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1998

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Dies & das

aus:  ak 414 vom 7.5.1998

Neue Arbeit braucht das Land!
Zum neuen Boom der Ehrenamtlichkeit

Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst der Arbeitslosig-
keit. Postmoderne Soziologen und PolitikerInnen fürchten dabei
nicht so sehr die damit verbundene Verarmung, sondern den dro-
henden Zerfall der "Arbeitsgesellschaft". Doch die innovativen
Ghost Busters haben bereits neue Wunderwaffen parat, mit denen
individuellen Sinnkrisen und dem Verlust gesellschaftlicher
Solidarzusammenhänge zu Leibe gerückt werden soll: "gemeinnüt-
zige Arbeit", "ehrenamtliche Arbeit", "Arbeit für das Gemein-
wesen" oder - so die jüngsten Kreationen des Münchner Soziolo-
gen Ulrich Beck - "Bürgerarbeit" und "öffentliche Arbeit".

Von Beck bis zum grünen Stadtentwicklungssenator Willfried
Maier in Hamburg, von der Bremer "Querdenkerin" Sibylle Tön-
nies bis zum Club of Rome, der Ausgangspunkt ist immer dersel-
be: Arbeitslosigkeit ist in erster Linie eine gesellschaftli-
che und individuelle "Krankheit". Sie löst den "Zusammenhang
zwischen Kapitalismus und politischer Demokratie" auf (Beck),
führt zum Verlust von "Gemeinschaftlichkeit und Bürgersinn"
(Maier) und ist für die Individuen ein "pathologischer Zu-
stand" (Tönnies). Der Therapievorschlag gegen die "Krise der
Arbeitsgesellschaft" ist simpel und folgerichtig: mehr Arbeit.
Jenseits von Staat und Markt, im "Dritten Sektor" (so der US-
amerikanische Wirtschaftsjournalist Jeremy Rifkin), sollen
nützliche Dinge und Dienstleistungen für das "Gemeinwesen" und
für die individuelle Sinnfindung und "Wiedergewinnung der Wür-
de" (Tönnies) hergestellt werden. Ulrich Beck sieht dabei in
den neuen "Gemeinwohl-ArbeiterInnen" den Prototyp für einen
neuen "solidarischen Individualismus", und der Grüne Willfried
Maier erkennt gar "Elemente des Kommunismus", wenn Bürgerinnen
und Bürger in freiwilligem Engagement das Gemeinwesen täglich
neu herstellen. Dabei soll es sich erklärtermaßen um Arbeit
"jenseits der Lohnarbeit" handeln. "Richtige Arbeit" ja, aber
nicht über einen Arbeitsmarkt vermittelt. Nach Ulrich Beck
soll die "Bürgerarbeit" zwar be-, aber nicht entlohnt werden.
"Bezahlte Arbeit ist in unserer Gesellschaft zu einem Wert an
sich geworden", beschwert er sich gegenüber der TAZ. Konse-
quenterweise soll daher auch unbezahlte Arbeit die Weihen
"richtiger Arbeit" erhalten. Statt eines ordentlichen Lohns
gibt es eine Grundsicherung zum Sozialhilfesatz plus ideelle
Anerkennungen. Ansonsten aber soll die Arbeitskraft strikt eh-
renamtlich verausgabt werden. Eine Konstruktion, der selbst
bürgerliche Ökonomen nicht unbedingt folgen wollen. Das Deut-
sche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) merkt zurecht an,
daß man sich entscheiden müsse: Entweder ist "Bürgerarbeit"
Arbeit oder nicht. Wenn ja, müsse man sie auch "mit einem nor-
malen Lohn vergüten". Anderenfalls würde sie lediglich einen
neuen Billig-Lohn-Sektor eröffnen (TAZ, 28./29.3.1998).

Schlanker Staat durch Bürgerarbeit

Was dieser "Dritte Sektor" oder "Gemeinnützigkeitssektor" im
einzelnen umfaßt, bleibt meistens diffus. Er kann vom gesamten
Bereich der frei-gemeinnützigen Wohlfahrt über Selbsthilfein-
itiativen und gemeinnützige Arbeit unter staatlicher Regie
(von ABM bis Arbeit für SozialhilfeempfängerInnen) bis hin zu
Tauschringen, Nachbarschaftshilfe und allen Formen der Schat-
tenökonomie reichen. Die Erosion des "Normalarbeitsverhältnis-
ses", staatliche Arbeitsmarktpolitik und der Rückzug des Staa-
tes aus den sozialen und öffentlichen Dienstleistungen haben
in der Bundesrepublik bereits in erheblichem Umfang einen
"Dritten Sektor" hervorgebracht. Nach Schätzungen des DIW ist
jedeR dritte Erwachsene ehrenamtlich tätig. Hundertausende So-
zialhilfeempfängerInnen leisten "gemeinnützige Arbeit", und
ebenfalls mehrere hunderttausend Erwerbslose stecken in ABM-
und anderen Maßnahmen der Sozial- und Arbeitsämter, in denen
sie "zusätzliche" Arbeiten im "öffentlichen Interesse" ver-
richten. Aus den unterschiedlichen sozialen Protestbewegungen
ist eine Nischen- und Überlebensökonomie entstanden; aus
HausbesetzerInnen wurden alternative Planungsbüros, aus
Erwerbsloseninis Beschäftigungsträger. Und nicht zuletzt
schätzt das Bundesministerium für Arbeit (BMA), daß der Be-
reich der Schwarzarbeit allein mehrere hunderttausend Putz-,
Pflege- und Babysittingjobs beinhaltet. Trotz seiner quantita-
tiven Bedeutung ist es diesem "Dritten Sektor" bisher offen-
sichtlich weder gelungen, die Erwerbslosigkeit zu beseitigen,
noch neue Formen von Gesellschaftlichkeit zu produzieren.
    "Bürgerarbeit" will erklärtermaßen auf eine keynesia-
nisch-sozialstaatliche Organisation gesamtgesellschaftlicher
Verantwortung verzichten. Der Rückzug des Staates aus sozialen
und öffentlichen Dienstleistungen wird ausdrücklich begrüßt.
Bereits der Bericht der "Zukunftskommission der Freistaaten
Sachsen und Bayern", in der Ulrich Beck zusammen mit dem kon-
servativen Chefideologen Meinard Miegel tätig war, fordert
nachdrücklich die Zurücknahme staatlicher Aktivitäten. Und in
dem erwähnten TAZ-Interview heißt es ebenfalls unmißverständ-
lich: "Tätigkeiten, die bisher staatlich organisiert waren,
sollen mit stärkerer Eigeninitiative von Bürgern wahrgenommen
werden", und zwar "Aufgaben in zentralen gesellschaftlichen
Bereichen". Auch Willfried Maier verspricht: "Gemeinwesenar-
beit verbilligt und verschlankt den Staat." Angesichts knapper
staatlicher Mittel müssen "liegengebliebene Arbeiten" eben in
Gemeinwesenarbeit erledigt werden. Die Logik ist bestechend:
Die arbeitslosen ErzieherInnen, LehrerInnen oder Altenpflege-
rInnen arbeiten eben ehrenamtlich, unentgeltlich und ohne Ta-
rifrechte in den Kita's, Schulen und Pflegeeinrichtungen, aus
denen sie vorher rausgeflogen sind oder in die sie gar nicht
erst übernommen wurden. Oder noch besser: Es werden erst gar
keine Kita's, Abenteuerspielplätze u.ä. eingerichtet, sondern
die (arbeitslosen) Eltern organisieren diese in eigener Regie.
"Bürgerarbeit" ist somit eine Variante der Auslagerung -
i.d.R. staatlich organisierter - öffentlicher Aufgaben in
einen völlig deregulierten Null-Lohn-Sektor.

"Bürgerinitiativen neuen Typs"

Während für Beck der "Gemeinwohl-Unternehmer" als "Mischung
von Bill Gates und Mutter Teresa" zur zentralen Figur der
"Bürgerarbeit" wird, träumt Willfried Maier als Grüner mit Be-
wegungserfahrung von "Bürgerinitiativen neuen Typs". Ihm
schweben Initiativen vor, die nicht mehr gesellschaftliche
Mißstände skandalisieren (Anti-AKW-Inis), in "gewerkschaftli-
cher Orientierung" Forderungen an den Staat stellen oder gar
diese Gesellschaft kritisieren und überwinden wollen, sondern
die als reine Selbsthilfeinitiativen die "liegengebliebenen
Arbeiten" erledigen, ohne staatliche Fördermittel zu beanspru-
chen. Ja, die in "kreativer Eigeninitiative" Kindergärten,
Schulen, Wohnraum, Gesundheitsversorgung und Pflege sogar bil-
liger produzieren können.
    Öffentliche Dienstleistungen sind prinzipiell allen zu-
gänglich. Ihre Regelungen beruhen auf transparenten und gere-
gelten Verfahren und haben oft genug einen einklagbaren An-
spruchscharakter. Dieter Emig beschreibt in der AKP 4/1997
sehr nachdrücklich, wie die Verlagerung auf "Bürgerarbeit"
hier zu einer Privatisierung der besonderen Art führen kann.
Denn jetzt ist nicht mehr geklärt, wer diese in "Bürgerarbeit"
erstellten Dienstleistungen nutzen darf. Was ist mit denjeni-
gen, die sich nicht so sehr engagiert haben, z.B. beim Bau
oder Umbau eines Kindergartens in Eigenregie nicht mitgemacht
haben? Ist es dann Zufall, wenn deren Kinder auf der Warteli-
ste immer überrundet werden? Oder ist es Zufall, wenn nicht-
deutsche Kinder irgendwie keine Chance in diesem Kindergarten
haben? In dem Kindergartenbeispiel wird es bei den zeitrauben-
den Elternbesprechungen und Arbeitseinsätzen nicht lange dau-
ern, bis eine Beteiligungselite übrigbleibt. Wer sich Engage-
ment leisten kann, bestimmt über die mit, die nicht können
oder wollen. Wer gehört zur "Gemeinschaft", zum "Gemeinwesen"
oder auch bloß zum "Projekt" und wer nicht? Und wer entschei-
det das? Im Konzept "Bürgerarbeit" werden die Mechanismen von
Ausschluß und Ausgrenzung nicht nur bis in den gesellschaftli-
chen Mikrokosmos hinein verlängert und radikalisiert, sie wer-
den auch informalisiert. Es entsteht ein "common sense" der
ehrenamtlichen AktivistInnen, der letztlich durch deren
Selbstinteresse definiert ist. Der "solidarische Individualis-
mus" eines Ulrich Beck ist eben nicht gleichbedeutend mit ge-
samtgesellschaftlicher Verantwortung, die über das eigene Pro-
jekt, den eigenen Straßenzug oder das eigene Stadtviertel hin-
ausdenkt. Die Mittelschichtsfixiertheit dieses Modells von
"Gemeinwesenarbeit" korrespondiert auffällig mit der "Kommuni-
tarismuswelle" und dem "Gemeinwesenegoismus" der weißen, wohl-
habenderen Vorort-Bevölkerung US-amerikanischer Großstädte
(auch WASP's genannt: White Anglo-Saxon Protestants). Hier
wird das gutbürgerliche "Gemeinwesen" nicht selten zur Fe-
stung, gesichert durch eine Mischung aus privaten Wachdiensten
und sozialer Kontrolle; ein Effekt von "Gemeinwesenarbeit",
mit dem auch Willfried Maier Kriminalität eindämmen möchte.
        Daß im Rahmen der "Bürgerarbeit" auch der Standard
der öffentlichen Aufgaben und Dienstleistungen sinkt, wird
billigend in Kauf genommen: Welcher kommunale Kämmerer würde
nicht z.B. bei den Bauvorschriften beide Augen zudrücken, wenn
ihm eine Bürgerinitiative in Eigenarbeit einen Kindergarten
vor die Türe stellt und er so die bundesgesetzliche Kindergar-
tenplatzgarantie erfüllen kann! Willfried Maier will seine Ge-
meinwesenarbeit ausdrücklich als unbezahlte Arbeit mit niedri-
ger Produktivität verstanden wissen. Auf die Arbeitsergebnisse
käme es dabei gar nicht so sehr an. Inspiriert von Tauschrin-
gen und anderen Erscheinungen einer neuen informellen Überle-
bensökonomie, sollen in Eigenregie Produkte und Dienstleistun-
gen erstellt und getauscht werden, die zwar nicht allen Quali-
tätsstandards entsprechen, dafür aber eben umsonst sind. Als
Hamburger Stadtentwicklungssenator sieht er hier eine Alterna-
tive für die Unterversorgung großstädtischer Armutsquartiere.
Deutlicher kann eine Vision von zwei Klassen sozialer und an-
derer Dienstleistungen nicht formuliert werden: Während dieje-
nigen, die es sich leisten können, professionell erstellte,
öffentliche Dienstleistungen kaufen können (z.B. gut ausge-
stattete und kompetente Pflegeeinrichtungen), werden die ande-
ren auf die labilen Netze des informellen Sektors und auf Lei-
stungen minderer Qualität verwiesen.

Der diskrete Charme der Pflichtarbeit

Beck, Maier, Tönnies, Rifkin u.a. stellen mit ihren Konzepten
von Arbeit fürs Gemeinwohl den Bereich der Lohnarbeit selbst-
verständlich nicht in Frage. Für sie alle soll der Gemeinwohl-
sektor parallel neben dem Sektor hochproduktiver Lohnarbeit
stehen und diesen ergänzen. Die Frage, die sich unmittelbar
aufdrängt, ist: Wer soll die "Bürgerarbeit" leisten? "Men-
schen, die vorübergehend arbeitslos sind, Jugendliche vor der
Berufsausbildung, Mütter nach dem Erziehungsurlaub, ältere
Menschen im Übergang zur Rente", hat Ulrich Beck dabei im
Sinn. Arbeitslose könnten sich in der "Bürgerarbeit" qualifi-
zieren, den Makel der Arbeitslosigkeit verlieren und für Un-
ternehmen wieder attraktiv werden. Über drei Millionen neue
Jobs möchte er mit "öffentlicher Arbeit" schaffen, und auch
alle anderen Apologeten der "Bürgerarbeit" wollen vorrangig
Arbeitslosigkeit beseitigen.
    Zumindest im freiwilligen Teil des Gemeinwohlsektors in
der BRD wird dieses postmoderne Job-Wunder aber wohl kaum
stattfinden. Wie bereits erwähnt, wird zwar in Vereinen, Wohl-
fahrtsverbänden, Kirchen und Initiativen in erheblichem Maße
unbezahlte, ehrenamtliche Arbeit geleistet. Wie das DIW fest-
stellt, aber nahezu ausschließlich komplementär zur Lohnar-
beit, in der Freizeit. Wenn dieser Sektor also überhaupt Er-
werbslose erreicht, dann noch am ehesten AkademikerInnen.
Schon Becks Figur des "Gemeinwohlunternehmers" orientiert sich
eher an einem Franz Beckenbauer, der sich ehrenamtlich der
Kampagne "Keine Macht den Drogen" verschreibt, als an der Le-
benssituation und den Bedürfnissen einer durchschnittlichen
erwerbslosen Mutter oder eines Beziehers von Sozialhilfe. Je
konkreter die Vorschläge zu einem Sektor "öffentlicher Arbeit"
werden, desto mehr verlassen sie die luftigen Höhen mittel-
schichtsorientierter Ehrenamtlichkeit und landen in den Niede-
rungen des realexistierenden staatlichen Arbeitsmarktes und
der "gemeinnützigen Arbeit".
    Unter- und nichtbezahlte "Bürgerarbeit" wird von Erwerbs-
losen und SozialhilfeempfängerInnen heute in einer Vielzahl
staatlicher Beschäftigungsmaßnahmen geleistet. Außer daß der
"Lohn" in diesen Einrichtungen selten über dem Sozialhilfesatz
liegt, haben alle Maßnahmen die Eigenschaft gemeinsam, daß sie
mehr oder weniger verdeckte Zwangsveranstaltungen sind. Formal
haben zwar auch Erwerbslose und SozialhilfeempfängerInnen das
Recht, Arbeitsangebote abzulehnen, die Strafe folgt allerdings
auf dem Fuße: Sperrzeiten beim Arbeitsamt und Kürzungen bei
der Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Immer mehr Kommunen folgen
den "Modellen" aus Leipzig und Lübeck und verpflichten Bezie-
herInnen von Sozialhilfe zu sog. "gemeinnütziger Arbeit":
Laubharken in öffentlichen Grünanlagen, Säuberung von Wegen,
Straßen und Plätzen etc. für zwei DM die Stunde. Eine Weige-
rung kann die vollständige Einstellung von Sozialhilfezahlun-
gen zur Folge haben. In Hamburg fordert die CDU Jahr um Jahr
die Wiedereinführung dieser "gemeinnützigen Arbeit", und auch
die SPD hat sich solchen Maßnahmen gegenüber auf ihrem letzten
Landesparteitag aufgeschlossen gezeigt. So kommt es nicht von
ungefähr, wenn Stadtentwicklungssenator Maier in höchsten Tö-
nen die Initiative eines Geschäftsmannes lobt, der Sozialhil-
feempfängerInnen um sich scharte, um gegen eine "geringe Auf-
wandsentschädigung" eine größere, öffentliche Grünfläche zu
säubern. Für Willfried Maier ein Paradebeispiel für "Gemeinwe-
senarbeit" und eine "Bürgerinitiative neuen Typs". Und mitt-
lerweile kann auch das Arbeitsamt Erwerbslose zu gemeinnützi-
ger Arbeit verdonnern: Im Kreis Nienburg müssen zur Zeit Er-
werbslose zum Spargelstechen antreten. Ulrich Beck und auch
Jeremy Rifkin werden nicht müde, die Freiwilligkeit von "Bür-
gerarbeit" zu betonen. Sie unterlassen es jedoch tunlichst,
die rechtlichen Rahmenbedingungen des Bundessozialhilfegeset-
zes oder des Arbeitsförderungsgesetzes in Frage zu stellen
bzw. überhaupt zu thematisieren. In dem Maße aber, wie diese
Tätigkeiten mit den sozialhilferechtlichen Instrumentarien um-
gesetzt werden sollen, kommen sie über den Status ordinärer
"gemeinnütziger Arbeit" für SozialhilfeempfängerInnen nicht
hinaus: freiwillig ja, aber unter der Drohung, bei Weigerung
staatliche Leistungen zu entziehen.

Postmoderner Arbeitsdienst

Andere Befürworter dieser Konzeptionen von "Bürgerarbeit" sind
in Sachen Arbeitspflicht weniger zimperlich. In dem "Drei-
Schicht-Modell", das der ehemalige Manager Orio Giarini und
der Wirtschaftsberater Patrick Liedtke für den Club of Rome
entwickelt haben, werden Erwerbslosen und Sozialhilfeempfänge-
rInnen 20-Stunden-Jobs im sozialen Bereich zugeteilt. Sie wer-
den zur Arbeit verpflichtet, um den Anspruch auf ein Mindest-
einkommen zu erhalten. Die Bremer Sozialwissenschaftlerin und
Juristin Sibylle Tönnies propagiert ungeniert die Neuauflage
eines Arbeitsdienstes. Es könne nicht angehen, so Frau Tönnies
in der ZEIT, daß dieses Instrument ein für allemal durch die
Erfahrungen des Nationalsozialismus diskreditiert sei. "Deut-
sche Jugend im Elend" lautet ihre Diagnose, und es müsse end-
lich Schluß sein mit falschen Randgruppenstrategien, die "das
Normale verachten und das Pathologische bewundern". Statt des-
sen müsse "Arbeit organisiert werden". Und zwar nicht als ein-
kommenssichernde Lohnarbeitsplätze, sondern als Pflicht zu un-
entlohnter Arbeit. Sie bezieht sich dabei ausdrücklich positiv
auf Beck's "Bürgerarbeit". Im Tönnies'schen Arbeitsdienst sol-
len vor allem Jugendliche auf der Basis der bereits jetzt mög-
lichen "gemeinnützigen Arbeit" des Bundessozialhilfegesetz um-
sonst für das Gemeinwohl arbeiten und "Gemeinschaft erleben".
Postmodern heißt das Ganze dann nicht mehr "Arbeitsdienst",
sondern "Erlebnisdienst", und statt Volkslieder am Lagerfeuer
gibt's abends Disco. Ins selbe Horn stößt Hans-Eckehard Bahr,
Leiter des Forschungsprojekts "Jugendgewalt und Stadtfrieden"
(sic!) an der Ruhr-Universität Bochum. Er fordert ein verbind-
liches, soziales und ökologisches Engagement, denn "wissen wo-
für man lebt", ist die Losung der Stunde. Zivildienst und So-
ziales Jahr sind für ihn die Keimzellen "einer (zivilen)
staatsbürgerlichen Dienstpflicht für Männer und Frauen." Dem
neuen Charme der Zwangsarbeit können bei soviel wissenschaft-
licher Querdenkerei auch grüne PolitikerInnen nicht mehr wi-
derstehen. So bringt der rechtspolitische Sprecher der bünd-
nisgrünen Bundestagsfraktion, Volker Beck, die "gemeinnützige
Zwangsarbeit" als strafrechtliches Sanktionsinstrument ins Ge-
spräch (Die "work camps" US-amerikanischer Knäste lassen grü-
ßen!). Und auch Willfried Maier möchte seine "Gemeinwesenar-
beit" am liebsten als Pflichtdienst - mit einem "Ehrensold" -
organisiert sehen. In der Arbeitspflicht für alle sieht Maier
allen Ernstes die "Verwirklichung sozialistischer Organisati-
onsprinzipien" und das Prinzip "Sozialismus statt Sozial-
staat".
    Das Konzept der "Bürgerarbeit" oder "öffentlichen Arbeit"
entpuppt sich gerade mit dem Versprechen, Arbeitslosigkeit be-
seitigen zu wollen, als eine Kampfansage an Erwerbslose, Sozi-
alhilfeempfängerInnen und Arme. Wenn Erwerbslosigkeit in er-
ster Linie als gesellschaftliche und individuelle "Krankheit"
interpretiert wird, wird "Arbeit an sich" zu einem therapeuti-
schen Instrument. Es geht dann weder um individuelle Bedürf-
nisse, Einkommen, Arbeitsbedingungen, ArbeitnehmerInnenrechte
usw., sondern nur noch um die therapeutische Beseitigung pa-
thologischer Zustände. Arbeit oder, genauer, irgendeine Form
von Beschäftigung wird so zu einem Beitrag der "Volksgesund-
heit". Gleichzeitig zementiert die "Gemeinwohlarbeit" die Ver-
pflichtung zum "Dienst an der Gemeinschaft" als Voraussetzung
für staatliche Transferzahlungen. Selbst die minimalste Exi-
stenzsicherung muß erst einmal "verdient" werden. Es ist vor
diesem Hintergrund wenig erstaunlich, daß "gemeinnützige Ar-
beit" als allgemeine Arbeitsverpflichtung gerade in den "Mut-
terländern" der "Bürgerarbeit", den USA und Großbritannien,
zentraler Bestandteil der "Sozialhilfereformen" ist.

Schöner Schein der Emanzipation

Die Debatte um "Ehrenamtlichkeit" und "Bürgerarbeit" richtet
sich explizit sowohl gegen das fordistische Normalarbeitsver-
hältnis als auch gegen den Sozialstaat keynesianischer Ausprä-
gung. Dabei greift sie vordergründig durchaus Forderungen und
Bedürfnisse emanzipatorischer Bewegungen auf. So etwa die Kri-
tik der Frauen- und Erwerbslosenbewegung am herrschenden Ar-
beitsbegriff und der Lohnarbeitszentriertheit. Oder die Be-
dürfnisse nach selbstbestimmtem und kollektivem Arbeiten, die
einmal aus dem Bereich der "alternativen Ökonomie" und von
Selbsthilfeinitiativen gegen die kapitalistische Lohnarbeit
formuliert worden sind. Und auch der keynesianische Sozial-
staat wird ja aus guten Gründen von links als bürokratischer
Kontrollstaat kritisiert. Selbst die Bismarcksche Sozialge-
setzgebung ist ja nicht nur ein Zugeständnis an die Arbeiter-
bewegung gewesen. Sie war gleichzeitig ein Akt der Enteigung
selbstorganisierter und selbstverwalteter Versicherungskassen
der ArbeiterInnenklasse. Im Konzept der "Bürgerarbeit" werden
all diese Bedürfnisse und Ansprüche ihres emanzipatorischen
Gehalts beraubt. Dieser Jargon pflegt die abstrakte Beschwö-
rung von "Eigeninitiative" und "Selbsthilfe", um im Konkreten
zum Wegbereiter für neue Billiglohnsektoren, Zwangsarbeitsver-
hältnisse und den Abbau öffentlicher und sozialer Einrichtun-
gen und Dienstleistungen zu werden.
Dk

Literatur:
Sibylle Tönnies; "Verlorener Zusammenhalt", TAZ, 13.3.1998
dieselbe, "Arbeitsdienst? Warum nicht!", Die ZEIT, 12.7.1996
"Mutter Teresa und Bill Gates in einer Person", Interview mit
Ulrich Beck, TAZ, 2.1.1998
"Gemein oder gemeinnützig", TAZmag, 28./ 29.3.1998
Willfried Maier, "Gemeinwesenarbeit für alle!", Hamburg 1996
derselbe, "Rekonstruktion des Gemeinwesens durch soziale und
ökologische Bürgerinitiativen", Hamburg 1996
Hans-Eckehard Bahr, "Wissen, wofür man lebt. Europäischer Auf-
baudienst - eine Alternative ohne Tabus", Die ZEIT, 6.9.1996
Dieter Emig, "Gemeinsinn oder Solidarität?", AKP, 4/1997

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