trend PARTISAN.net
online
archiv

1997

Rubrik
80 Jahre
Oktoberrevolution

Aus: UZ unsere zeit, Zeitung der DKP, Nr. 46 vom 14. November 1997

Jelena und Alexander Charlamenko

War der sozialistische Kurs der Oktoberrevolution ein Fehler?

Mit diesem Artikel beendete die UZ ihre Serie zum Jahr 1917, dem 80. Jahrestag der sozialistischen Oktoberrevolution. Das Schlußwort gab sie nach Rußland. Allerdings ist es gekürzt - die gesamte Fassung kann nachgelesen werden in den "Marxistischen Blättern" Nr. 6/97.

Auf die welthistorische Bedeutung des Oktobers verweist in paradoxer Art die Tatsache, daß viele, wenn nicht sogar die Mehrheit der linken Parteien der Welt sich weniger der theoretischen und praktischen Arbeit auf der Grundlage ihrer Länder gewidmet hatten, als vielmehr mit der Klärung ihres Verhältnisses zu den Bolschewiki und deren Nachfolgern befaßt waren. Dieses Verhältnis war mannigfacher Art und reichte von Apologie bis zu wütender Entlarvung. Nur selten gründete es sich auf eine tiefere theoretische Analyse des Gegenstandes und noch seltener trug es zu einer solchen Analyse bei. In der Heimat der Revolution selbst wurde das Verhältnis zu ihr erst recht nicht Gegenstand einer nüchternen historisch-philosophischen Erforschung und wird es wohl auch in naher Zukunft nicht werden. Die Oktoberrevolution bleibt im Zentrum des ideologischen Kampfes - ein Heiligtum für die einen, ein Alptraum für die anderen. Beide Seiten nehmen dabei in der Geschichte bestenfalls nur diejenigen Tatsachen wahr, die die eigene Position stützen, schlimmstenfalls kommen sie ganz ohne Tatsachen und Argumente aus, was letztlich dazu führt, daß die notwendige Diskussion durch den Dialog tauber Leute ersetzt wird. (...)

Nun lassen sich zwei Arten von zivilisierten Marxisten ausmachen. Die einen, wie seinerzeit Plechanow und Kautsky, sind bereit, ruhig im Wagen sitzen zu bleiben und abzuwarten, bis der Zug die Haltestellen "Manufakturkapitalismus", "Bürgerliche Revolution" und "Industrielle Revolution" passiert hat und in den Bahnhof "Soziale Revolution" einfährt. Den anderen liegt es eher wie Trotzki ( dessen Heldentaten heutige "Enthüller" aus irgend einem Grunde permanent den Bolschewiki unterschieben, wobei vergessen wird, daß Trotzki formal bis Mitte 1917, de facto aber bis ans Ende seines Lebens Menschewik blieb) vor der Lokomotive her zu stürmen, doch stets auf eben demselben Gleisbett und an eben denselben Bahnhöfen vorbei. Ob die Endstation umbenannt werden muß, ist egal - bleibt sie nur an derselben Stelle.

Die heutigen Nachfolger von Kautsky suchen uns davon zu überzeugen, daß Lenin ihre Position teilt und zitieren dazu einen Ausschnitt aus dessen Artikel "Über das Genossenschaftswesen", in dem "wir zugeben müssen, daß sich unsere ganze Auffassung vom Sozialismus grundlegend geändert hat." Es lohnt sich jedoch, das Zitat fortzusetzen, um sich davon zu überzeugen, daß sie sich vergeblich mühen: "Diese grundlegende Änderung besteht darin, daß wir früher das Schwergewicht auf den politischen Kampf, die Revolution, die Eroberung der Macht usw. legten und auch legen mußten. Heute dagegen ändert sich das Schwergewicht so weit, daß es auf die friedliche organisatorische "Kultur"arbeit verlegt wird".

Hier ist gar keine Rede von einer Veränderung der Anschauungen etwa über das gesellschaftliche und private Eigentum, den Charakter der Macht, über das Wesen und die Folgen der Revolution. Und die Kulturarbeit wird - völlig einsichtig - nicht vor, sondern nach der Revolution in den Vordergrund gerückt, wofür es sehr gute Gründe gibt. (...)

Die Weltgeschichte ist nun einmal keine vorbildliche deutsche Eisenbahnstrecke, welche die Züge - die einen früher, die anderen später, aber immer genau nach Fahrplan - zurücklegen und dabei immer dieselben Haltestellen passieren. Eisenbahnzüge rollen über ihre Schienen, ohne sich gegenseitig zu beeinflussen. In der Geschichte ist das anders. Der letzte, der den Zug nach der oben beschriebenen Fahrtrichtung anführte, ohne allerdings die Station "Soziale Revolution" je zu erreichen, war der Maschinist Otto von Bismarck. Hinter ihm schaltete das Signal auf Rot. (...)

Die Weltgeschichte hat gezeigt, daß immer und überall, wo eine Revolution die unterdrückten Massen in Bewegung gesetzt hat - und das ist eben das Kennzeichen einer Volksrevolution - ihre führenden Abteilungen zum "Sturm des Himmels" antraten, d.h. derartig radikale Umgestaltungen einzuleiten versuchten, daß diese nur wenig Chancen auf Verwirklichung bzw. Bewahrung besaßen. Auf diese Weise irrten nicht nur die Bolschewiki, sondern schon die Pariser Kommunarden, die Jakobiner, die englischen Leveller, die Anführer des Bauernkrieges in Deutschland, die tschechischen Taboriten und sogar die frühen Christen.

Die Spezifik der Revolution als einer besonderen Form geschichtlicher Bewegung besteht darin, daß die Revolution immer gezwungen ist, Grenzen zu überschreiten, jenseits derer sie sich dauerhaft gar nicht halten kann. Und das kommt daher, daß in einer Volksrevolution nicht nur die Widersprüche zwischen den Klassen als den Trägern der veralteten und neuen Produktionsweise zum Ausdruck kommen. Eine fast noch größere Rolle spielt in ihr der Widerspruch zwischen allen Arbeitenden, Ausgebeuteten und Unterdrückten und allen Arten von Ausbeutung und Unterdrückung, unabhängig davon, inwieweit diese sich historisch bereits überlebt haben. In einem solchen revolutionären Maximalismus steckt eine tiefe Wahrheit: Nur der "Sturm des Himmels" ermöglicht es den Unterdrückten überhaupt, Hoffnung zu schöpfen und menschliche Würde zu erlangen, um die für den Kampf nötige Standfestigkeit auszuprägen. Ohne derartige "Fehler" ist es noch nie gelungen und wird es nie gelingen, auch nur die elementarsten von den herangereiften oder überfälligen Umgestaltungen zu erkämpfen und gegen die Angriffe der Unterdrücker zu verteidigen.

Alle Versuche, einen solchen Sturm in die engen Bahnen selbst des allerbesten Minimalprogramms zu lenken, endeten regelmäßig mit der Isolierung solcher Kräfte von ihrem "himmelstürmenden" Volk bzw. mit ihrem Untergang. Eine Revolution anzuführen gelang nur solchen Parteien und Führern, die es vermochten, die Richtung dieses Aufbruchs der unterdrückten Massen zur unmittelbaren Beseitigung jeglicher Unterdrückung aufzugreifen und sich an die Spitze des Zuges zu setzen. Erinnern wir uns nur an das Schicksal der spanischen Revolution in den 30er Jahren, der chilenischen und portugiesischen in den 70er, der mittelamerikanischen der 80er Jahre. Ihre Führer waren infolge der internationalen Bedingungen gezwungen, überall den "Himmelssturm" aufzuhalten, und erwiesen sich in der ausweglosen Klemme zwischen Konterrevolution und radikalen Linken, die nicht nur die Ungeduld, sondern auch den ungestillten sozialen Protest der arbeitenden Bevölkerung zum Ausdruck brachten. (...) Denken wir uns in die Situation hinein, die Lenin veranlaßte, von der völligen Ausweglosigkeit der Lage der Massen am Vorabend des Oktober zu reden. Die Bolschewiki mußten die Macht ergreifen - weil sonst, so warnte er, "die Hungerndenalles kurz und klein schlagen werden, ja sogar rein anarchistisch".

Hätten sich die Bolschewiki gegen den "Himmelssturm" aufgelehnt, wären sie von der Macht vertrieben worden, am wahrscheinlichsten durch Sozialrevolutionäre und einen Teil der Anarchisten und "Linkskommunisten". Erinnert sei an den Kampf gegen den Brester Frieden bis hin zu den Ereignissen vom 6. Juli 1918. Wenn man Lenins Aufsatz "Über 'linke' Kinderei und über Kleinbürgerlichkeit" liest, läßt sich die Gewalt dieser spontanen antibürgerlichen Aufwallung gut nachempfinden. Einige Male drohte sie, die proletarische Herrschaft hinwegzufegen, sogar dann noch, als diese selbst in dem für die Ärmsten zentralen Punkt - der Getreidefrage und dem Problem der Machtposition der Sowjets - den Ultralinken die Initiative aus der Hand nahm, die am weitesten links befindliche Flanke besetzte und damit die Möglichkeit erhielt, "linke" Dummheiten einzudämmen.

Und wenn Lenin nicht solche "Fehler" begangen hätte wie die "rotarmistische Attacke gegen das Kapital" und den "Kriegskommunismus"? Wäre dann aus der Petrograder Kommune eine Sowjetrepublik hervorgegangen, und hätte sie sich länger halten können als die Pariser Kommune? Lenin stellte nach dem Übergang zur NÖP mehrfach selbst diese Frage und verneinte sie. So sagte er auf dem XI. Parteitag der RKP (B): "Die neue Wirtschaft begannen wir auf völlig neue Art aufzubauen, ohne Rücksicht auf irgend etwas Altes. Und hätten wir mit ihrem Aufbau nicht begonnen, so wären wir gleich in den ersten Monaten, gleich in den ersten Jahren aufs Haupt geschlagen worden. Aber das bedeutet nicht, daß wir uns darauf versteifen, die neue Ökonomik, die wir mit so grenzenloser Kühnheit begonnen haben, nun auch unabänderlichin der gleichen Weise fortzuführen." (...)

Nehmen wir einmal das Unmögliche an: den Bolschewiki wäre es gelungen, den antibürgerlichen Ansturm der ärmsten Volksschichten in die Bahnen ihres vorrevolutionären Programms zu lenken. Lassen wir selbst die Frage nach dem Demokratieverständnis bei einem solchen Verhältnis zum Willen der Mehrheit der Werktätigen beiseite, den ihre gewählten Vertreter repräsentierten. Fragen wir lediglich, ob auf diesem Wege der Bürgerkrieg vermeidbar oder sein Ausmaß begrenzbar gewesen wäre? Woraus sich sofort eine weitere Frage ergibt: Ist der Bürgerkrieg in Rußland isoliert vom Weltkrieg zu begreifen, aus dem auszutreten das arbeitende Volk in Rußland in erster Linie gefordert hatte? Hätten die zivilisierten Entente-Mächte ein solches Verhalten ihres Verbündeten geduldet? Im Dezember 1917, noch vor Auflösung der Konstituierenden Versammlung, vor der Nationalisierung des Auslandskapitals verhandelten bereits die Verbündeten von Nikolai II. und Kerenski über die Aufteilung Rußlands in Einflußsphären, da sie nicht an einen längeren Bestand der Sowjetmacht glaubten. Außerdem sahen sie sich durch die militärische und politische Lage dazu gezwungen, Rußland noch wenigstens für ein paar Monate im Krieg zu halten, zumindest an der Wolga oder im Ural, um bis zum Eintreffen der amerikanischen Truppen in Europa Deutschlands Kräfte zu binden. Wird daraus etwa nicht klar, daß in einer solchen Situation der russischen Konterrevolution die Unterstützung in jedem Falle garantiert war, selbst wenn die Bolschewiki die maßvollsten und akkuratesten Revolutionäre der Welt gewesen wären? (...)

Was die innere Kräftekonstellation betrifft, so muß gefragt werden: Wer sonst von den Gegnern der Bolschewiki verfügte damals über die reale Unterstützung der Mehrheit? Die Menschewiki vielleicht, die Sozialrevolutionäre oder gar die Konstitutionellen Monarchisten, deren Überlaufen in das Lager der Konterrevolution man immerhin noch mit dem "Himmelssturm" und seinen Verlusten in Zusammenhang bringen kann? Aber warum hielten sich dann diese Parteien nicht einmal in den reichen Regionen des Landes wie Sibirien oder in der Ukraine an der Macht, wo die mittlere Bauernschaft zunächst hinter ihnen stand?

Überall wurde ihre Herrschaft schon nach einigen Monaten durch die von Militärs und Gutsbesitzern gestützten Regimes beseitigt und von Diktatoren wie Koltschak und Denikin übernommen, wobei diese Diktatoren auch prompte Unterstützung seitens der "demokratischen" Westmächte in einem Ausmaß erhielten, daß Churchill zu Recht von den Denikin-Leuten behaupten konnte: "Das ist meine Armee." Nur den Bolschewiki gelang es, den Kampf des Volkes - eben jener Bauern - gegen die weißgardistischen Diktatoren anzuleiten und zum Sieg zu führen.

So sehen wir, daß der revolutionäre Maximalismus der Massen kein Irrtum war. Der "Sturm des Himmels" erwies sich, im Gegenteil, als einzige Weise, das Land aus der Ausweglosigkeit zu reißen. Die Situation war also nicht absolut ausweglos, und ein Ausweg aus ihr war gerade dadurch möglich, daß die Kräfte der Ausgebeuteten und Unterdrückten verzehnfacht wurden, indem die Widersprüche zwischen ihnen und dem System der Ausbeutung und Unterdrückung als solchem in den Vordergrund gerückt wurden. Nur in einer solchen Situation formieren sich Parteien und wachsen Führer heran, die in der Lage sind, dem "Himmelssturm" Organisiertheit und Zielbestimmtheit zu verleihen und eine organische Verbindung mit der revolutionären Massenbewegung einzugehen.

Übersetzung von Gudrun Havemann