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1998
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RAF gibt auf
Die Erklärung der RAF
Vor fast 28 Jahren, am 14. Mai 1970, entstand in einer Befreiungsaktion die RAF: Heute
beenden wir dieses Projekt. Die Stadtguerilla in Form der RAF ist nun Geschichte.
Wir, das sind alle, die bis zuletzt in der RAF organisiert gewesen sind. Wir tragen
diesen Schritt gemeinsam. Ab jetzt sind wir, wie alle anderen aus diesem Zusammenhang,
ehemalige Militante der RAF.
Wir stehen zu unserer Geschichte. Die RAF war der revolutionäre Versuch einer
Minderheit, entgegen der Tendenz dieser Gesellschaft, zur Umwälzung der kapitalistischen
Verhältnisse beizutragen. Wir sind froh, Teil dieses Versuchs gewesen zu sein.
Das Ende dieses Projekts zeigt, daß wir auf diesem Weg nicht durchkommen konnten. Aber
es spricht nicht gegen die Notwendigkeit und Legitimation der Revolte. Die RAF ist unsere
Entscheidung gewesen, uns auf die Seite derer zu stellen, die überall auf der Welt gegen
Herrschaft und für Befreiung kämpfen. Für uns ist diese Entscheidung richtig gewesen.
Zusammengenommen Hunderte von Jahren Gefängnis gegen die Gefangenen aus der RAF haben
uns ebensowenig auslöschen können wie alle Versuche, die Guerilla zu zerschlagen. Wir
haben die Konfrontation gegen die Macht gewollt. Wir sind Subjekt gewesen, uns vor 27
Jahren für die RAF zu entscheiden. Wir sind Subjekt geblieben, sie heute in die
Geschichte zu entlassen.
Das Ergebnis kritisiert uns. Aber die RAF - ebenso wie die gesamte bisherige Linke -
ist nichts als ein Durchgangsstadium auf dem Weg zur Befreiung.
Nach Faschismus und Krieg hat die RAF etwas Neues in die Gesellschaft gebracht: das
Moment des Bruchs mit dem System und das historische Aufblitzen von entschiedener
Feindschaft gegen Verhältnisse, in denen Menschen strukturell unterworfen und ausgebeutet
werden und die eine Gesellschaft hervorgebracht haben, in der sich die Menschen selbst
gegeneinander stellen. Der Kampf im gesellschaftlichen Riß, den unsere Feindschaft
markierte, griff einer wirklich gesellschaftlich werdenden Befreiung nur voraus: der Riß
zwischen einem System, in dem der Profit das Subjekt, der Mensch das Objekt ist, und der
Sehnsucht nach einem Leben ohne den Lug und Trug dieser sich sinnentleerenden
Gesellschaft. Die Schnauze voll vom Buckeln, Funktionieren, Treten und Getretenwerden. Von
der Ablehnung zum Angriff, zur Befreiung.
Die RAF entstand aus der Hoffnung auf Befreiung.
Mit dem Mut im Rücken, der von den Guerillas des Südens bis in die reichen Länder
des Nordens ausstrahlte, entstand am Anfang der siebziger Jahre die RAF, um aus der
Solidarität mit den Befreiungsbewegungen einen gemeinsamen Kampf aufzunehmen. Millionen
entdeckten in den Kämpfen des Widerstands und der Befreiung rund um den Globus auch eine
Chance für sich selbst. Der bewaffnete Kampf war in vielen Teilen der Welt die Hoffnung
auf Befreiung. Auch in der BRD sind es Zehntausende gewesen, die mit dem Kampf der
militanten Organisationen des 2. Juni, der RZ, der RAF und später der Roten Zora
solidarisch waren. Die RAF entstand als Konsequenz aus den Diskussionen Tausender, die
sich in der BRD am Ende der sechziger und den beginnenden siebziger Jahren mit dem
bewaffneten Kampf als Weg zur Befreiung auseinandersetzten.
Die RAF nahm den Kampf gegen einen Staat auf, der nach der Befreiung vom Nazi-Faschismus
mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit nicht gebrochen hatte.
Der bewaffnete Kampf war die Rebellion gegen eine autoritäre Gesellschaftsform, gegen
Vereinzelung und Konkurrenz. Er war die Rebellion für eine andere soziale und kulturelle
Realität. Im Aufwind der weltweiten Befreiungsversuche war die Zeit reif für einen
entschiedenen Kampf, der die pseudonatürliche Legitimation des Systems nicht mehr
akzeptiert und dessen Überwindung ernsthaft wollte.
1975-77
Mit der Besetzung der deutschen Botschaft 1975 in Stockholm begann eine Etappe, in der
die RAF alles einsetzte, um ihre Gefangenen aus den Knästen zu befreien.
Es kam die Offensive 1977, in deren Verlauf die RAF Schleyer entführte. Die RAF stellte
die Machtfrage. Es begann ein radikaler und entschiedener Versuch, gegen die Macht eine
offensive Position für die revolutionäre Linke durchzusetzen. Der Staat wollte genau das
verhindern. Das Explosive, die Eskalation dieser Auseinandersetzung, kam aber auch aus dem
Hintergrund der deutschen Geschichte: der Kontinuität des Nazi- Nachfolgestaates, auf die
die RAF mit der Offensive traf.
Schleyer, während des Nazi-Regimes Mitglied der SS, war wie viele Nazis aller
gesellschaftlichen Ebenen, wieder in Amt und Würden gekommen. Karrieren, die von den
Nazis bis in die Regierungsämter der BRD, die Justiz, in den Polizeiapparat, in die
Bundeswehr, die Medien und in die Konzernspitze führten. Die Antisemiten, Rassisten und
Völkermörder waren nicht selten die alten Täter und neuen Mächtigen.
Schleyer arbeitete im Geflecht der Nazis und des Kapitals an der Errichtung des
europäischen Wirtschaftsraumes unter deutscher Vorherrschaft. Die Nazis wollten ein
Europa, in dem es weder Kämpfe zwischen den IndustriearbeiterInnen und dem Kapital noch
überhaupt Widerstand gegen ihr System geben sollte. Sie wollten die Aufhebung des
Klassenkampfes, in dem sie die einen, die deutsch oder "germanisierbar" und als
ArbeiterInnen nutzbar waren, in der "Volksgemeinschaft" einzubinden versuchten.
Die anderen wurden in der Zwangsarbeit versklavt oder in den Konzentrationslagern
systematisch vernichtet
. Mit der Befreiung vom Nazi-Faschismus und dem Ende der industriellen Vernichtung von
Menschen durch die Nazis kam nicht die Befreiung vom Kapitalismus. Schleyer arbeitete nach
'45 an denselben ökonomischen Zielen - in der modernisierten Form. Ein
Modernisierungsschub kam mit dem sozialdemokratischen Modell der siebziger Jahre. Als Chef
der Industrie war Schleyer immer noch im Aufbau eines Systems der Eindämmung sozialen
Widerstands gegen die Bedingungen des Kapitals - z.B. durch Aussperrung - und der
Einbindung durch tarifvertraglich ausgehandelte soziale Absicherung tätig. Und es ging
auch jetzt um die Einbindung vor allem des deutschen Teils der Gesellschaft, die das
Kapital zur verschärften Ausbeutung der ArbeitsimmigrantInnen und im Weltmaßstab zur
Beherrschung und Auspressung der Menschen im Süden befähigte, was dort massenhafte
Vernichtung durch Hunger bedeutete.
Die Kontinuität des Systems, die Schleyer verkörperte - in den siebziger Jahren während
der Periode des sozialdemokratischen Modells -, ist ein wesentliches Moment des Aufbaus
und der Entwicklung der BRD.
Der absolute Zwang zur Zustimmung zu allen Maßnahmen des Krisenstabes und die
Verfolgung jeder kritischen Stimme bis zum Versuch, den politischen Gegner auszulöschen -
das waren die gleichen Reaktionsmuster, in denen schon die Nazis handelten.
Die Aktionen der Offensive 1977 machten deutlich, daß es in der Gesellschaft Orte
gibt, die in keiner Weise vom System einzubinden und kontrollierbar sind. Nach der
Ausmerzung des Widerstandes durch die Nazis ist mit den Aktionen der Stadtguerillagruppen
nach '68 ein von der Macht nicht mehr zu integrierendes Moment des Klassenkampfes in das
postfaschistische Westdeutschland zurückgekehrt. Die Entführung Schleyers spitzte diesen
Aspekt des Kampfes wesentlich zu. Der Staat antwortete keineswegs panisch, wie es heute
oft gesagt wird. Er reagierte mit der Unterdrückung aller Äußerungen, die die
Maßnahmen des Staates im Ausnahmezustand nicht voll unterstützten. Der Staat forderte
die Unterordnung der gesamten Medien unter die Linie des Krisenstabs, woran diese sich zum
größten Teil freiwillig hielten. Allen, die sich dem nicht unterordneten, drohte die
Konfrontation mit dem System. Intellektuelle, von denen jede/r wissen konnte, daß sie
nicht mit der RAF sympathisierten, aber dem staatlich verhängten Ausnahmezustand
widersprachen, waren vor Hetze und Repression nicht mehr sicher. Die zum Teil
wehrmachtserfahrenen Mitglieder des Krisenstabs reagierten '77 im selben Muster, wie es
auch die Nazis - wenn auch in weitaus barbarischerem Ausmaß - getan hatten, um
antikapitalistische und antifaschistische Kämpfe nicht aufkommen zu lassen oder
auszumerzen. Im NS-Faschismus wie auch 1977 zielte die staatliche Politik darauf ab, in
der Gesellschaft keinen Raum mehr zwischen gehorchender Loyalität zum Staat im
Ausnahmezustand auf der einen und Repression auf der anderen Seite zu lassen.
Nachdem sich immer deutlicher zeigte, daß der Staat Schleyer fallenlassen wurde, kam
es durch die Zustimmung der RAF für die Entführung eines zivilen Flugzeugs innerhalb der
eigenen Offensive zu einer Guerilla-Aktion, die nur so verstanden werden konnte, als
würde die RAF nicht mehr zwischen oben und unten in dieser Gesellschaft unterscheiden.
Damit war im berechtigten Versuch, die Gefangenen aus der Folter zu befreien, die
sozialrevolutionäre Dimension des Kampfes nicht mehr identifizierbar. Aus dem Bruch mit
dem System und der Ablehnung der Verhältnisse in dieser Gesellschaft - was die Bedingung
für jede revolutionäre Bewegung ist - war der Bruch mit der Gesellschaft geworden.
Von den siebziger zu den achtziger Jahren
Die RAF hatte alles in die Waagschale geworfen und eine große Niederlage erlitten. Im
Kampfprozeß bis zum Ende der siebziger Jahre hatte sich herausgestellt, daß die RAF aus
dem 68er Aufbruch mit nur wenigen anderen übriggeblieben war. Viele aus der 68er Bewegung
hatten sich zurückgezogen und nutzten ihre Chancen zur Karriere im System. Die RAF hatte
als Teil der weltweiten antiimperialistischen Kämpfe den Befreiungskrieg in der
Bundesrepublik aufgenommen. 1977 zeigte sich, daß sie weder die politische noch die
militärische Kraft hatte, um die Situation auch nach der hervorgerufenen Reaktion - dem
inneren Krieg - noch bestimmen zu können. Es war berechtigt, die historische Situation am
Anfang der siebziger Jahre zu nutzen und ein neues und in der Metropole unbekanntes
Kapitel in der Auseinandersetzung zwischen Imperialismus und Befreiung aufzuschlagen. Die
Erfahrung da Niederlage von 1977 zeigte die Grenzen des alten Konzepts Stadtguerilla der
RAF auf. Es konnte nur um ein neues Befreiungskonzept gehen.
Die Frontkonzeption der achtziger Jahre war der Versuch, dies zu erreichen. Die RAF
wollte neue Verbindungen und die Grundlage für einen gemeinsamen Kampf mit radikalen
Teilen der seit Ende der siebziger Jahre entstandenen Widerstandsbewegungen schaffen. Doch
das Front-Konzept hielt im wesentlichen an den Grundzügen des alten Projektes aus den
siebziger Jahren fest. Die bewaffnete Aktion blieb das zentrale und bestimmende Moment des
gesamten als Befreiungskrieg bestimmten revolutionären Prozesses.
Die antiimperialistische Front der achtziger Jahre
Am Anfang der achtziger Jahre gab es viele Kämpfe, die sich gegen menschenfeindliche
Projekte des Systems richteten, aber auch Ausdruck der Suche nach freien Lebensformen
waren. Ein sozialer Aufbruch, der bereits im Jetzt nach dem Anfang einer anderen
gesellschaftlichen Wirklichkeit suchte.
Tausende aus den verschiedenen Bewegungen gingen in den Achtzigern gegen das auf die
Straße, was auch die RAF seit '79 angreifen wollte: die Militarisierung der Politik der
NATO-Staaten, die dem Westen "anderthalb" Kriege gleichzeitig ermöglichen
sollte - Krieg gegen die Sowjetunion und gleichzeitig die Kriegsinterventionen gegen
Befreiungsbewegungen und Revolutionen wie in Nicaragua, die einen Schritt der Befreiung
von den westlichen Diktaturen erkämpft hatten.
Die RAF ging davon aus, daß sie in dieser neuen Etappe nicht alleine bleiben würde. Das
Konzept war von der Hoffnung getragen, daß sich militante Teile der verschiedenen
Bewegungen in die gemeinsame Front stellen würden. Doch dieses Konzept enthielt keinen
Ansatz, der damit umging, daß in dieser gesellschaftlichen Situation nur die wenigsten
einen Sinn des Befreiungskampfes auf dem Niveau des Krieges sahen. Der Befreiungskampf,
dessen zentrales Moment das des Krieges ist, macht nur Sinn, wenn es eine Chance gibt,
daß Kräfte in da Gesellschaft bereit sind, ihn aufzunehmen; wenn es eine Chance gibt,
daß er sich ausweitet - und wenn es wenigstens auf den radikaleren Teil der Bewegungen
ist.
Aber selbst die, die solidarisch waren - und das waren nicht wenige -, haben den Kampf mit
dieser Vorstellung nicht aufgenommen. Der Guerillakrieg braucht die Perspektive auf die
Ausweitung auf eine neue Ebene des Kampfes. Diese für den Kampf der Guerilla
existenzielle Entwicklung haben wir nie erreichen können.
Die Vorstellung der RAF, die die bewaffnete Aktion zum Mittelpunkt des Kampfes bestimmte,
unterbewertete die politischen und gegenkulturellen Prozesse außerhalb des politisch-
militärischen Kampfes. Die Überwindung dieser strategischen Richtung, die in der
Grundstruktur nicht über das Konzept der siebziger Jahre hinauskam, wäre die
Voraussetzung für ein neues revolutionäres Projekt gewesen. Die Front konnte das neue
Befreiungsprojekt, das die Trennungen zwischen den Bewegungen und der Guerilla aufhob,
nicht sein.
Die RAF ging in den achtziger Jahren davon aus, daß der sozialrevolutionäre Ansatz im
Angriff auf die zentralen Machtstrukturen des Imperialismus enthalten sei. Mit dieser
Vorstellung wurde die Politik immer abstrakter. Es führte zur Aufspaltung von dem, was
zusammengehört: Antiimperialismus und soziale Revolution. Der sozialrevolutionäre Ansatz
verschwand aus Theorie und Praxis der RAF. Die auf die antiimperialistische Linie
beschränkte Orientierung der antiimperialistischen Front war die Konsequenz. Die RAF ist
an der sozialen Frage nicht identifizierbar gewesen. Ein Grundfehler.
Die Subsumierung jedes sozialen und politischen Inhalts unter den antiimperialistischen
Angriff gegen das "Gesamtsystem" produzierte falsche Trennungen statt einen
Prozeß der Einheit; und es führte zu einer Unidentifizierbarkeit an konkreten Fragen und
Inhalten des Kampfes.
Die Wirkung in die Gesellschaft blieb begrenzt, denn die Vorstellung durchzukommen, indem
gesellschaftliches Bewußtsein geschaffen wird und so der Konsens zwischen Staat und
Gesellschaft aufgebrochen werden kann - ein zentrales Moment jedes revolutionären
Prozesses -, verschwand zunehmend. Statt dessen versuchte die RAF, durch die Schärfe des
Angriffs das Herrschaftsgefüge des Staates zu zerrütten. Die Priorität verschob sich
zugunsten des militärischen Moments. Diese Gewichtung im Kampfprozeß blieb durch die
ganzen achtziger Jahre hindurch erhalten und prägte unseren Kampf.
Wir führten Angriffe gegen Projekte der NATO und mit anderen Guerillagruppen Westeuropas
zusammen gegen den militärisch- industriellen Komplex des Kapitals durch; es gab den
Versuch von Action Directe aus Frankreich, Brigate Rosse/PCC aus Italien und uns, eine
westeuropäische Guerillafront aufzubauen.
Die RAF konzentrierte sich darauf, die Angriffe - so weit es die Kräfte zuließen - gegen
NATO-Projekte und seit '84 gegen die Formierung der westeuropäischen Staaten zu einem
neuen Machtblock zu forcieren. Es wurde die Konzentration auf die eigene geringe Kraft und
die derjenigen Militanten, die sich eng an der RAF orientierten. Aus dem Versuch, mit
anderen Gruppen des Widerstands zusammen eine gemeinsame Front aufzubauen, wurde diese
mehr ein Korsett denn eine bereichernde Erweiterung. Die Front mußte wohl auch deshalb
wieder auseinanderbrechen, weil zu viel Energie davon aufgesogen wurde, die
"richtige" Linie zu halten. In dieser Enge konnte keine politische Dynamik
entfaltet werden. Statt eines neuen Horizonts, der sich in der Vielfalt des Widerstandes
am Anfang der achtziger Jahre noch zu eröffnen schien, schnürten Starre und Enge die
Politik im Laufe des Jahrzehnts zunehmend ein.
Es bestand eine große Diskrepanz zwischen der Bereitschaft der Militanten der RAF, in der
Konfrontation alles zu geben, und der gleichzeitigen Zaghaftigkeit, neue Ideen für den
Befreiungsprozeß zu suchen. In dieser Hinsicht wurde wenig riskiert.
In dieser Zeit - das Konzept der achtziger Jahre war wenige Jahre alt - gab es auch eine
Entwicklung auf unserer Seite, die von einer manchmal mit demonstrativ kalter Konsequenz
betriebenen Politik geprägt war, die dann tatsächlich nicht mehr war als
"Politikmachen" - zu weit entfernt von allem, was Befreiung ist.
Es war dennoch eine Zeit, in der die RAF und die Gefangenen aus der RAF durch alle Härten
und Niederlagen hindurch mit ihrer Entschiedenheit zeigten, daß sie im Gang der
Geschichte unkorrumpierbar geblieben waren und darauf bestanden, die Verhältnisse gegen
den Willen der Macht verändern zu wollen. Das machte auch anderen Hoffnung und zog viele
an, denn der Kampf um Kollektivität und Zusammenhalt stand gegen die Vereinzelung und
Einsamkeit in der Gesellschaft. Im Kampf der Gefangenen gegen die Isolation und für ihr
Zusammensein, in ihrem Kampf für Würde und Freiheit war etwas enthalten, wonach sich
auch viele andere sehnten und womit sich viele identifizieren konnten. Die Konsequenz und
Kompromißlosigkeit der RAF und der Gefangenen gegen die Macht stand gegen jeden Versuch
der Herrschenden, die Kämpfe für ein anderes Leben niederzumachen.
Wir, die wir uns zum großen Teil erst spät in der RAF organisierten, ...
... sind in der Hoffnung hierhergekommen, unseren Kampf in den sich verändernden
Bedingungen nach den weltweiten Umbrüchen neu einbringen zu können. Wir suchten nach
Veränderungen für den Befreiungskampf, nach einem neuen Weg, auf dem wir uns mit anderen
würden verbinden können. Und wir meinten, in denen etwas wiederzuerkennen, die diesen
Kampf vor uns aufgenommen hatten, gestorben sind oder in den Knästen waren. Auf uns hatte
der Kampf in der Illegalität eine große Anziehungskraft gehabt. Wir wollten unsere
Grenzen durchbrechen und frei sein von allem, was uns im System hält.
Der bewaffnete Kampf in der Illegalität war für uns nicht mehr das einzig Mögliche und
Notwendige des Befreiungsprozesses. Trotzdem wollten wir gerade angesichts der Krise der
Linken überall auf der Welt die Stadtguerilla als Möglichkeit und die Illegalität als
ein Terrain des Befreiungsprozesses weiterentwickeln. Aber wir sahen damals, daß das
allein nicht ausreichen würde. Auch die Guerilla würde sich verändern müssen.
Unsere Hoffnung war eine neue Verbindung der Guerilla und anderen Orten des Widerstands in
der Gesellschaft. Dafür suchten wir nach einem neuen Entwurf, in dem die Kämpfe von den
Stadtteilen bis zur Guerilla würden zusarnmenstehen können.
Es war uns wichtig, nach dem Zusammenbruch der DDR unseren Kampf in ein Verhältnis
zur neuentstandenen gesellschaftlichen Situation zu bringen.
Wir wollten unsere Schritte in Beziehung zu allen denen setzen, deren Träume mit dem
Ende der DDR und ihrer Übernahme in die BRD untergegangen waren. Sei es, weil sie
erkennen mußten, daß der Realsozialismus nicht wirklich Befreiung geschaffen hatte. Oder
andere, die manchmal schon zu Zeiten der DDR in Opposition zum Realsozialismus waren, und
davon geträumt hatten, etwas jenseits von Realsozialismus und Kapitalismus erreichen zu
können. Die meisten von denen, die in der DDR gelebt hatten und 1989 den Anschluß an die
BRD gefordert hatten, erahnten die neue depressive gesellschaftliche Situation, die sie
mit hervorgerufen hatten, und den massenweisen Entzug sozialer Sicherheiten damals noch
nicht. Wir wollten in dieser für alle unbekannten historischen Situation zwischen denen,
die in der Konfrontation mit dem BRD-Staat um Befreiung kämpften, und anderen, die in der
damals nicht mehr existierenden DDR mit der rassistischen und insgesamt reaktionären
Entwicklung längst unglücklich waren, einen Bezug herstellen. Wir wollten das Feld weder
der Resignation noch der Rechten überlassen.
Später sahen wir, daß der Dimension des Umbruchs nur ein neues und
internationalistisches Befreiungsprojekt gerecht werden kann, dem die neue Realität aus
0st und West zugrunde liegt. Die RAF mit der Verwurzelung allein in der
Widerstandsgeschichte der alten BRD konnte dem nicht gerecht werden.
Der Versuch, die RAF noch in den Neunzigern neu einzubinden, war ein unrealistisches
Vorhaben.
Wir wollten eine Transformation der aus der 68er Bewegung entstandenen Konzeption zu
einem neuen sozialrevolutionären und internationalisitschen Konzept der Neunziger. Es war
eine Zeit, in der wir nach Neuem suchten, aber - behaftet von den Dogmen der
vorangegangenen Jahre - nicht radikal genug über das Alte hinausgingen. Und so machten
wir den Fehler, den alle von uns nach '77 machten: wir überschätzten das Halten der
Kontinuität unserer Konzeption für den Kampf. Aber grundsätzlich besteht die Gefahr,
den bewaffneten Kampf zu diskreditieren, wenn er aufrechterhalten wird, ohne daß geklärt
ist, wie er den revolutionären Prozeß spürbar voranbringt und zur Stärkung des
Befreiungskampfes führt. Damit verantwortlich umzugehen, ist wichtig, denn sonst ist der
bewaffnete Kampf nachhaltig diskreditiert - auch für eine andere Situation, in der er
wieder gebraucht wird.
Die Krise, in der die Linke der achtziger Jahre an ihre Grenzen kam und sich bereits in
Auflösung befand, machte unseren Versuch, die RAF in ein neues Projekt einzubinden, zu
einer unrealistischen Sache. Wir waren viel zu spät - auch dafür, um die RAF nach einem
Prozeß der Reflektion zu transformieren. Kritik und Selbstkritik haben ja nicht das Ziel,
etwas zu beenden, sondern etwas weiterzuentwickeln. Das Ende der RAF ist letztlich keine
Folge unseres Prozesses der (Selbst-)Kritik und Reflexion, sondern es ist notwendig, weil
die Konzeption der RAF nicht das enthält, woraus jetzt etwas Neues entstehen kann.
Wenn wir diesen Abschnitt unserer Geschichte heute in den gesamten historischen Prozeß
einordnen, dann ist aus diesem Versuch, die RAF wieder in einen stärkeren politischen
Prozeß zurückzubringen, in erster Linie die Verlängerung von etwas geworden, was sich
längst die Perspektive eines abgeschlossenen Projektes verdient hatte. Wir mußten
erkennen, daß aus dem alten Aufbruch vor allem die Kampfform geblieben war. Ein neuer
Sinn, der eine Perspektive jenseits von Arbeitsgesellschaft und menschenfeindlicher,
profitorientierter Ökonomie eröffnet, der dann die Grundlage des Befreiungskampfes der
Zukunft sein kann und viele wird zusammenbringen können, existierte faßbar noch nicht.
Nach unserer Niederlage von 1993 wußten wir, daß wir nicht alles einfach genauso
weitermachen können, wie wir es mit dem Einschnitt in unserem Kampf 1992 begonnen hatten.
Wir waren uns sicher, daß wir unsere Ziele richtig bestimmt, jedoch schwere taktische
Fehler gemacht hatten. Wir wollten noch einmal mit denen, die noch in den Knästen waren,
alles zusammen durchdenken und gemeinsam eine neue Etappe beginnen.
Doch am Ende zeigte sich in der für uns schmerzlichen Spaltung eines Teils der Gefangenen
von uns, in der wir zu Feinden erklärt waren, daß die Entstehungsbedingungen der RAF -
Solidarität und Kampf um Kollektivität - bereits vollständig verraucht waren.
Unser Prozeß der eigenen Befreiung ...
... ist uns wichtig gewesen und dennoch immer wieder stagniert. Wir wollten
Kollektivität genauso wie die gemeinsame Überwindung jeglicher Entfremdung. Aber der
Widerspruch zwischen Krieg und Befreiung ist bei uns oft verdrängt und weggeredet worden.
Auch der revolutionäre Krieg produziert Entfremdungen und Autoritätsstrukturen, was
Befreiung widerspricht. Damit umzugehen, so daß es sich nicht als Struktur festsetzt, ist
nur möglich, wenn es ein Bewußtsein darüber gibt. Ansonsten verselbständigen sich neue
Autoritätstrukturen und Verhärtungen - sowohl in der Politik als auch in den
Verhältnissen. Das zeigte sich unter anderem in den oft wechselseitig hierarchischen
Strukturen der Front der achtziger Jahre und in den autoritären Zügen der Spaltung des
Jahres '93. Und es zeigt sich in der Rückkehr zur Verbürgerlichung der Wahrnehmung und
des Denkens, was in der Geschichte der RAF dahin führte, daß zu viele, die hier
kämpften, die Berechtigung des gesamten Aufbruchs nicht mehr sehen können.
Es war ein strategischer Fehler, neben der illegalen, bewaffneten keine
politisch-soziale Organisation aufzubauen.
In keiner Phase unserer Geschichte ist eine über den politisch-militärischen Kampf
hinausgehende politische Organisierung verwirklicht worden. Das Konzept der RAF kannte
letztlich nur den bewaffneten Kampf - mit dem politisch- militärischen Angriff im
Zentrum.
In den grundlegenden Erklärungen der RAF bis Mitte der siebziger Jahre war diese wichtige
Frage noch nicht geklärt, was kaum anders hätte sein können. Es gab in der Metropole
kaum und in der BRD überhaupt keine Erfahrungen mit der Stadtguerilla. Es war notwendig,
vieles erst herauszufinden und sich praktisch als richtig oder falsch erweisen zu lassen.
Trotzdem gab es eine Richtung an der entscheidenden Frage, ob das Befreiungsprojekt von
einer illegalen Organisation für den bewaffneten Kampf ausgefüllt werden kann - oder
aber ob der Aufbau der Guerilla Hand in Hand gehen muß mit dem Aufbau von politischen
Strukturen, die in Basisprozessen wachsen können. Unsere gefangenen GenossInnen schrieben
dazu im Januar 1976, daß der bewaffnete Kampf aus der Illegalität die einzige
Möglichkeit zu praktisch-kritischer Tätigkeit im Imperialismus sei.
Auch das Konzept vom Mai 1982 hielt trotz aller Widersprüchlichkeiten und obwohl es ein
Versuch war, einen neuen politischen Zusammenhang mit anderen zu finden, an dieser
fehlerhaften Vorstellung fest. Denn auch dieses Konzept brach nicht mit der Zentralität
des bewaffneten Kampfes in der Metropole. Die politischen Aktivitäten, die aus dem
Frontprozeß kamen, erstreckten sich meist auf die Vermittlung des Angriffs innerhalb der
Strukturen der radikalen Linken.
Das Ausbleiben einer politischen Organisierung über mehr als zwanzig Jahre hinweg hatte
zu jeder Zeit einen insgesamt schwachen politischen Prozeß zum Ergebnis. Die
Überschätzung der Wirkung politisch- militärischer Aktionen in der Metropole der
letzten Jahrzehnte ist für dieses Konzept Voraussetzung gewesen. Die RAF setzte ihre
Strategie des bewaffneten Kampfes in den verschiedenen Phasen unterschiedlich um und kam
dabei zu keinem Zeitpunkt in das Stadium, in dem der militante Angriff dahinkommt, wo er
hingehört: zur taktischen Option einer umfassenden Befreiungsstrategie.
Diese Schwäche hat auch dazu beigetragen, daß unsere Organisation am Ende der über mehr
als zwei Jahrzehnte langen Etappe nicht mehr transformiert werden konnte. Die
Voraussetzungen, um den Schwerpunkt des Kampfes auf die politische Ebene zu heben - wie
wir es 1992 wollten - waren nicht vorhanden. Aber das war letztlich auch nur eine Folge
des zugrunde liegenden strategischen Fehlers.
Die ausbleibende politisch-soziale Organisierung ist ein entscheidender Fehler der RAF
gewesen. Es ist nicht der einzige, aber ein wichtiger Grund, weshalb die RAF kein
stärkeres Befreiungsprojekt aufbauen konnte, und letztlich die entscheidende
Voraussetzung fehlte, im Aufbau einer nach Befreiung suchenden und kämpfenden
Gegenbewegung einen stärkeren Einfluß auf die gesellschaftliche Entwicklung zu nehmen.
Fehler des Konzepts wie dieser, der die RAF in ihrer gesamten Zeit begleitete, zeigen,
daß das Konzept der RAF in den Befreiungsprozessen der Zukunft keine Gültigkeit mehr
haben kann.
Das Ende der RAF fällt in eine Zeit, in der die ganze Welt mit den Folgen des
Neoliberalismus konfrontiert ist. Der internationale Kampf gegen Vertreibung, gegen
Ausgrenzung und für eine gerechte und gmndsätzlich andere soziale Realität steht gegen
die gesamte Entwicklung des Kapitalismus.
Die globalen und innergesellschaftlichen Verhältnisse verschärfen sich in der
Turbulenz der historischen Entwicklung nach dem Ende des Realsozialismus immer weiter.
Trotzdem besteht kein Widerspruch, unser Projekt zu beenden und weiterhin die
Notwendigkeit zu sehen, daß alles getan werden muß, was sinnvoll und möglich ist, damit
eine Welt jenseits des Kapitalismus entstehen kann, in der die Emanzipation der Menschheit
Wirklichkeit werden kann. Angesichts der verheerenden Folgen des Zusammenbruchs des
Realsozialismus weltweit und der Massenverarmung für Millionen Menschen in der ehemaligen
Sowjetunion ist es zu wenig, heute allein von Chancen zu reden, die sich aus dem Ende des
Realsozialismus ergeben. Trotzdem sehen wir, daß wirkliche Befreiung im
realsozialistischen Modell nicht möglich war. Aus den antiemanzipatorischen Erfahrungen
mit den autoritären und staatsbürokratischen Konzepten des Realsozialismus sind die
Konsequenzen für die zukünftigen Wege der Befreiung noch zu ziehen.
Mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus ist die Systemkonkurrenz weggefallen, womit für
die Akteure des kapitalistischen Systems auch die Notwendigkeit entfallen ist, ihr System
als das "bessere" erscheinen zu lassen. Mit dem Wegfall dieses ideologischen
Kapitalhemmnisses ist ein Prozeß der globalen Entfesselung des Kapitals eingetreten: die
ganze Menschheit soll den Kapitalbedürfnissen unterworfen werden. Der Neoliberalismus ist
die ideologische und ökonomische Grundlage für einen weltweiten Optimierungsschub der
Verwertung von Mensch und Natur für das Kapital. Die Systemvertreter nennen das
"Reformschub" oder "Modernisierung".
Es ist mehr als deutlich, daß die gegenwärtige Entwicklungsstufe des Systems für den
überwältigenden Teil der Menschheit weitere soziale und existenzielle Härten bringt.
Für die Mehrheit auf der Welt bedeutet Neoliberalismus eine neue Dimension der Bedrohung
ihres Lebens.
Im Kampf um politische Hegemonie und ökonomische Macht halten nur die Ökonomien mit,
deren Kapazitäten zunehmend zugunsten des blanken Profits der Konzerne und eines immer
kleiner werdenden Teils der Gesellschaft aufgebracht werden. Die Rückwirkungen dieses
Systemlaufs führen zu tiefgreifenden Veränderungen innerhalb der Gesellschaften. Und
dazu, daß die zunehmende Verarmung und die daraus kommende Brutalisierung eine weitere
Entfesselung von Krieg und Barbarei hervorbringen. Wenn es ihre ökonomischen und
politischen Interessen berührt, werden die reichen Staaten jederzeit in solche Konflikte
ihrerseits mit Krieg eingreifen, um weiterhin den "uneingeschränkten Zugriff auf die
Rohstoffe" der Erde sicherzustellen und um ihren Machtanspruch durchzusetzen. Ihnen
wird es nie um tatsächliche Lösungen für die Menschen gehen, sondern nur darum, die
Zerstörung, die ihr System in Gang setzt, zu kontrollieren und Profite für wenige daraus
abzuschöpfen.
Es ist kein Widerspruch, sondern entspricht vollkommen der Logik des Systems, daß wir in
dieser Phase überall auf derWelt die Krisen der politischen Systeme und das
Auseinanderbrechen der Gesellschaften bis hin zur Verarmung größerer Teile der bislang
weitgehend von materiellem Elend verschont gebliebenen Metropolenmassen erleben und
gleichzeitig die transnationalen Konzerne mächtiger sind denn je und größere Gewinne
abzocken als jemals zuvor.
Paradoxerweise scheint die erfolgreiche Gewinnmaximierung des Kapitals mit dem dadurch
hervorgerufenen Zerfallsprozeß der Gesellschaften den Kapitalismus an seine Grenzen zu
treiben. Mit dieser Entwicklung droht zunächst vor allem ein weiteres Voranschreiten der
Barbarei. Aus der Eigendynamik der Systementwicklung wird sich dieser negative Prozeß
immer weiter fortsetzen, bis es eine Befreiungsvorstellung gibt, aus der neue Kraft für
die Überwindung des Systems entsteht. Aber auch heute gibt es nicht nur die Niederlagen
der historischen Linken und die Gewalt der weltgesellschaftlichen Verhältnisse, sondern
auch die Lunte der aufständischen Bewegungen, die von der Erfahrung der weltweiten
Widerstandsgeschichte ausgehen können.
In dieser globalen Entwicklung setzt der Kapitalismus auch in den Metropolen immer weniger
auf die Möglichkeit, sich dort die weitgehende Ruhe mit "Sozialstaatssystemen"
zu erkaufen. Statt dessen werden immer größere Teile der Gesellschaft ausgegrenzt, die
im Produktionsprozeß nicht mehr benötigt werden. "Weltmacht" und
"Sozialstaat" passen nicht mehr unter einen Hut. An die Stelle der alten
"Sozialstaaten" wird beispielsweise in Europa unter der politischen und
ökonomischen Hegomonie der BRD und mit der BRD als rassistischem Frontstaat ein ganzer
Kontinent zum Polizeistaat gemacht.
Polizei und Militär gegen die dem Elend, Krieg und Unterdrückung Entfliehenden.
Abschiebungen in Krieg und Folter. Eine Gesellschaft voller Knäste. Rausschmiß aus den
Konsumzentren von Obdachlosen, Jugendlichen und allen, die der Biederkeit von Stammtisch
und Bourgeoisie widersprechen, durch Polizei und Sicherheitsdienste. Die Wiedereinführung
geschlossener Heime als Kinderknäste. Der Versuch der totalen Kontrolle von Flüchtlingen
durch Chipcards in naher und anderer sozialer Gruppen in weiterer Zukunft. Knüppel und
Gewehr gegen die abzusehenden Revolten der an den Rand Gedrängten. Ausgrenzung,
Verfolgung und Vertreibung. Und selbst die totale Bemächtigung des Menschen durch seine
gentechnologische Produktion kann nicht mehr ausgeschlossen werden.
Auch Ausgrenzung und Verfolgung durch die soziale Abstumpfung innerhalb der Gesellschaft
ist hier und anderswo alltäglich. Rassismus von unten bedroht das Leben von Millionen,
was in Deutschland die mörderische Markanz der historischen Kontinuitat dieser
Gesellschaft in sich trägt. Ausgrenzung von Behinderten von oben und Aggression gegen sie
von unten zeigen eine Gesellschaft in ihrer alltäglichen Brutalität. Nur der Effizenz
des ökonomischen Systems nicht widersprechende Menschen sind gewollt und alles, was
kapitalisierbar ist. Etwas anderes, was jenseits der kapitalistischen Gesellschaft liegt,
soll keinen Platz haben. Die vielen, die hier nicht mehr leben können und es nicht mehr
wollen - und es sind viele, die ihrem Leben selbst ein Ende setzen -, sprechen Tag für
Tag von der Sinnleere im System und der Härte in der Gesellschaft.
Die Vermarktung des Menschen und die Gewalt in den Wohnstuben der Gesellschaft, auf ihren
Straßen, ist die Gewalt der Unterdrückung, ist die soziale Kälte gegen den Anderen, die
Andere, es ist die Gewalt gegen Frauen - das alles ist Ausdruck patriarchaler und
rassistischer Verhältnisse.
Die RAF stand immer im Widerspruch zu den Bewußtseinsmentalitäten eines Großteils
dieser Gesellschaft. Das ist ein notwendiges Moment des Befreiungsprozesses, denn nicht
nur die Verhältnisse sind reaktionär, sondern die Verhältnisse produzieren das
Reaktionäre in den Menschen, das ihre Fähigkeit zur Befreiung immer wieder neu
unterdrückt. Ohne Zweifel ist es existenziell, Rassismus und jeglicher Form von
Unterdrückung entschieden entgegenzutreten und sie zu bekämpfen. Befreiungsentwürfe der
Zukunft werden sich aber auch daran messen lassen müssen, einen Schlüssel zu dem
reaktionär eingeschlossenen Bewußtsein zu finden und das Bedürfnis nach Emanzipation
und Befreiung zu wecken.
Die Realität der Welt zeigt heute, daß es besser gewesen wäre, der weltweite
Aufbruch, aus dem auch die RAF kam, wäre durchgekommen.
Der weltweite Aufbruch, aus dem auch die RAF kam, ist nicht durchgekommen, was
bedeutet, daß die zerstörerische und ungerechte Entwicklung bis jetzt noch nicht
umgedreht werden konnte.
Schwerer als Fehler, die wir gemacht haben, wiegt für uns, daß wir noch keine
ausreichenden Antworten auf diese Entwicklung sehen. Die RAF kommt aus dem Aufbruch der
letzten Jahrzehnte, der die Entwicklung des Systems zwar nicht genau hat vorhersagen
können, doch die Bedrohung, die in ihr liegt, erahnt hat. Wir wußten, daß dieses System
weltweit immer weniger Menschen eine Möglichkeit für ein Leben in Würde lassen wird.
Und wir wußten, daß dieses System den totalen Zugriff auf die Menschen will, so daß
diese sich den Werten des Systems selbst unterwerfen und sie zu den eigenen machen. Aus
dieser Ahnung kam unsere Radikalität. Für uns gab es mit diesem System nichts zu
verlieren. Unser Kampf - die Gewalt, mit der wir uns gegen die Verhältnisse stellten -
hat eine schwierige, eine schwerwiegende Seite. Auch der Befreiungskrieg hat seine
Schatten. Menschen in ihrer Funktion für das System anzugreifen, ist für alle
Revolutionäre auf der Welt ein Widerspruch zu ihrem Denken und Fühlen - zu ihrer
Vorstellung von Befreiung. Auch wenn es im Befreiungsprozeß Phasen gibt, in denen das als
etwas Notwendiges gesehen wird, weil es diejenigen gibt, die die Ungerechtigkeit und die
Unterdrückung wollen und die Macht, die sie oder andere haben, verteidigen.
Revolutionäre sehnen sich nach einer Welt, in der niemand darüber entscheidet, wer ein
Recht auf Leben und wer es nicht hat. Trotzdem hat die Aufregung über unsere Gewalt auch
irrationale Züge. Denn der tatsächlich Terror besteht im Normalzustand des ökonomischen
Systems.
Die RAF ist die Antwort für die Befreiung noch nicht gewesen - vielleicht ein Aspekt
von ihr.
Auch wenn heute noch so viele Fragen offen sind, sind wir uns sicher, daß aus der
Befreiungsidee der Zukunft nur dann der Kern freier Verhältnisse entstehen kann, wenn sie
die tatsächliche Vielfalt in sich trägt, an denen die Verhältnisse umgeworfen werden
müssen. "Die richtige Linie", die Aspekte des Lebens außer acht läßt, weil
sie dafür nicht effizient zu sein scheinen, ist ebenso unbrauchbar wie die Suche nach d e
m revolutionären Subjekt. Das Befreiungsprojekt der Zukunft kennt viele Subjekte und eine
Vielfalt von Aspekten und Inhalten, was mit Beliebigkeit nichts zu tun haben muß. Wir
brauchen eine neue Vorstellung, in der die vielleicht unterschiedlichsten einzelnen oder
soziale Gruppen Subjekte sein können, und die sie trotzdem zusammenbringt. Insofern kann
das Befreiungsprojekt der Zukunft in keinem der alten Konzepte der BRD-Linken seit '68 -
weder in dem der RAF noch in anderen - gefunden werden. Die Freude, ein umfassendes, ein
antiautoritäres und dennoch verbindlich organisiertes Projekt der Befreiung aufzubauen,
liegt noch unverbraucht und vor allem noch wenig versucht vor uns. Wir sehen, daß es auch
in diesem Teil der Welt überall diejenigen gibt, die versuchen, Wege aus der Sackgasse zu
finden.
Uns machen auch die Hoffnung, die überall bis in die abgelegensten Winkel dieses Landes -
wo die kulturelle Hegemonie der faschistischen Rechten heute keine Seltenheit ist - den
Mut haben, sich gegen Rassismus und Neonazis zusammenzutun, sich und andere zu verteidigen
und kämpfen.
Es ist notwendig zu sehen, daß wir uns in einer Sackgasse befinden, um Wege aus ihr
heraus zu finden. Da kann es auch völlig richtig sein, etwas, was man theoretisch auch
weiterführen könnte, loszulassen.
Unsere Entscheidung, etwas zu beenden, ist Ausdruck der Suche nach neuen Antworten. Wir
wissen, daß uns diese Suche mit vielen auf der ganzen Welt verbindet.
Es wird noch viele Diskussionen geben, bis alle Erfahrungen zusammen ein realistisches und
reflektiertes Bild der Geschichte ergeben.
Wir wollen Teil der gemeinsamen Befreiung sein. Wir wollen an unseren eigenen Prozessen
etwas wiedererkennbar machen und von anderen lernen.
Auch das schließt alte Konzeptionen von Avantgarden, die die Kämpfe führen, aus. Wenn
auch "Avantgarde" seit vielen Jahren nichts mehr mit unserem Verständnis vom
Kampf zu tun hatte, so läßt die alte Konzeption der RAF die tatsächliche Aufhebung
davon nicht zu. Auch deswegen können wir dieses Konzept loslassen.
Die Guerillas der Metropolen haben den Krieg, den die imperialistischen Staaten
außerhalb der Zentren der Macht fiihren, in das Herz der Bestie zurückgetragen.
Trotz allem, was wir besser anders gemacht hätten, ist es grundsätzlich richtig
gewesen, sich gegen die Verhältnisse in der BRD zu stellen und zu versuchen, die
Kontinuitäten der deutschen Geschichte mit Widerstand zu durchkreuzen. Wir wollten dem
revolutionären Kampf auch in der Metropole eine Chance eröffnen.
Die RAF hat auf einem gesellschaftlichen Terrain den Kampf aufgenommen und mehr als zwei
Jahrzehnte zu entwickeln versucht, das historisch von wenig Widerstand und dem Ausbleiben
einer Bewegung gegen den Faschismus, dafür um so mehr von einer zu Faschismus und
Barbarei loyalen Bevölkerung geprägt war. Die Befreiung vom Faschismus mußte anders als
in anderen Ländern von außen kommen. Einen selbstbestimmten Bruch "von unten"
mit dem Faschismus gab es hier nicht. Es sind in diesem Land wenige gewesen, die sich
gegen den Faschismus stellten; zu wenige, die die Spur der Menschlichkeit legten. Sie, die
im jüdischen, im kommunistischen - und in welchem antifaschistischen Widerstand auch
immer - kämpften, sind uns wichtig gewesen. Und das werden sie immer sein. Sie waren die
wenigen Lichtblicke in der Geschichte dieses Landes, seitdem der Faschismus '33 begonnen
hatte, alles Soziale in dieser Gesellschaft abzutöten.
Im Gegensatz zu ihnen hat der Trend dieser Gesellschaft so gut wie immer akzeptiert, was
die Mächtigen sagen; die Autorität bestimmt, was legitim ist. In der sozialen
Zerstörung dieser Gesellschaft, die eine Voraussetzung für den Völkermord der Nazis
war, ist bis heute die Gleichgültigkeit gegen den/die andere/n ein wesentliches Moment.
Die RAF hat nach dem Nazi-Faschismus mit diesen deutschen Traditionen gebrochen und ihnen
jegliche Zustimmung entzogen. Sie kam aus dem Aufbruch dagegen. Sie hat nicht nur diese
nationalen und gesellschaftlichen Kontinuitäten abgelehnt, sondern an die Stelle dieser
Negation einen internationalistischen Kampf gesetzt, dessen Praxis den deutschen Staat und
die Herrschaftsverhältnisse in der Bundesrepublik ebenso ablehnte und angriff wie auch
Militärstrukturen ihrer NATO- Verbündeten. Überall auf der Welt versuchte dieses
Bündnis, in dessen Hierarchie der US-Staat die treibende Kraft und die unangefochtene
Führung war, die sozialen Rebellionen und die Befreiungsbewegungen mit Militärs und
Krieg niederzuschlagen. Die Guerillas der Metropolen haben den Krieg, den sie außerhalb
der Zentren der Macht führten, in das Herz der Bestie zurückgetragen.
Wir haben gewalttätige Verhältnisse mit der Gewalt der Revolte beantwortet.
Es ist uns nicht möglich, auf eine glatte und fehlerlose Geschichte zurückzublicken.
Aber wir haben etwas versucht und dabei viele von den Herrschenden gesetzte und von der
bürgerlichen Gesellschaft verinnerlichten Grenzen überschritten.
Die RAF konnte keinen Weg zur Befreiung aufzeigen. Aber sie hat mehr als zwei Jahrzehnte
dazu beigetragen, daß es den Gedanken an Befreiung heute gibt. Die Systemfrage zu
stellen, war und ist legitim, solange es Herrschaft und Unterdrückung anstelle von
Freiheit, Emanzipation und Würde für alle auf der Welt gibt.
Aus dem Kampf der RAF sind immer noch neun frühere Militante im Gefängnis. Wenn auch
der Kampf um Befreiung noch lange nicht vorbei ist, so ist diese Auseinandersetzung
historisch geworden. Wir unterstützen alle Bemühungen, die dazu führen, daß die
Gefangenen aus dieser Auseinandersetzung aufrecht aus dem Knast rauskommen.
Wir möchten in diesem Moment unserer Geschichte alle grüßen und ihnen danken, von
denen wir auf dem Weg der letzten 28 Jahre Solidarität bekommen haben, die uns in
verschiedenster Weise unterstützt haben und die von ihrer Grundlage aus mit uns zusammen
gekämpft haben. Die RAF hat entschieden zum Kampf um Befreiung beitragen wollen. Diese
revolutionäre Intervention in diesem Land und in dieser Geschichte hätte es nie geben
können, wenn nicht viele, die sich nicht selbst in der RAF organisierten, etwas von sich
in diesen Kampf gegeben hätten. Hinter uns allen liegt ein gemeinsamer Weg. Wir wünschen
uns, daß wir uns alle auf den unbekannten und verschlungenen Pfaden der Befreiung
zusammen mit vielen anderen wiederfinden.
Wir denken an alle, die überall auf der Welt im Kampf gegen Herrschaft und für
Befreiung gestorben sind. Die Ziele, für die sie sich einsetzten, sind die Ziele von
heute und morgen - bis alle Verhältnisse umgeworfen sind, in denen der Mensch ein
erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist. Ihr Tod ist
schmerzlich, aber niemals umsonst. Sie leben in den Kämpfen und der Befreiung der Zukunft
weiter.
Wir werden die GenossInnen der palästinensischen Befreiungsfront PFLP nie vergessen,
die im Herbst 1977 in internationaler Solidarität beim Versuch, die politischen
Gefangenen zu befreien, ihr Leben ließen. Wir wollen heute besonders an alle erinnern,
die sich hier dafür entschieden, im bewaffneten Kampf alles zu geben und in ihm gestorben
sind.
Unsere Erinnerung und unsere ganze Achtung gilt denen, deren Namen wir nicht nennen
können, weil wir sie nicht kennen,
und
Petra Schelm
Georg von Rauch
Thomas Weißbecker
Holger Meins
Katharina Hammerschmidt
Ulrich Wessel
Siegfried Hausner
Werner Sauber
Brigitte Kuhlmann
Wilfried Böse
Ulrike Meinhof
Jan-Carl Raspe
Gudrun Ensslin
Andreas Baader
Ingrid Schubert
Willi-Peter Stoll
Michael Knoll
Elisabeth van Dyck
Juliane Plambeck
Wolfgang Beer
Sigurd Debus
Johannes Timme
Jürgen Peemöller
Ina Siepmann
Gerd Albartus
Wolfgang Grams
Die Revolution sagt:
ich war
ich bin
ich werde sein
Rote Armee Fraktion
März 1998
Quelle: http://www.taz.de/~taz/spezial/raf/raf.html |