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1997

Rubrik
Internet

Martin Rost

Ich möchte begründen, in welchem Sinne sich diese Frage mit "Ja" beantworten ließe.

1) Zur Beobachtung sozialen Wandels weist der Soziologe Lars Clausen ein dreidimensionales Modell aus. In diesem Modell ist eine Revolution dadurch charakterisiert, daß der soziale Wandel rapide, radikal und von säkularisiert-rationalen Erklärungen begleitet verläuft (vgl. Clausen 1994, S. 49). Der Begriff Revolution bezeichnet insofern eine charakteristische Phase innerhalb der sozialen Evolution. Er macht das Neue am Neuen kenntlich, indem sich der Blick auf den Bruch gegenüber dem Alten richtet.

2) Die Veränderungen in der Technik, insbesondere im Bereich der digitalen Informationsverarbeitung, geschehen gründlich und rasch. Noch bis etwa in die Mitte der 60er Jahre hinein waren weder die massenhafte Computerisierung noch die Vorteile graphischer Benutzeroberflächen oder die Dynamik verteilter Informationssysteme vom Schlage des WorldWideWeb absehbar. In den 80er Jahren zeichnete sich der ökonomische Zwang zur Vernetzung von Computern bereits ab. Einerseits führte sie wie beabsichtigt zum Ausbau einer exzellenten Logistik (u.a. Lean-Production), andererseits koppelte sich, vermutlich nicht beabsichtigt, das E-Cash vom Buchgeld (vgl. Altvater 1996) ab. Weder die militärisch- noch die wissenschaftlich-motivierte Vernetzung, die beide an der Wiege des 1969 geborenen Internet standen, erzeugten einen vergleichbar starkenVernetzungsdruck. Entwicklungen wie diese darf man sicherlich als neu bezeichnen, einerseits. Andererseits - zieht man als Maßstab die Technisierung der Kommunikation und die Informatisierung der Arbeit heran, stehen diese Entwicklungen in der Tradition der Industriellen Revolution. Insofern setzen die Computernetze die Industrialisierung insbesondere im Bereich des tertiären Sektors (aus dieser Perspektive läßt sich abgeklärt hinzusetzen: lediglich) fort. Wie einst der Buchdruck mit beweglichen Lettern (vgl. Giesecke 1990) oder die Werkzeugmaschine (vgl. Marx 1867) wirken Computernetze im Bereich der Dienstleistungen, der Wissenschaft, Justiz, Politik und Kultur als Katalysatoren für neue Formen der Organisation. Die Industrialisierung im Bereich der Informationsproduktion geschieht klassisch durch Einführung von übergreifenden Standards für Informationseinheiten (Stichworte: EDI, SGML oder HTML, JAVA(-Applets)) und der Arbeitsteilung bei der Erstellung dieser Informationseinheiten (Stichworte: CSCW, Groupware). Die Programmierung von Programmen geschieht dabei unter Anwendung von Programmen, die auf netzweit verteilte Bibliotheken zugreifend Programme erstellen (Stichworte: CASE-Tools, OOP).

Ein schwerwiegender Unterschied zwischen der derzeitigen Phase der Industrialisierung und dem Beginn der Industriellen Revolution besteht darin, daß heute Zeit; Raum und Funktionen nicht mehr zentralistisch wie damals in einer Fabrik zusammengezogen werden, um vernetzte Kooperationen zu ermöglichen. Deshalb entsteht bei den von der Industrialisierung derzeit Betroffenen keine sinnlich gestützte Vorstellung und keine auf Anwesenheit basierende Kommunikation über die gemeinsam geteilte soziale Situation insgesamt, die noch im 19. Jahrhundert zur Gründung von Parteien und Gewerkschaften und damit zur gesamtgesellschaftlichen Demokratisierung beitrugen. Mit diesen Entsinnlichungs-Effekt haben derzeit politische Organisationen zu kämpfen, weshalb sie um Sinnfälligkeit ringen (wie man z.B. am amerikanischen Wahlkampf beobachten kann). Aber gerade wegen der Raum-/Zeit-/Funktionenentkopplung ist zur Koordinatiòn modernste Kommunikationstechnik, die sich durch Polydirektionalität auszeichnet, notwendig. Dieses Angewiesensein auf moderne Kommunikationstechnik gilt nicht nur für Betriebe und Organisationen, sondern für die Gesellschaft insgesamt.

Von je her interessiert ökonomisch an Menschen in industrialisierten Gesellschaften vor allem deren bislang noch nicht billiger technisierbaren kognitiven Talente. Routinearbeiten aus dem Bereich :nicht-trivialer Mitteilungsverarbeitung werden verstärkt auf Computer übertragen; weshalb ökonomisch fortan noch intensiver die Abschöpfung von Intelligenz, Kreativität und eigenständiger Urteilsfähigkeit bei Mitarbeitern im Vordergrund stehen muß. Der Zugriff auf unberechenbare, grenzenlose; mit geringen Transformatitionskosten belastete Kommunikationen,: wie sie Computernetze ermöglichen, ist dafür funktional. Wer versucht, Kommunikation zu unterbinden, zu überwachen oder einseitig zu steuern, muß sich fortan stärker denn jemals zuvor rechtfertigen. Auch für betriebsintern operierende Intranets wird vermutlich der Legitimationsdruck auf Entscheidungen insgesamt zunehmen, sobald moderne Kommunikationstechniken eingeführt sind (vgl: erste Beobachtungen: Zuboff 1988, zuletzt: Lange 1996). Insofern nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, daß auf Basis der Netze Diskurse entstehen, die auch vor allgemeinen politischen und delegitimatorischen Diskursen nicht Halt machen. Aus dieser Sicht lösen die Netze das ein, was Brecht in seiner aus den 20er Jahren stammenden, damals zu optimistischen Radiotheorie (Brecht 1967) vermutete.

Im Netzevernetzungsnetz Internet zeigte sich bereits, daß Zensur auszuüben, zumindest auf nationalstaatlichem Niveau, faktisch in diesem Medium nicht durchführbar ist. Sobald Kommunikationen zunächst eingeschränkt wurden, indem der Zugang zu Newsgroups oder WWW-Servern gesperrt wurde (Stichwort: Kinderpornographie; radikale politische Propaganda, Bombenbau), entfachte dies auf anderen Kanälen, und zwar nicht nur im Netz, Kommunikationen genau über diesen Umstand. Sobald ein Loch gestopft war, brach es woanders noch heftiger wieder durch.

Auf der Sollseite dieser Durchindustrialisierung der Gesellschaft steht vermutlich die Zunahme des Zwangs zur Kreativität und Originalität. Die Entfaltung dieser bislang zumeist als erstrebenswerk geltenden Kompetenzen muß fortan einem Arbeitsplatz nicht mehr abgerungen werden. Statt dessen wird vielmehr der erzwungene Aufenthalt permanent an der Grenze der intellektuellen Leistungsfähigkeit zum Problem. Kreativ sein zu dürfen ist nur dann ein Privileg, wenn das Fließband die Alternative ist. So wie Waldbrände mit Gegenfeuer bekämpft werden, so gilt es, die Kommunikationsanforderungen, die durch die neuen Techniken entstanden sind, mit deren Hilfe zu bändigen. Dazu gehört insbesondere die Entwicklung von Routinen zur Vermeidung, Bewertung/Selektion und Steuerung (Stichwort: Intelligent Agents) von Kommunikationen.

Auch ist nicht damit zu rechnen, daß sich die Einsicht in die Rationalität einer ungehinderten, demokratischen Kommunikation, die einerseits die Produktivität verbessert und andererseits an den derzeitigen politischen Machtverhältnissen rüttelt, automatisch durchsetzen wird. Noch ist nicht abzusehen, welcher politischen Seite es zuerst gelingen wird, die neuen Techniken zur Foxmung einer wirkungsvollen Kraft für sich nutzbar zu machen. Ein Blick in die Sozialgeschichte der Industriegesellschaften verurteilt Optimismus aber immerhin nicht von vornherein zur Narretei.

An drei Beispielen läßt sich der aktuelle Stand der politischen Auseinandersetzungen, die sich an den modernen Informations- und Kommunikationstechniken bereits entzündet haben, ablesen:

* In den Regelungen zum Urheberrecht wird trotz der Reforxnbemühungen nach wie vor an dem einzelnen Urheber und dessen persönlicher, geistiger Schöpfung angesetzt. Die dort getroffenen Regelungen sind jedoch praxisfremd, wenn Original und Kopie ununterscheidbar geworden sind, die Herstellung von Kopien vernachlässigbar wenig kostet und die Kopplung von Rechten an die materiale Seite eines Produkts (vgl. Barlow 1995) unsinnig geworden ist. Sehr viel konsistenter, aber nicht in die traditionelle politische Landschaft passend, wäre da ein konsequenter Ausbau des kollektiven Ansatzes, der sich gewissermaßen trotz allem ja bereits durchgesetzt hat. So werden Verwertungsgesellschaften wie die GEMA und die VG-Wort derzeit kräftig ausgebaut und neu strukturiert (Stichwort: Multimedia-Clearingstelle).

Legt man einen größeren Maßstab an, erhalten Konzeptionen zur "allgemeinen Grundsicherung" (vgl. Vobruba 1990), wie sie bereits Mitte der 80er Jahre entwickelt und einer ersten breiteren politischen Diskussion unterworfen waren, eine ganz neue Plausibilität.

* Schnüffelsoftware erlaubt die Überwachung des E-mail-Verkehrs von Mitarbeitern (vgl. Schmitz 1996). Dezenter und deshalb wirkungsvoller ist der, bislang nur durch die Moral des technischen Betreuers eingeschränkte Zugriff auf die beim normalen Netzbetrieb ohnehin anfallenden Verkehrs- (wer kommuniziert in welcher Form und Intensität mit wem?) und Inhaltsdaten.

Bei der anstehenden Debatte zur Verbesserung des Datenschutzes und der informellen Selbstbestimmung in den Netzen könnte die Abwägung der widersprüchlichen Kollektiv- und Einzelinteréssen.párteipolitisch quer zu den gewohnten Bahnen liegen. Dadurch entstünde eine "neue Lebendigkeit" des etablierten politischen Diskurses, womöglich analog zur ökologischen Debatte, die begann, das Rechts/Linsks-Schema porös zu machen.

* Einige Staaten (Frankreich, Rußland, China) verbieten den Einsatz sicherer Verschlüsselungstechniken (Stichwort: PGP). Andere Staaten tun sich hervor mit Versuchen, den Zugriff auf Newsgroups und WWW-Server zu unterbinden (Deutschland, Singapur, China).

An diesen Konflikten sind Anfang 1996 in Deutschland Selbsthilfeorganisationen entstanden: die ECO (Electronic Commerce Forum) als Zusammenschluß von Internet-Providern und die FITUG (Förderverein Informations technik und Gesellschaft) als Zusammenschluß von Internet-Anwendern. Während die politischen Interessen der Internet-Provider aus Furcht vor Strafverfolgung derzeit die rechtliche Einbettung des Internet umkreisen und sie nicht für die Inhalte, die sie transportieren, zur Rechenschaft gezogen wer den können wollen, kämpft die FITUG für den Erhalt der liberal-bürgerlichen Rechte auf freien Zugang zu Informationen.

3) In die Entwicklungslogik einer Industriellen Revolution eingepaßt, liegt es nahe, von einer derzeit durch Technik wieder beschleunigten Revolution innerhalb der Industriellen Revolution zu sprechen. Wenn mittels der vollständigen Durchindustrialisierung der Gesellschaft die Industrielle Revolution abgeschlossen wird, ließe sich sogar zugespitzt von einer Revolution der Revolution sprechen, die nachfolgend einen neuen, wieder verlangsamten All tag unter gänzlich veränderten Umständen und neuen Gewißheiten erwartbar werden läßt. Die Zunahme von Abstraktionen durch die Universalisierung des "Programmierens" dürfte dabei nur die eine Seite sein. Auf der an deren Seite wird vermutlich, und zwar auf Basis der Durchindustrialisierung, eine antiindustrielle Romantik blühen.

Literatur

Altvater, E.,1996: Globale Finanzinovationen, privates Computergeld und sozialisierte Schulden; in: Prokla 103 - Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft; Zd. Jg., Juni 1996

Barlow, J. P ,1995: Wein ohne Flaschen - Globale Computernetze, Ideen-Ökonomie und Urheberrecht; in: Bollmann, St. (Hrsg.),1995: Kursbuch Neue Medien - Trends in Wirtschaft und Politik, Wissenschaft .und Kultur, 2. durchgesehene Auflage 1996: Bollmann Verlag, 79-106

Brecht, B.,1967: Gesammelte Werke, Bd.18, Frankfurt/M.: Suhrkamp:129f

Clausen, L.,1994: Krasser sozialer Wandel, Opladen: Leske und Budrich
Giesecke, M.,1990: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informationsund Kommunikationstechnologien, Frankfurt/M., Suhrkamp

Lange, B.,1996: Kings of Mail - Wie E-mail Unternehmenshierarchien aufweicht, in: iX 1996/10:90-92

Marx, K.,1867: Das Kapital - Kritik der politischen Ökonomie, Erster Band, Frankfurt/M.1976 Verlag Marxistische Blätter

Rost, M. (Hrsg.),1998: Die Netz-Revolution - Auf dem Weg in die Weltgesellschaft, Frankfurt/ M.: Eichborn=Verlag

Schmitz; U.,1998: in: iX i998/11: (unveröffentlicht, ist angekündigt in iX 1996/10:173)

Vobruba, G.,1990: Strukturwandel der Sozialpolitik - Lohnarbeitszentrierte Sozialpolitik und soziale Grundsicherung, Frankfurt/M.: Suhrkamp

Zuboff, Sh.1988: In the Age of the Smart Machine, New York

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