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1998

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Dies & das
aus "NEUES DEUTSCHLAND", vom 12.6.98

Absurde Rationalitaet des ICE

von Robert Kurz
 

Wenn das Menetekel an der Wand erscheint, wenn merkwuerdige Unfaelle sich
ereignen in dieser unserer besten aller Welten - dann werden nicht etwa
die gesellschaftlichen Weichen anders gestellt, sondern statt dessen
laeuft die Phrasendreschmaschine der Volksberuhigungskuenstler auf
Hochtouren. "Keine falschen Schluesse aus der ICE-Katastrophe ziehen",
titelte das Handelsblatt. Und gemeint war: Bloss jede Diskussion sofort
blocken, die das ICE-Konzept und vielleicht noch einiges mehr
grundsaetzlich in Frage stellen koennte. Fuer technische Systeme gebe es
nun einmal keine hundertprozentige Sicherheit, also sei die Tragoedie
eben Restrisiko, Zufall, Kismet gewesen.

Tatsaechlich war sie nichts anderes als die logische Konsequenz eines
hemmungslosen Mobilitaets- und Risiko-Kapitalismus, dessen
Katastrophenpotenz sich von Jahr zu Jahr verdichtet. Die arglistig
verheimlichte Strahlenbelastung jenseits aller Grenzwerte durch die
Castor-Transporte gehoert in denselben Zusammenhang; und diese
Hoellenfracht wird von eben jener Bahn-AG befoerdert, die nun ganzseitige
Todesanzeigen ihrer Passagiere veroeffentlichen muss.

Die Geschichte, deren Endpunkt das Truemmer- und Leichenfeld von Eschede
noch lange nicht war, hat eine lange Vorgeschichte in den Annalen des
marktwirtschaftlichen Irrsinns. Urspruenglich gehoerte die Eisenbahn zu
den Muttertechnologien des Industriekapitalismus. Gegen Ende des 19.
Jahrhunderts fiel sie jedoch in Ungnade, weil sich herausstellte, dass
sie langfristig wegen der hohen Investitions- und Wartungskosten nur mit
Muehe oder gar nicht rentabel zu betreiben war. Der kapitalistische
"Weltgeist" verfiel stattdessen auf die Idee, gleich das Verkehrsmittel
selbst statt seine Benutzung zu verkaufen: jedem seine eigene kleine
Lokomotive in Form des Automobils. Fuer das Strassennetz hatte der Staat
zusorgen, und die Staedte wurden "autogerecht" verhaesslicht. Und auf
diesen Autostrassen findet seit langem der unerklaerte 3. Weltkrieg statt
mit einer alljaehrlichen Rate von Toten und Verstuemmelten in der
Groessenordnung mittlerer Kriege. Gerade Kinder werden bewusst auf dem
Altar dieser abstrakten Selbstzweck-Mobilitaet geopfert.

Die Eisenbahn dagegen mutierte zum staatlich subventionierten
Verkehrssystem fuer Minderbemittelte. Auch ihr Anteil am Frachtverkehr
ging drastisch zurueck, weil die privaten Lkw-Spediteure die Landschaft
verpesten und ihre Fahrer bei Billigtarifen und laschen Kontrollen
unverantwortlich belasten duerfen. Der Kapitalismus totaler
Automobilmachung reagierte darauf artgerecht, das heisst mit einer Orgie
der Strecken-Stillegung. Ganz Europa ist heute voll von veroedeten
Gleiskoerpern und verwaisten Bahnhoefen, die sogar schon zum
aesthetischen Sujet geworden sind. Die meisten kleinen Orte haben
ueberhaupt keine oeffentliche Verkehrsanbindung mehr. Und natuerlich
wurde der ausgeschlachtete Rest im Zuge der neoliberalen Kampagne
privatisiert: Rentabilitaet um jeden Preis ist seither das Prinzip.
Gleiskoerper, Bruecken und Unterfuehrungen gehen in die Verantwortung der
Gebietskoerperschaften ueber, getreu der Devise: Sozialisierung der
Kosten, Privatisierung der Gewinne (sollen die Kommunen doch bei der
Sozialhilfe sparen). Aus dieser Denkweise wurde auch das nahezu
geisteskranke ICE-Konzept geboren: naemlich durch teure Luxuszuege (deren
 Ausstattung uebrigens so anheimelnd wirkt wie ein Wartezimmer beim
Zahnarzt) auf wenigen Schnellstrecken mit dem Flugzeug zu konkurrieren!

Aber das alles reicht noch nicht, wenn die Finanzmaerkte 20 Prozent
Rendite vorgeben. Also wurde das Personal bis zur Grenze der
Belastbarkeit vermindert. Im Zuge des "Outsourcing" gab die Bahn immer
mehr Systemkomponenten an Zulieferer ab und drueckte die Preise. Und
waehrend fuer den schoenen Schein der kapitalistischen
"Verpackungskultur" elektronische Anzeigen fuer verstopfte  Toiletten und
aehnliche Augenfaelligkeiten zur ICE-Ausruestung gehoeren, wurde von
Ingenieuren vorgeschlagene teure Sicherheitstechnik wegen des
"Mehraufwands" abgelehnt - peinlicherweise ausgerechnet die elektronische
Ueberwachung der zum Corpus delicti gewordenen Radreifen. "Bild" als
Instanz des Vulgaerjournalismus enthuellt solche Tatsachen aber nur im
Stil des Populismus, und dem geht es nie um System- und
Gesellschaftskritik, sondern immer nur um die Suche nach Schuldigen.
Schuld ist aber der Druck, der vom Konkurrenzsystem und seiner absurden
betriebswirtschaftlichen Rationalitaet ausgeht.

Das Resultat dieser "Kosten"-Effizienz" sind Tod und Chaos. Schon vor
Eschede brach in Berlin der Schienenverkehr zusammen, das ausgeduennte
Personal ist ueberfordert, die kostenmaessig abgeruestete und durch
"Outsourcing" zersplitterte Technik versagt, Zuege bleiben auf offener
Strecke stehen, Panik geht um. Aber keine Sorge: Die Bahn-AG wird mit
immer weniger Personal, das immer schlechter bezahlt und motiviert ist,
weiterhin immer schneller fahren. Dass die mobile Gesellschaft "ihren
Blutzoll fordert" (Handelsblatt) und deshalb die Kundschaft gelegentlich
von den Truemmern abgekratzt werden muss, dieses schoene Prinzip haben
wahrscheinlich auch die 1. Klasse Passagiere des ICE-ConrAd Roentgen"
mehrheitlich befuerwortet. Was uns fehlt, meint die notorisch
wirtschaftsliberale "Neue Zuercher Zeitung", ist nicht die Einsicht in
die Unhaltbarkeit einer rentablen Privatisierung oeffentlichen Verkehrs,
sondern das "Sprach- und Formenarsenal" fuer eine "Liturgie des Todes" um
die "Katastrophen zu bemeistern". Vielleicht sollte die Bahn an ihre
Kunden Kaertchen mit trostreichen Bibelspruechen austeilen. Das waere
immerhin kostenguenstig.