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1997

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1.Mai

Nachtrag zum 1.Mai 1997

Abs.: GEGENWIND_WEINHEIM@LINK-MA.cl.sub.de (Redaktion Gegenwind)

1. Mai: "Es geht ums Ganze" - wirklich?

Mit dieser Losung war der 1.Mai-Aufruf des DGB ueberschrieben. Zu Recht! - moechte man meinen. Denn noch mehr als in den Vorjahren wird deutlich: Diese Gesellschaft steht am Scheidepunkt. Ruecksichtsloser Sozialabbau; Foerderung von immer mehr Reichtum eindeutig auf Kosten von verbreiteter Armut im Land und auf der Welt; eine Steuerreform, die den Millionaeren die Kasse fuellt und eine Gesundheitsreform, die Armut wieder an fruehem Sterben und an Zahnluecken sichtbar machen wird. Die Bildungspolitik behaelt Bildung bald wieder Reichen vor, die Rentenpolitik drueckt Alte ins Sozialhilfeniveau. Die Arbeitslosen werden wieder zu Hungerleidern gemacht, die fuer jede, wirklich jede Arbeit bereit stehen sollen, waehrend die Boerse jede "Reform" (welch ein Ausdruck fuer diese Gegen-Revolution!) mit einem weiteren Aktienkursrekord quittiert.

Trendwende?

"Eine Trendwende muss her!" fordert der DGB zu Recht. Fragt sich nur: Wie? Wenn es wirklich "ums Ganze" geht, wieso sind die Gremien des DGB und der Einzelgewerkschaften nicht in der Lage, die ganze gewerkschaftliche Kraft zu mobilisieren? Wieso bleibt es an vielen Orten bei polternd-flauem Gesuelze, begleitet von Bierfest und Musik? Ich will keineswegs sagen, dass der 1.Mai nicht auch den Aspekt eines Familienfestes, eines solidarischen Zusammenseins haben kann. Nur: Wenn sich die gewerkschaftlichen Aktivitaeten darauf beschraenken, dann kann einfach was nicht stimmen. Sicher, die "Trendwende" wird sich auch darin ausdruecken muessen, dass bei den naechsten Bundestagswahlen CDU und FDP moeglichst wenig Stimmen kriegen. Wenn aber nun einige Gewerkschaftsstrategen den 1. Mai darauf reduzieren, dann ist eben was faul. Wir berichten hier von einigen Aktivitaeten am 1. Mai in der hiesigen Region, soweit wir von ihnen Wissen. Nichts Vollstaendiges, nur ein paar Schlaglichter liefert diese Uebersicht. Schlaglichter, die zu denken geben! Bernhard Feuling

Weinheim: "Nationales Buendnis" noetig?

Karl Feuerstein hielt die Kundgebungsrede beim Maifest an der Bonhoefferschule, an dem insgesamt ca. 700 Menschen teilnahmen. Er brandmarkte die Kohl-Regierung, weil sie mit dem Sozialabbau den "sozialen Frieden" zerstoere und genau damit erst die "Wettbewerbsfaehigkeit beeintraechtigt" werde. Die Steuerreform werde von den wirklichen "Leistungstraegern" gezahlt, den Beschaeftigten in Schichtarbeit zum Beispiel, waehrend "sein" Konzern Daimler Benz trotz riesiger Gewinne auf Grund aufgekaufter Verlustvortraege bis 2000 keine Steuern zahlen brauche. Noetig sei eine steuerliche Entlastung der Betriebe, "die ihre Gewinne wieder in Deutschland investieren". Die "zu hohen Lohnnebenkosten" kaemen von den Fremdleistungen: "Die Anpassung der DDR-Renten ist und war keine Aufgabe der bisherigen Beitragszahler, sondern ist und bleibt eine Aufgabe aller in unserer Republik". Ebenso Leistungen an deutschstaemmige Zuwanderer aus Osteuropa (hier brandete leider sehr zweifelhafter Beifall auf!) "Nicht aufeinander eindreschen" forderte Feuerstein "versoehnlich". Die einzige Alternative sei "eine Politik, die bereit ist, ein nationales Buendnis fuer Arbeit zu schliessen."

Mannheim: 2x "gemeinsam kaempfen"

Zwei Demonstrationen fanden statt: Um 9.30 Uhr die (seit der Absage des DGB an 1.Mai-Demonstrationen) schon traditionelle Demonstration des "Aktionsbuendnis 1.Mai", die unter der Losung "Gemeinsam kaempfen lohnt sich - Gegen Massenerwerbslosigkeit und sozialen Kahlschlag!" mit ca. 250 Teilnehmer/innen zur DGB-Kundgebung am Marktplatz zog. Transparente wie "Mit Kohl und Kapital franzoesisch reden", "Nicht Krieg und Ruestung, sondern Arbeit, Auskommen und gleiche Rechte", "32-Std-Woche bei vollem Lohnausgleich" kennzeichneten die Ziele.

Die DGB-Kundgebung stand ganz unter dem Zeichen der SEL-Schliessung, nach den Reden aber fand extrem laute Dauerbeschallung durch die Musikgruppe "Just for fun" statt (nomen est omen???). Ein Versuch des (meist als MdL in Stuttgart weilenden) DGB-Vorsitzenden Nagel, durch gute Mobilisierung und Einbeziehung verschiedener Kraefte diese Kundgebung zu einem Zeichen Gewerkschaftlicher Staerke zu machen, fand nicht statt.

Die "Revolutionaere 1.Mai-Demo" des "schwarz-roten Buendnisses" stand unter dem Motto: "Fuer eine gleichberechtigte, herrschaftsfreie Welt" und "Zusammen kaempfen!". 500 Menschen aus der Region beteiligten sich an dem bunten, phantasievollen Umzug: Ein Wagen stellte einen Tresor mit Geldsaecken dar, ein peitschenschwingender Kapitalist treibt die Arbeiter an. Waigel sammelte Geld, die Wagenburg Heidelberg nahm mit zwei Wagen teil. Die Geschichte des 1.Mai wurde bei der Auftaktkundgebung beleuchtet, ebenso die notwendige Befreiung der Lohnarbeit und Selbstbestimmung. Am Marktplatz hielt der Kabarettist Habekost eine satirische Rede (die leider von "zufaellig" in diesem Moment besonders ohrenbetaeubender "just for fun" uebertoent wurde). Vor dem Zentralinstitut fuer seelische Gesundheit wurde gefordert "Keine Macht den Psychiatern und deren Psychodrogen! Fuer eine freie Gesellschaft ohne Psychiatrien!" Vor dem Ordnungsamt wurde die Auslaenderpolitik angeprangert. Auf der Neckarwiese liess man's gemuetlich enden.

Laudenbach: "Aufschrei vermisst"

In Laudenbach erinnerte Rolf Schimanski an "unmenschliche Zustaende in der Arbeitswelt im vergangenen Jahrhundert" und die "Menschen, die fuer Rechte der Arbeiterschaft gekaempft haetten, so August Bebel, Wilhelm Liebknecht, Rosa Luxemburg und Friedrich Ebert". Expandierende Unternehmensgewinne und Rekorde bei der Arbeitslosenzahl - "da vermisse ich den Aufschrei von Politik und Oeffentlichkeit".

Lampertheim: Aeusserst spannende Gysi-Rede

Die Reaktionaere hatten geschaeumt ueber Einladung von Gregor Gysi durch den DGB. Ein Antrag der REP im Kreistag auf Verurteilung des DGB wurde zwar durch "Nichtbefassung" abgelehnt, nicht alle CDU'ler schlossen sich aber der Nichtbefassung an. CDU'ler geisselten die PDS vor der Halle als diktatorisch und verbrecherisch. Der DGB-Vorsitzende erinnerte deshalb in seiner Eroeffnungsrede breit an die Verbindungen der CDU zum NS-Regime, an ihre Machtbeteiligung in der DDR und an die Unterstuetzung verbrecherischer Regime durch CDU/CSU in den letzten Jahrzehnten.

Rund 500 Menschen waren gekommen, und sie waren begeistert von der dann folgenden Rede von Gysi, die aufruettelte und (endlich mal wieder!) zu den Fragen der Gesellschaft Stellung bezog! Gysi gab zu Anfang zu bedenken, dass die Geschichte der Arbeiterbewegung stets kompliziert gewesen sei; Heroisches stand neben Fehlern und Verbrechern. Falsch sei gewesen, 40 Jahre nur Heroisches zu sehen, feige sei, nun - "wenn die Leute keine Macht mehr haben" - nur noch Verbrechen zu geiseln.

"Wenn die Gewerkschaften und alle fortschrittlichen Kraefte jetzt nicht kaempften, werden Tage kommen, in denen kaempfen nicht mehr moeglich ist!" - damit ueberschrieb Gysi quasi seinen Aufruf zum Kampf gegen das Sozialdumping, was von der Arbeiterbewegung gefordert werde. Der "Zeitgeist des Neoliberalismus" muesse gebrochen werden, der brutalen Sozialabbau noch als "Reformen" verkaufen koenne und den Erhalt des Sozialstaats als konservativ. Wenn das deutsche Volk 1998 zum dritten Mal nach 1990 und 1994 auf die Kohl'sche Steuerluege hereinfalle, dann allerdings sei ihm wirklich nicht zu helfen. Die Einkommens-Millionaere, die bei der Steuerreform 124.000 DM sparten wuerden durch "die Mitte" subventioniert, also diejenigen, die als Beschaeftigte die Leistung in Betrieben und Verwaltungen erbraechten. Warum sollte man sich solche Unverschaemtheiten bieten lassen?

Immer abenteuerlicher wuerden die Argumente, um die Reichtums-Foerderung zu verkleistern: Da werde die Senkung des Spitzensteuersatzes damit begruendet, dass sonst soviel Steuer hinterzogen wuerden. "Das ist als ob die Entnahme von Waren aus dem Kaufhaus gestattet wird, damit es keinen Diebstahl mehr gibt". Man muesse schon Verstaendnis haben mit der Frau Schreinemakers, die sich allseits wegen ihres Steuerverhaltens heftiger Kritik gegenueber sah: "Die wuerde doch in ihren Kreisen als doof gelten, wenn sie sich anders verhielte." Warum, fragte Gysi, werde nicht einfach entschieden, dass jedes Einkommen dort zu versteuern sei, wo es erhalten wird, und eben nicht nach Wohnort?

Es gehe heute nicht mehr nur darum, durch Armutsberichte die schlimmen Folgen der Politik von Regierungen und Kapital nachzuweisen. Noetig seien Reichtumsberichte, um zu zeigen, wo das Geld hingeschaufelt werde.

Es duerfe nicht hingenommen werden, dass der zivilisatorische Fortschritt, der durch die Arbeiterbewegung mit der Chance auf gleiche Bildung und Gesundheitsversorgung unabhaengig vom Geldbeutel errungen worden sei. Die heutige Gesellschaftsstrategie versuche, die arbeitende Bevoelkerung wieder ungebildeter zu machen: "Und so wird dann moralisch die soziale Ungleichheit vermittelt". Kunst und Kultur duerfe niemals Marktgesetzen unterworfen werden, an dieser alten Maxime der Arbeiterbewegung muesse man festhalten.

Ausfuehrlich beschaeftigte sich Gysi mit der Weigerung der Regierung, wirkliche Arbeitsplatzfoerderung durch politische Vorgaben zu erreichen ("Steuern" kommt von "steuern"!): Ueber Vorschlaege zur steuerlichen Foerderung von Arbeitsplaetzen - "rein innerkapitalistische Vorschlaege, die gar nichts am System aendern" - koenne CDU/FDP nicht mal reden. Das Steuersystem (und mehr noch die "Reform") orientierten auf Reichtum, nicht auf Arbeitsplaetze.

Und schliesslich: Weder die oppositionellen Parteien noch die Gewerkschaften sollten irgendwelche Vorschlaege akzeptieren, die die Kaufkraft der Aermeren weiter senken.. "Wer reich ist, kauft ja nicht, weil etwas noetig ist oder gut, sondern weil es teuer ist!" Luxusgueter und Luxus-Einkommen sollten also ruhig kraeftig besteuert werden (z.B. durch eine gesplittete Mehrwertsteuer), die Aussaugung der Aermeren durch eine Erhoehung der "normalen" Mehrwertsteuer aber unter allen Umstaenden verhindert werden - gleichgueltig, wie sie begruendet wird! 80% der Arbeitsplaetze seien immerhin nach wie vor von der Binnenkaufkraft abhaengig. Radikale Arbeitszeitverkuerzungen seien auf Grundlage der heutigen technischen Entwicklung und des Reichtums der Gesellschaft dringend noetig.

Und wie das alles durchsetzen? "Wer sich nicht bewegt, der bewegt keinen!" Der Wille zum gemeinsamen, solidarischen Widerstand sei noetig, auch in den hoeheren Etagen der Gewerkschaften: Solidaritaet mit den Frauen ("Befreiung nur der Maenner gibt es nicht, nur Befreiung der Menschen!"); Solidaritaet mit der ostdeutschen Bevoelkerung ("Wir brauchen keine falsche Nostalgie, aber eine richtige Ostalgie, ein Selbstbewusstsein der Menschen im Osten, die selbst bei der Sozialversicherungspflichtgrenze diskriminiert werden (West: 610 DM, Ost 590 DM): Diese Zwanzig Mark dienen nur der Demuetigung, keinem andern Zweck!"); Solidaritaet mit Nichtdeutschen ("Wer hier lebt, muss waehlen koennen. Nicht die 'Deutschen im Ausland' sollen einen Kanzler waehlen, mit dem wir uns dann rumschlagen muessen!"). Dringend sei auf europaeischer Ebene das der Hochziehen der sozialen Standards, der um sich greifende Populismus muesse bekaempft werden, sonst werde der Nationalismus in Europa eine neue Bluete erfahren. Was noetig sei, sei beileibe nicht nur eine Beseitigung der Regierung, sondern eine andere Politik, die verhindert, dass der bestehende Gesellschaftsvertrag aufgekuendigt wird.