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1998

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1.Mai

Ein persönlicher Bericht vom 1. Mai in Leipzig
aus: bln.politik Date: 3 May 1998 03:37:45 GMT

Hallo,
Hier ein kurzer Bericht ueber die Ereignisse am 1. Mai in Leipzig. Ich schildere im Folgenden meine eigenen Eindruecke - nach Auswertung der Medienberichte bin ich offenbar an allen Brennpunkten der Ereignisse gewesen. Selbstredend ist meine Schilderung subjektiv gefaerbt.
regards, es

Ich bin am fruehen Morgen (ca. 4 Uhr) in Leipzig angekommen. Am
Hauptbahnhof standen bereits etwa dreissig Polizisten, die die
Ankommenden begutachteten (aber zu dieser Zeit noch niemanden
kontrollierten). Die Stadt war bis auf ein paar verspaetete
Nachtschwaermer ziemlich ausgestorben (die letzten Kneipen
schliessen etwa um diese Zeit). Hin und wieder waren Konvois
von Polizeifahrzeugen zu sehen, die mit Blaulicht durch die
Stadt in Richtung Ausfallstrassen und zum suedoestlichen
Stadtteil Stoetteritz fuhren, in dem sich das Voelkerschlachtdenkmal,
der geplante Kundgebungsort der NPD, befindet.

Ueber Radio sowie Anrufen bei "Nationalen Infotelefonen" der
Neonazis und Ansagediensten der Antifaschistischen Aktion hatte
ich mich ueber den aktuellen Stand informiert:
Am 30.4. abends hatte vor dem Voelkerschlachtdenkmal ein Konzert mit
BAP, den Prinzen und 18 weiteren Bands stattgefunden, das die DGB-
Jugend als Auftakt des Protests der Leipziger gegen den NPD-Aufmarsch
initiiert hatte - 10.000-15.000 ueberwiegend junge Leute hatten an
diesem Konzert teilgenommen. Zu einer Besetzung des Kundgebungsplatzes
im Anschluss war es nicht gekommen. Das erneute Verbot der NPD-Kundgebung
war noch am spaeten Abend vom Verwaltungsgericht Leipzig wieder aufgehoben
worden, so dass die Rechtsradikalen ihre Kundgebung abhalten konnten.
Der von ihnen geplante Marsch durch den Stadtteil Stoetteritz blieb
ihnen hingegen - gleichlautend mit dem Beschluss des OVG Bautzen -
nach wie vor untersagt.
Aus den Radiomeldungen ging ferner hervor, dass 26 Busse mit NPD-Anhaengern
und 29 Busse mit Gegendemonstranten nach Leipzig unterwegs seien, dazu eine
nicht bekannte Anzahl von Ankoemmlingen mit Privatfahrzeugen oder Bahn.

Der Leipziger Initiativkreis 1. Mai ohne Naziaufmarsch hatte fuer den
Morgen zur Sammlung an verschiedenen Punkten Leipzigs (Weisseplatz,
Connewitzer Kreuz, Voelkerschlachtdenkmal Osttor) aufgerufen, jeweils
etwa gegen 8.00 Uhr. Die offizielle DGB-Veranstaltung begann um 9 Uhr
am Sachsenplatz im Zentrum Leipzigs. Die NPD-Veranstaltung war fuer
11 Uhr angesetzt.

Ich bin erst einmal zwischen 6.30 und 7 Uhr mit der Strassenbahn (Linie
15 bzw. 21) am Schauplatz des Geschehens (der Prager Strasse zwischen
altem Messegelaende und dem Gelaende um das Voelkerschlachtdenkmal)
vorbeigefahren, um mir ein Bild von der Situation zu machen. Schon zu
dieser Zeit war das Gelaende weitraeumig von Polizei umstellt. Die Polizei-
einheiten stammten nach Autonummern ausser aus Sachsen aus Thueringen,
Sachsen-Anhalt, NRW und Hessen bzw vom BGS (weitere habe ich nicht
gesehen, es waren aber laut Nachrichten Polizisten aus 7 Bundeslaendern
im Einsatz).

Um einen kurzen verbalen Eindruck vom Schauplatz des Geschehens zu geben:
Vom Stadtzentrum her nach Suedosten verlaeuft die Prager Strasse. Oestlich
davon liegt der Stadtteil Stoetteritz, westlich davon erst das alte
Messegelaende, dann (in Suedrichtung) der S-Bahnring, danach der Park
mit dem Voelkerschlachtdenkmal (und der Suedfriedhof). Die geschilderten
Ereignisse spielten sich auf den etwa 2km zwischen Messeeingang und
Voelkerschlachtdenkmal in diesem suedoestlichen Vorortbezirk Leipzigs ab.

An der Prager Str./Ecke Schoenbach- bzw. Ludolf Colditzstr. hatten sich
gegen sieben Uhr schon etwa 150 linke Demonstranten eingefunden, die von
der Polizei an einem Betreten des Denkmalsgelaendes gehindert wurden.
Zu diesen Leuten habe ich mich dann wenig spaeter gesellt. Eine
Strassenbahnhaltestelle weiter stadteinwaerts (Prager Str./Ecke
Holzhaeuser Str.) hatten sich etwa 50 Neonazis versammelt, die
schwarzweissrote Fahnen sowie Bierdosen schwenkten und ein wenig
aussahen wie Komparsen aus einen drittklassigen antideutschen Hetzfilm.
Das Voelkerschlachtdenkmal selbst, im uebrigen eine, hmm.., sagen wir
architektonische Besonderheit (um nicht Schoenheit luegen zu muessen)
aus dem letzten Jahrhundert, war mit einem riesigen Spruchband "Nie
wieder Faschismus" eindrucksvoll verschoenert.

Wie gesagt, gesellte ich mich nach dieser kurzen "Heerschau" aller Seiten
zu der meinigen, einer reichlich gemischten Truppe zwischen (geschaetzt)
vierzehn und siebzig Jahren, vom Alt-PDSler zum Jungautonomen oder Punk,
mit einem klaren Uebergewicht bei den juengeren Jahrgaengen. Die Mehrzahl
der Leute waren zu dieser Zeit Einheimische, aber laufend kamen aus der
Stadt weitere hinzu, aus anderen Teilen Sachsens und der uebrigen Ex-DDR,
aber auch aus Westdeutschland, so aus Bayern, Niedersachsen und Hamburg
(Leute aus Berlin habe ich erst spaeter gesehen). Ich will nicht verhehlen,
dass auch hier einige ungeachtet der fruehen Morgenstunde schon die Bier-
flasche/-dose am Hals hatten (wofuer ich bei Demonstrationen kein besonders
grosses Verstaendnis habe), jedoch war dies eher die Ausnahme.

Bis kurz nach neun Uhr blieb alles relativ ruhig. An dieser Ecke hatten
sich vielleicht tausend Leute und ein Lautsprecherwagen gesammelt, der
ein paar Ansagen und zwischendurch Musik machte. Unruhe kam auf, als
gegen 10 Uhr Trupps und schliesslich Busse mit Rechtsradikalen eintrafen,
die mit Pfiffen und Gejohle begruesst wurden. Als dann auch vereinzelte
Steine geworfen wurden, rueckte die Polizei eng auf, auch ein Wasserwerfer
wurde aufgefahren. Die Demonstranten bildeten Ketten und es sah ziemlich
nach Aerger aus.

Nach einem Aufruf aus dem Lautsprecherwagen, sinnlose Konfrontationen zu
vermeiden, vor allem das Steinewerfen sein zu lassen, und Gespraechen mit
einem Polizeiverantwortlichen kam es zu einer Entspannung der Lage. Der
Wasserwerfer wurde wieder zurueckgefahren und die Absperrkette der
Polizisten ging ein Stueck Richtung Prager Strasse zurueck. Auch die
Demonstranten beruhigten sich etwas.

Mit der Zeit trafen immer mehr Leute aus der Stadt und von den
Sammelplaetzen der Busse und PKW ein. Da weitere Busse mit Nazis
erwartet wurden, war die Stimmung bald wieder ziemlich gespannt.
Sie verschaerfte sich, als drei BGS-Wasserwerfer eng auffuhren
und die Polizeikette (ohne auesserlich erkennbaren Anlass) erheblich
verstaerkt wurde. Als kurz vor elf Uhr auf dem huegeligen Gelaende
des Denkmalparks auf der anderen Seite der Prager Strasse ploetzlich
Trupps von mehreren hundert Neonazis auftauchten, die Reichskriegsflaggen
schwenkten und Unverstaendliches heruebergroelten, explodierte
kurz vor elf Uhr die Situation.

Es begann damit, dass aus den hinteren Reihen wieder Steine geworfen
wurden. Das war laestig und unvernuenftig, zumal die Werfer zum Teil
die eigenen Leute trafen (u.a. mich, der ich weit vorne in der Naehe
der Absperrung stand). Den unmittelbaren Anlass gaben dann Schuesse
aus einer Signalpistole mit Leuchtkugeln (eins von den Dingern flog
auch unangenehm nahe an uns vorbei), die auf die Nazis auf der anderen
Strassenseite gerichtet waren. Daraufhin begann die Polizei unter
Wasserwerfereinsatz mit der Raeumung der Schoenbach- und der Ludolf-
Colditzstrasse, wogegen sich Teile der Demonstranten mit Steinwuerfen
zur Wehr zu setzen versuchten. Die Raeumung erfolgte in keiner Weise
uebermaessig brutal, vom etwas undifferenzierten Wasserwerfereinsatz
abgesehen - im Vergleich z.B. zu Schoenbohms Berliner Pruegelgarde -
sogar ausgesprochen zivil: ich habe waehrend dieser Ereignisse einer
Frau zu helfen versucht, die von ihrer 15jaehrigen Tochter getrennt
worden war - dabei habe ich zweimal die "Frontlinie" gekreuzt und
bin auch erbaermlich nass geworden, wurde aber, da ich keine Anstalten
aggressiven Handelns machte, in keiner Weise behelligt. Nachher fand ich
mich mit einem Trupp "Versprengter" von etwa 20-40 Leuten immer noch
am gleichen Punkt, waehrend ein Teil der Polizei die Mehrzahl der vorher
hier gewesenen Demonstranten zwei Querstrassen weiter in der Gletscher-
steinstrasse (frueher Leninstrasse) erst einmal einkesselte. Bei dem
genannten Zwischenfall ist wohl leider auch eine Polizistin aus NRW,
die aufgrund der zuvor eher entspannten Lage und des warmen Wetters
ihren Schutzhelm abgesetzt hatte, durch einen Steinwurf schwer am
Kopf verletzt worden. Uebrigens stammen - wie ich spaeter feststellen
konnte - die meisten Presse- und Fernsehbilder ueber die angeblich so
schweren Strassenschlachten von diesem vielleicht 15-20 Minuten
dauernden Zwischenfall.

Kurz nach diesen Ereignissen konnte ich ein Stueck in die Prager Strasse
hineingehen und einen kurzen Blick auf den eigentlichen "Feind", also die
Neonazidemonstration auf dem Denkmalsgelaende, werfen. Ich war ziemlich
(angenehm) ueberrascht, dass sich da nur ein ziemlich klaeglicher Haufen
eingefunden hatte: aus meiner Perspektive (ganz nahe heran konnte ich wegen
der Absperrung immer noch nicht) sah es nach nicht viel mehr als zwei-,
hoechstens dreitausend "Kameraden" aus.

Ich bin dann auf die Suche nach den abgedraengten Demonstranten gegangen,
die ich zwei Querstrassen weiter, in der Gletschersteinstrasse, antraf.
Sie waren dort fuer insgesamt etwa anderthalb Stunden weitrauemig und
nicht extrem konsequent (als einzelner konnte man sich muehelos durch-
mogeln) von der Polizei eingekesselt, insgesamt etwa 1200-1500 Leute
mit zwei Lautsprecherwagen. Die Stimmung hier war - von zeitweiligen
Zuspitzungen abgesehen, z.B. als relativ unmotiviert wieder Wasserwerfe
auffuhren - eher entspannt.

Zu dieser Zeit waren zwei weitere Kolonnen von Demonstranten in Stoetteritz
eingetroffen. Eine davon versuchte an derselben Stelle, wo ich mich seit
dem Morgen aufgehalten hatte, in Richtung Denkmal durchzubrechen, als
dort etwa tausend NPDler auf den Huegeln auftauchten und mit Gegroele
und Flaschenwuerfen provozierten. Hier wurden wieder Steine geworfen und
die Absperrketten zu durchbrechen versucht. Folge war ein weiterer Einsatz
von Wasserwerfern, den die Demonstranten mit dem Bau von Barrikaden aus
Muellcontainern konterten, die sie auch noch anzuendeten.

Das Ganze fand nun gut 200m vom Versammlungsplatz der Nazis entfernt,
mitten im Stadtteil Stoetteritz statt, stank greulich und fuehrte so
auch nicht gerade zu uebermaessigen Sympathiebezeugungen der Anwohner
(die ihren Unmut zum Teil deutlich aeusserten, wenn auch ganz ohne die
mir aus der Ex-West-BRD vertrauten Sprueche, was man mit den Demonstranten
unter Adolf gemacht haette ..).
Die Wasserwerfer rueckten nur noch einmal an, um die Sauerei zu
loeschen, und die Demonstranten zogen sich saemtlich durch den
Stadtteil Stoetteritz in Richtung Weisseplatz und weiter Bahnhof
Stoetteritz zurueck (letzterer war aus unerfindlichen Gruenden
von hunderten Polizisten besetzt), und von da in Richtung Eingang
des alten Messegelaendes (Prager/Philipp Rosenthalstr.), ohne
von der Polizei verfolgt zu werden. Entsprechend kam es auch zu
keinerlei Zwischenfaellen mehr, nur an den wenigen Kiosken, Eisdielen
und Kneipen, die offen hatten, bildeten sich lange Schlangen.

Auf dem weitraeumigen Areal vor dem Eingang des alten Messegelaendes
fanden sich so bis etwa 13.30 Uhr gut viertausend, vielleicht ein
paar mehr Anti-NPD-Demonstranten ein. Vom Messeingang an suedwaerts
standen die Absperrketten und die Prager Strasse herunter hunderte
von Fahrzeugen der Polizei.
Aus Radiomeldungen wurde immer deutlicher, dass die Kundgebung der
Nazis mit drei- bis viertausend Teilnehmern ein ziemlicher Flop
geworden war. Man machte es sich auf dem Platz erst einmal bequem,
die Lautsprecherwagen machten Musik und es fuhren auch zwei Eiswagen
auf, die beste Umsaetze machten.

Vermutlich waere alles ohne weitere Zwischenfaelle im Sande verlaufen,
da in der folgenden Stunde sich eher Traegheit (bei 24 Grad im Schatten
und wenig Schatten auf dem Platz) breitmachte und einzelne von weiter
her angereiste Gruppen bereits ihre Rueckfahrt vorbereiteten. Nach 14 Uhr
zogen dann aber Polizeiketten nah um die mehr lagernden als stehenden
Demonstranten auf und kamen zum Teil widerspruechliche und provozierende
Aufforderungen, diesen oder jenen Bereich freizumachen und sogar,
"Vermummungen" abzulegen. Auf diese Provokation war den ganzen Tag
ueber bisher verzichtet worden. Kurz vor 15 Uhr kam es dann in der
Philipp Rosenthalstr. zu einem kurzen, aber ziemlich heftigen Knueppel-
und Wasserwerfereinsatz, ohne dass ganz klarwurde, was der Hintergrund
dieser Aktion war.

Zu weiteren Zwischenfaellen ist es in Leipzig bis zu meiner Abreise
um 16.22 Uhr meines Wissens nicht gekommen.

Im Ergebnis moechte ich folgendes festhalten:

- Fuer die Nazis war Leipzig eine klaegliche Pleite. Sie haben nicht
einmal ein Drittel dessen, was sie grossmaeulig angekuendigt hatten,
nach Leipzig mobilisieren koennen. Ihr Auftritt auf dem Messegelaende
selbst war auch nicht gerade publicitytraechtig: wenig Leute, und die
noch undiszipliniert und zum Teil besoffen - die Bluete des nationalen
Widerstands, wie ihre Gegner sie nicht besser erfinden koennten.

- Auf der Linken kann als Erfolg gewertet werden, dass gut ebensoviele,
eher mehr Leute mobilisiert werden konnten wie auf der Gegenseite.
Dass das schon als Erfolg gelten muss, sollte aber nachdenklich stimmen.
Auch diesmal kam gut die Haelfte davon aus dem Spektrum der autonomen
Antifa. Alle, die sich daher ueber Unbesonnenheiten, Organisationsmaengel
und Aktionsformen beschweren, muessen sich daher die Frage gefallen
lassen, wo sie oder die ihnen nahestehenden Gruppen (Gruene, PDS, Jusos,
SPD, Gewerkschaften) mit ihren Leuten und ihrem organisatorischen
Potential bei der Gestaltung der Aktionen waren. Ein grosses Problem
war das Fehlen einer zentralen Demonstrationsleitung und eines
entsprechenden Demonstrationskonzepts.

- Die polizeiliche Einsatzleitung machte einen relativ gutwilligen, aber
teilweise konfusen und unprofessionellen Eindruck. Die Zuspitzungs-
situationen, die ich selbst erlebt habe, waeren durch eine Mischung
aus Flexibilitaet und Konsequenz unter Einsatz von ein wenig Psychologie
ohne grosse Muehe zu entspannen gewesen, da weder die Demonstranten
die Polizei mehrheitlich als "Feind" ansahen noch dies den Gefuehlen
oder dem Verhalten der Polizisten entsprach. Voellig unverstaendlich
war mir die Zuspitzung am Ende der Demonstration, die keinem erkennbaren
Zweck diente und muehelos vermeidbar gewesen waere. Das ganze wirkt umso
unverstaendlicher, als die Strategie der Polizei in der Tat nicht auf
Konfrontation ausgerichtet war.