. Wir haben Leute Steine werfen sehen, von denen wir es nie gedacht hätten, und dabei waren nicht wenige, die wir vom sehen aus dem Kiez kennen.

  • Ätzende Aktionen gegen den Kiez

Bei der Randale sind eine Menge beschissener Sachen passiert. Man kann darüber streiten, ob eine eingeschmissene Scheibe bei einer Bank eine adäquate Antwort auf deren Rolle im Kapitalismus ist, in einer Zeit, in der die Banken Rekordgewinne verbuchen, wenn gleichzeitig die Arbeitslosenzahlen so hoch wie nie zuvor sind. Und auch Computerketten oder Schlecker-Filialen gehören sicher nicht zu den Armen in diesem Land. Man kann allerdings nicht darüber streiten, daß es absolut daneben ist, kleineren und mittelständischen Betrieben in der Nachbarschaft zu schaden. Der Fleischer in der Oderberger, der Plattenladen in der Kastanienallee und diverse andere Läden wurden empfindlich getroffen. Ähnlich sehen wir das mit den Autos: Unser Bedauern ist begrenzt, wenn ein dicker Bonzen-BMW beschädigt wird. Aber wir finden es absolut ätzend, wenn Durchschnitts-PKW zerstört werden. Dazu kamen Flaschenwürfe, die Demoteilnehmer getroffen haben. Dafür haben wir definitiv kein Verständnis. Diese sinnlosen Aktionen erklären sich aber aus der oben beschriebenen Entwicklung: Irgendwann hat sich der Haß auf Politik und Bullen in Zerstörungswut verwandelt und wurde zu einem Selbstläufer. Anfang der 90er Jahre gab es in Kreuzberg nach den dortigen Mai-Krawallen den Konsens, bei Ausschreitungen vor allem kleinere Betriebe und Privat-PKW zu schützen. Das ist diesmal definitiv falsch gelaufen, liegt aber auch daran, daß ein Großteil der Randale-Aktivisten nicht aus politischen Gruppen kam.

  • Wie weiter?

Wut gibt es auch bei uns im Bezirk. Aber seit einiger Zeit schon wird im Kiez nur sehr wenig darüber debattiert, wie ein solidarisches Selbstverständnis einer Nachbarschaft aussehen könnte. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung in Prenzlauer Berg ist seit 1989 ausgetauscht worden. In manchen Ecken sind viele Yuppies zugezogen, andere gehören zu den ärmsten Teilen Berlins. Man sollte darüber endlich diskutieren, wie wir der zunehmenden sozialen Polarisierung entgegnen können und welche Strategien gegen ein KIima erfolgreich sind, das auf Repression durch Polizei und die Ausgrenzung von Armen und AusländerInnen setzt. Innensenator Jörg Schönbohm und die CDU werden künftig ein noch härteres Vorgehen

befürworten. Polizei und Medien werden weitere Lügenmächen verbreiten, Demonstranten hätten Wohnhäuser angezündet (wie angeblich die Eberswalder Str. 28) . Was dabei gerne übersehen wird, ist, daß die Polizei bereits seit einiger Zeit eine "niedrige Eingreifschwelle" und Strategie der "Null-Toleranz" verfolgt. Der ex-Militär Schönbohm hat bei seinem Amstantritt angekündigt, Berlin zu säubern. Die besetzten Häuser hat er teils am Rande der Illegalität räumen lassen, gegen Sprüher eigens Sonderkommissionen einrichten lassen und den ehemaligen New Yorker Polizeipräsidenten Bretton als Vorbild gerühmt. Das hat offensichtlich dazu geführt, daß es besonders heftig geknallt hat. Wer eine solche Politik verfolgt, braucht sich nicht zu wundern, wenn das dabei rauskommt. Wir fanden es gut, wenn es zu so etwas wie einer Kiezveranstaltung käme, wo wir über die Mai-Krawalle und ihre Folgen reden könnten.

Einige Linke aus Prenzlauer Berg und Mitte