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1997

Rubrik
80 Jahre
Oktoberrevolution

Aus: UZ unsere zeit, Zeitung der DKP, Nr. 46 vom 14. November 1997

Wer sind die "neuen Russen"?

Raubbourgeoisie und Kreml

von Klaus Steiniger

Alexander Smolenski, ein "Stützpfeiler des neuen Rußland", wie ihn die "Washington Post" lobend in die erste Reihe der Erbauer einer "Demokratie des freien Marktes" stellte, war gestern ein Dieb und ist heute ein Räuber.

Der einstige Setzer und Gelegenheitsnachtwächter, der zu Sowjetzeiten wegen Entwendung von Staatseigentum mit zwei Jahren Arbeitslager bestraft wurde, ist heute Hofbankier im Reich des Zaren Boris. Als Jelzin vor einigen Wochen die Creme der neuen Magnaten - Rußlands junge Raubbourgeoisie rekrutiert sich infolge Fehlens einer erfahrenen und historisch gewachsenen Ausbeuterklasse aus kriminellem Abschaum vom Schlage der Mafia und jenen übergelaufenen Ex-Kadern, die bei der Verteilung des staatlichen Kuchens als erste zugeschlagen haben - in den Kreml lud, um ihnen wegen Tempoverlusten bei der Etablierung des Kapitalismus die Leviten zu lesen, saß auch der noble Herr Smolenski am grüngedeckten Tisch.

Bibel-Ouvertüre

Die Strafe, die ihm die Sowjetjustiz auferlegte, weist den 43jährigen Über-Nacht-Magnaten und Boß der 43 000 Angestellte beschäftigenden SBS-Agro-Bank heute als unerschrockenen Kämpfer des antikommunistischen Widerstandes aus: In seiner staatlichen Druckerei hatte er illegal und ohne Rechnung Bibeln gesetzt und drucken lassen. Daraus machte ihm das Gericht keinen Vorwurf, wohl aber aus dem unbezahlten Abzweigen von Papier und Druckerschwärze. Ein echtes Strafverfahren ohne politischen Einschlag, wäre da nicht das nachträgliche Bekenntnis des gestrigen Diebes: "Ich war nie ein großer Glaubensanhänger, dachte aber, die Kirche sei eine Institution, die bei der Zerstörung von allem helfen könnte, was existierte - dem System". Das habe dem KGB natürlich nicht gefallen. Er sei aber mit Bewährung davongekommen und nicht einmal ins Loch gesteckt worden, fügte der "Freiheitsheld" hinzu, verschwieg allerdings, was ihm der Klerus für den Verstoß gegen ein biblisches Gebot in die Tasche geschoben hatte.

Heute sitzt der einstige Dieb Smolenski in einem prunkvollen Palast im Zentrum Moskaus und hat für die Niederungen vergangener Tage nur noch ein müdes Lächeln übrig. Sein Maßstab hat sich geändert. Die Bibeldruck-Affäre entspricht seinem heutigen Umsatz im Verhältnis 1:1 000 000. Das Haus, dessen Chef er ist, verweist auf Geschäftseinlagen von 5,2 Milliarden Dollar und zählt inzwischen zu den führenden Banken Rußlands. Bei SBS-Agro wird ein protziger "Stil" gepflegt, der Neureichen-Triumph zum Ausdruck bringen soll. Man sonnt sich auf dem Seerosenblatt und sieht schwächeren Rivalen vergnüglich beim Ertrinken zu. So empfängt Smolenski entsprechend noble Gäste in einem Salon, wo ihn russische und deutsche Ölgemälde des 19. Jahrhunderts und Elefanten-Skulpturen aus edlem Porzellan umgeben.

Gorbatschow-Walzer

"Er ist mehr als ein Banker. Er ist ein finanzieller Stützpfeiler des neuen Rußland. Ein führender Busineß-Magnat", der dabei mithelfe, "Rußland aus den Ruinen des Kommunismus wiederaufzubauen", überschlug sich "Washington- Post"-Korrespondent David Hoffman in Bewunderung für den "Selfmademan". Der Dieb, der sich mit der Konterrevolution zum großen Räuber mauserte, hat's geschafft. Aber wie? Und für wielange?

Schon Mitte der 80er Jahre habe die unglaubliche "Erfolgsstory" des Alexander Smolenski begonnen, teilt das Selbstverständigungsblatt der amerikanischen Großbourgeoisie seinen gespannten Lesern mit. Damals sei bekanntlich ein gewisser Michail Gorbatschow (Kohls späterer Duzfreund "Michael") zum Zuge gekommen Dieser habe es sich zum Ziel gesetzt, "den verknöcherten Sowjetstaat infrage zu stellen. Eine seiner radikalsten frühen Reformen war das Gesetz, das die Schaffung von Kooperativen zuließ - autonomen Firmen, denen man gestattete, ihre Preise selbst festzusetzen", rief Hoffman jene Periode ins Gedächtnis, mit der der große Vorstoß des Kapitalismus eingeleitet wurde.

Smolenski, der Dieb, lag schon auf der Lauer. Er zögerte keine Minute und gründete mit der Baukooperative "Moskau-3" sein erstes Unternehmen. "Damals gab es weder Holz noch Nägel. Man konnte sie nirgends erwerben. Weder für Geld noch für sonstwas", schilderte der Kapitalist die dubiosen Anfänge seines Imperiums. "Man konnte sie nur 'organisieren'". Das tat die angebliche Genossenschaft dann auch. Sie beschaffte sich illegal genügend Material und baute Datschen rund um die Hauptstadt, auch für den korrupten und politisch verkommenen Teil der Nomenklatura, der längst aufgehört hatte, der tatsächliche Führungskader einer kommunistischen Partei zu sein. Man erinnert sich: Damals war Boris Jelzin nicht nur Mitglied des Politbüros, sondern auch eine Zeitlang Erster Sekretär der Moskauer Organisation der KPdSU.

Schwarzgeld-Polka

Smolenski wurde unter den "Perestroika"-Helden ein äußerst erfolgreicher Industrieller, der schon bald im Gelde schwamm. Wohin aber sollte er mit dem erzielten Profit? Eins stand für ihn fest: In eine staatliche Bank konnte er das ungewaschene Schwarzgeld nicht einlagern. So gründete er - von Gorbatschow und seinen innerlich bereits übergelaufenen Spießgesellen in keiner Weise daran gehindert - am 14. Februar 1989 mit "Stolitschny" die erste Privatbank der im rasanten Niedergang befindlichen Sowjetunion.

Zur Anatomie des konterrevolutionären Prozesses, der bei voller Komplizenschaft des bestimmenden Teils der Moskauer Führung ablief, sei noch einmal die "Washington Post" zitiert: "Privatbanken wurden rasch zum ersten Instrument des ökonomischen Wandels. Sie schlugen noch vor der Aufhebung der Preiskontrollen und der massenhaften Privatisierungen der Jelzin-Zeit Wurzeln und ihre Zahl explodierte gegen Ende des Jahres 1991, als sich der Zusammenbruch der Kommandowirtschaft und der Sowjetunion selbst beschleunigte."

Zu jener Zeit waren bereits 1 500 Privatbanken registriert. Smolenski, der vorbestrafte Setzer und Nachtwächter, hatte keinen Schimmer einer Ahnung, wie man eine Bank aufziehen sollte. Das einzige, was für ihn feststand, war die Absicht, sein auf fragwürdige Weise und durch Ausbeutung anderer erworbenes Geld an der Staatsbank vorbeizuschleusen. Und schließlich hatte "er" auch ein Bauunternehmen aus dem Sumpfboden gestampft, ohne von der Materie etwas zu verstehen. Man mußte nur entsprechende Fachleute unter Kontrakt nehmen und ihnen gehörig die Sporen geben.

Doch zunächst sah es düster aus. Im Juni 1993 schickte Smolenski seine Familie nach Österreich ins Exil. Er selbst wollte folgen, sollte sich daheim keine Wende einstellen. Diese kam früher, als von ihm erwartet. Im blutigen Oktober 1993 ließ Jelzin das Moskauer Weiße Haus - den Sitz des zwar frei gewählten, aber unbotmäßigen Parlaments - von zur konterrevolutionären Soldateska entarteten Elite-Einheiten zusammenschießen. Die neue Verfassung befreite die Kapitalisten von jeglicher Kontrolle durch die Zentralbank. Smolenskis kometenhafter Aufstieg zum ersten Banker Rußlands vollzog sich in nur wenigen Jahren. Er investierte in die modernsten Computer, schuf ein weitgefächertes Netz von Filialen und führte das Geldautomatensystem ein.

Spekulanten-Tango

Dennoch waren die Hindernisse erheblich. Vor allem mußte eine 1 000prozentige jährliche Inflationsrate umschifft werden. Unter solchen Bedingungen blieb das Vertrauen zu den Banken gering. Nur wenige wollten ihr Geld anlegen oder gar Kredit aufnehmen. Hinzu kam die absolute Verelendung der Be völkerung. Also suchte SBS-Agro auf "Moskau-3"-Art seinen Profit. Mit undurchsichtigen Devisengeschäften, die sich aus dem ständig schwankenden inoffiziellen Wechselkurs von Rubel und Dollar - Rußlands heimlicher Leitwährung - ergaben. "Im normalen Sinne konnte man bei einer solchen Hyperinflation keine Anleihen ausreichen", meinte der kleine Gauner von einst, der zum Multimillionär aufstieg. "Wir befaßten uns mit Spekulation. Anders hätten wir nicht überlebt. Es gab ja keine reale Industrieproduktion mehr. Sollte man jemandem Kredit geben, der schon am nächsten Tag Bankrott machte?" Smolenskis Räuberlogik stimmt - nach den Gesetzen des Kapitalismus.

Schließlich schlug die Stunde der "Bewährung" für den neuen Magnaten. Bei den Dumawahlen im Dezember 1995 wurden die Kommunisten zur stärksten Fraktion. Bald darauf lag ihr Führer, Gennadi Sjuganow, bei Umfragen im Vorfeld der Präsidentenwahlen an erster Stelle. Jelzin und Smolenski zitterten um die Wette. Die Handvoll der Top-Banker, denen Rundfunk und Fernsehen gehören, tat sich zusammen, um den Mann im Kreml am Ruder zu halten und ganz zu ihrer Marionette zu machen. Sie gaben Millionen Dollar aus, ihre Sender seiften und lullten das Publikum ein, bis die "Massensympathie" für einen Sieg von Zar Boris reichte.

Marionetten-Foxtrott

Seitdem tanzt Jelzin an den höchst sichtbaren Fäden seiner Retter. Er mußte auf deren Verlangen sogar den beim Volk verhaßten Oberreformer Anatoli Chubais als Ersten Vizepremier wiedereinstellen. Während dessen erzwungener Abwesenheit hatte Smolenski einem "Denktank", der von diesem Ideengeber und Vorreiter der kapitalistischen Rückeroberung gegründet worden war, einen Drei-Millionen-Dollar-"Kredit" gewährt.

Lassen wir am Schluß unserer Betrachtung die seriöse "Washington Post" ihre Argumente für die Annahme ins Feld führen, daß das "neue Rußland" auf dem besten Weg zu freedom and democracy ist: "Mit seinem Erfolg beim Stützen Mr. Jelzins wurde der Banker-Klüngel zu einer informellen Oligarchie, zu einer kompletten neuen Machtstruktur mit Geld, Medien und Sicherheitskräften, die in Rivalität zum Kreml steht und ihn gleichzeitig ergänzt."

Wie man sieht, sind die Gründe für den Sturm auf das Winterpalais achtzig Jahre nach den Salven der "Aurora" noch lange nicht historisch überholt.