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KOMMUNISTISCHE STREITPUNKTE - Zirkularblätter - Nr. 2 - 12.01.1999 - Onlineversion

Klaus Herrmann
 

Anmerkungen zur Debatte 

 
U., den 11.12.98

 
 
 

Lieber Daniel, 

zu einer programmatischen Debatte, wozu Du das initiierende Stichwort gegeben hast, steht ein politizistisches Theorieverständnis quer. Das heißt aber auch: ohne einen reflektierten Praxis-Begriff keine Erneuerung kommunistischer Programmatik. Theorie ist kein Pensum, das sich unter den unbestreitbaren Nötigungen des Tages im Schnellverfahren erledigen läßt. Der Siegeszug des Reformismus im Zeichen von Pragmatismus und die Pervertierung des Marxschen Praxis-Gebots zum Denkverbot sind einander komplementär. Die Floskel vom Debattierclub, der man nicht sein will, ist die allergwöhnlichste Form, Nachdenken, theoretische Besinnung abzuwehren. Aber damit stecke ich schon mitten in einer Kritik an dem Papier von Markus bzw. der "Gruppe Arbeitermacht". Angeregt durch Deinen Anruf ein paar Bemerkungen dazu.

Debattierclubs waren das Ferment der Großen Französischen Revolution. Die Studentenrevolte vom Ende der sechziger Jahre wäre vergessene Episode, wenn sie nicht in "Debattierclubs" wie etwa dem Republikanischen Club Berlin Fleisch angesetzt hätte. Das Personal der Oktoberrevolution hat sich im Meinungsstreit, in Zirkeln und Debattierclubs geschult. Umgekehrt hat die von der Vorstandsetage aus aufgerichtete Vogelscheuche Debattierclub kräftig dabei mitgeholfen, die PDS innerhalb kürzester Frist in einen einstimmigen Gesangsverein zu transformieren. Trotzkis Problem, sich als besserer Bolschewist zu gerieren, in dem Versuch zu retten, was dann doch nicht mehr zu retten war, ist nicht mehr unser Problem. 

Sozialstaat und Klassenkompromiß sind ideologische Begriffe, die sich selbst einer bestimmten, affirmativen Interpretation des Kapitalismus danken. Ähnliches gilt für andere verbale Emanationen des Zeitgeistes: Akkumulationszyklus und Regulation, Fordismus, Modell und Projekt. Es ist ein Irrtum zu glauben, daß man sich solcher Begriffe aus dem Zeitsprech, gewissermaßen als Abkürzungen zum Zweck schnellerer kommunikativer Verständigung, unbeschadet bedienen kann. Wozu sich solche Sprachfloskeln eignen, ist, über Untiefen hinwegzugleiten, Probleme unterzupflügen, argumentative Risse und Brüche zu verkleben. Als die Linke Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre die Phrase vom Sozialstaat kritisiert und zurückgewiesen hat, war sie da so verblendet, nicht zu erkennen, daß sie Zeitgenosse und Zeitzeuge seiner goldenen Tage sei? Tatsächlich verhält es sich doch so, daß die restaurative Wende vom Ende der 70er Jahre auch vor Sprache und Begriffen nicht Halt gemacht hat. Zugleich liegt die Vermutung von Reaktionsweisen auf seiten derer, die sich der Verliererseite zurechnen müssen, nahe, sich mangels Erfolgen wenigstens imaginierte gutzuschreiben. Der Sozialstaat mußte nicht zur reaktionären Utopie werden - um in Anlehnung an die Texte zu formulieren -; er war niemals etwas anderes. Soziale Leistungen des bürgerlich-kapitalistischen Staates werden aus einem wachsenden Steueraufkommen aufgebracht, wobei sich die Anteile am Steueraufkommen zwischen Kapital- und Lohneinkommen ständig zuungunsten des letzteren verschoben haben; ob es sich dabei um eine Jahrhunderttendenz handelt, wäre zu untersuchen. Auf die Distribution des Steueraufkommens haben die Lohnabhängigen keinen Einfluß; da alle Erpressungsmittel gegenüber Staat und Lohnabhängigen auf der Kapitalseite konzentriert sind, kann sich daran unter kapitalistischen Verhältnissen auch nichts ändern. Die Sozialstaatsillusion dürfte auf Projektionen beruhen. In einer Gesellschaft, in der sich Kapitalakkumulation mit Produktivitätsfortschritten verbindet, partizipiert daran mehr oder minder auch die Gesellschaft im ganzen. 

Die Rede vom Klassen- oder Sozialkompromiß ist nicht weniger ideologisch. Reformisten und Reformalternative, wie sie sich heute nennen, haben guten Grund alles, was aus sozialen Kämpfen resultierte, zur Frage von Kompromissen umzulügen, die bekanntlich an Verhandlungstischen geschlossen werden. Vom Begriff des Kompromisses ist Willentlichkeit und Bewußtsein nicht wegzudenken. Objektiviert begegnet Kompromiß nur in der Sprache der Psychoanalyse, als Kompromißbildung und meint ein Defizitäres. Am Verhandlungstisch um Löhne und Arbeitsbedingungen werden zwar Kompromisse geschlossen, aber keine der Klasse. Anderes behaupten hieße, die Klasse zum Subjekt von Befriedungsstrategien zu erklären, was sie gerade nicht ist. Auch einen imperialistischen Klassenkompromiß hat es nie gegeben. 

Wenn man von Fällen der Bestechung absieht, teilt das Kapital seinen Mehrwert nicht mit der Arbeiterklasse und hat das zu keinem Zeitpunkt getan. Kapitalistische Produktions- und Verkehrsverhältnisse erweitern sich durch Vervielfältigung der Quellen der Mehrwertabpressung, durch kapitalistische Neubildungen ("Existenzgründer") und ungleichen Tausch. Ungleicher Tausch hat die Lebensverhältnisse in den industriekapitalistischen Ländern allgemein um soviel verbessert, wie er die Völker der kolonisierten Länder um Chancen von Entwicklung und Eigenkapitalbildung gebracht hat. Mit Beginn der imperialistischen Ära und dem Massenexport von Infrastruktur in die kolonialisierten Länder (Eisenbahnen, Telegraph) hatte sich der Kreis der Nationen, die am ungleichen Tausch partizipieren, stark ausgeweitet. Bis in die 30er und 40er Jahre unseres Jahrhunderts hinein hatte der kolonialistische Imperialismus seine sichtbare Repräsentanz allüberall und bis in das letzte Dorf in Gestalt des "Kolonialwarenladens", Vorgänger von Lebensmittelgeschäft und heutigem Supermarkt. Von der Dominanz monopol- und finanzkapitalistischer Strukturen in der imperialistischen Ära führt kein Weg zum "konterrevolutionären Klassenkompromiß", es sei denn man unterstellt, daß sich die Klassen den Monopolprofit teilen. 

Es gibt Widersprüche und Widersprüche; nämlich solche, die sich als einfache logische auflösen lassen, und andere, in denen sich ein Reales ausdrückt und die man besser nicht formulierend zu schlichten versucht. So halte ich Deine Zustandsbeschreibungen über die Verfassung der Linken für zutreffend. Mit voluntaristischen Kraftakten ist gar nichts getan. Es bringt auch nichts, Dir die Lust an folgenlosem Herumdiskutieren zu unterstellen. "Auszugehen ist doch davon, daß es jetzt schon Jahrzehnte keine revolutionäre Partei mit kommunistischem Programm und nennenswertem Masseneinfluß gibt ..." (Beitrag von "Arbeitermacht" in den "Streitpunkten"; Hervorh. im Text, 65, Spalte 1). Weil es sich so verhält, ist es aber auch sinnlos, die Partei als "Akteur" zum Adressaten der programmatischen Punkte zu machen: "Ohne diesen Akteur wird unklar, an wen sich eigentlich die programmatischen Punkte richten, sie werden nicht mehr als eine Sammlung von Beiträgen zur Theorie des Übergangs zum Kommunismus." (Ebd. 62, Sp. 2) Als ob Beiträge zu einer solchen Theorie, Triftigkeit vorausgesetzt, etwas gering zu Achtendes wären! 

Ich unterbreche an dieser Stelle. Für eine eventuelle Fortsetzung habe ich mir Stichpunkte gemacht wie: Umkehrung des Verhältnisses von Ökonomie und Klassenbewegung, Idealisierungen mit historischem Materialismus unverträglich, Akkumulation kein zirkelhaften Kreiseln, Eurozentrismus, unzulässige Verallgemeinerungen zum Stalinismus. Natürlich werden durch meine Kritikpunkte teilweise auch andere Texte in den "Streitpunkten" getroffen. Die Schwierigkeiten, sich dazu in die Position des Kritikers zu setzen, sind nicht eben gering. Wobei ich nicht zuletzt an die Tonlage denke, in der eine Debatte wie die unsere zu führen ist, damit es nicht destruktiv wird. Mal sehen, was sich bis zu unserer nächsten Tagung im April noch tut. Hoffentlich erlaubt mir meine gesundheitliche Verfassung teilzunehmen. 

Ich wünsche Dir und den anderen einen fröhlichen Jahreswend-Durchlauf. 

Für heute mit den besten Grüßen 
 


U., Ende Dezember '98

 
 
 

Lieber Daniel,

ich setze meine unterbrochenen Bemerkungen fort. In kapitalistischer Anwendung ist die Arbeitskraft variables Kapital und sonst nichts. Es ist das Interesse des Kapitals, daß es nach Quantität und Qualität in den für den Kapitalzweck erheischten Proportionen zur Verfügung steht. Das gehört zum Bedingungsgefüge von Kapitalakkumulation und solange Kapital produktiv akkumuliert erweist sich diese Bedingung offenbar als erfüllt. Die Anwendung der Arbeitskraft durch das Kapital als variables Kapital drückt ein rein ökonomisches Verhältnis aus, woran sich auch durch den Kampf um die Länge des Arbeitstags nichts ändert, es sei denn der Mehrwert des Kapitalisten würde durch einen verkürzten Arbeitstag um so viel verkürzt wie dieser. Im Unterschied zu aller anderen Ware verfügt der Arbeiter über die Potenz, um die Bedingungen, zu denen er seine Ware Arbeitskraft verkauft, zu kämpfen; in diesem Sinne steht bei dem Tauschakt Recht gegen Recht. Es läßt sich aus dem Vertragsrecht kein höheres Recht ableiten, das der Arbeiterklasse verbieten könnte, ihren Kampf um die Arbeitsbedingungen bis zum Bankrott der Kapitalistenklasse fortzusetzen bzw. zu steigern. 

Ich beziehe mich hier auf die von Dir mehrfach ("October Song", 9; "Streitpunkte 1", 11) herangezogene Stelle aus "Kapital I" (MEW 23, 249), in die Du mehr hineininterpretierst als dasteht: daß die Verwertungsbewegung des Kapitals, das ominöse automatische Subjekt, dem Klassenkampf unterworfen sei. Wenn mit paradoxen Formulierungen geholfen wäre, könnte man ebenso sagen, daß sich die Verwertungsbewegung des Kapitals den Klassenkampf unterwirft, indem sie die Ketten der Klasse vergoldet. Nur zur Erinnerung, wie differenziert komplexe Sachverhalte im "Kapital" zur Darstellung kommen, zitiere ich aus einem anderen Passus: "Die Notwendigkeit, das Fabrikgesetz aus einem Ausnahmegesetz ... zu verallgemeinern, entspringt, wie man sah, aus dem Entwicklungsgang der großen Industrie ... Es sind zwei Umstände, welche zuletzt den Ausschlag geben, erstens die stets neu wiederholte Erfahrung, daß das Kapital, sobald es der Staatskontrolle nur auf einzelnen Punkten der gesellschaftlichen Peripherie anheimfällt, sich um so maßloser auf den andern Punkten entschädigt, zweitens der Schrei der Kapitalisten selbst nach Gleichheit der Konkurrenzbedingungen, d.h. gleichen Schranken der Arbeitsexploitation." (MEW 23, 514f.) 

An den Ausnahmebedingungen eines noch nicht globalisierten Kapitalverhältnisses hatte die Arbeiterklasse der Metropolen 100 bzw. 150 Jahre lang teil. Das steht heute in Frage. Und damit jeglicher Reformismus. In den "Thesen" und in "Im Westen nichts Neues" wird diese Dimension eines qualitativ Anderen und Neuen angesprochen (z.B. "Streitpunkte 1", 29), in der Stellungnahme der "Gruppe Arbeitermacht" dagegen als letztlich irrelevant hinwegdisputiert. 

Nach meinem Eindruck lag die politische Instrumentalisierung der Revolutionstheorie, wie sie sich objektivistisch verkleidet in der berühmten Dialektik von Reform und Revolution zu erkennen gibt, Marx und Engels fern. Der späte Engels, der den Revisionismusstreit nicht mehr erlebt hat, hat noch parlamentarische Mehrheiten für die Revolutionspartei für möglich gehalten, wenn nicht erwartet (vgl. MEW 7, 524f.). Vom Generalstreik als Zwischenglied zum bewaffneten Aufstand und zur proletarischen Revolution: diese Revolutionskonzeption konnte sich auf die Erfahrungen der russischen Revolution von 1905 berufen. In der Entgegensetzung von Revolution und Sozialreform (Rosa Luxemburg) dürften sich schon die Nöte gespiegelt haben, in die die Revolutionspartei in der imperialistischen Ära in Zentraleuropa geraten war. Reform war dann, vor ihrer Verkehrung ins reaktionäre Gegenteil, ein rechtssozialdemokratischer Begriff. Für eine erfolgreiche "Dialektik von Reform und Revolution" gibt es meines Wissens kein einziges Beispiel; dafür um so mehr für Abbrüche und Demobilisierungen von Massenaufbrüchen unter Reformversprechen. 

"Nicht eine sogenannte ‚Verbindung' des berüchtigten ‚Kampfes um Reformen' mit formelhaft abstrakter Reklame für eine darüber hinausgehende ‚Revolution' ist heute revolutionär, sondern die Zerlegung und Entsorgung dieses klapperigen Konstrukts ..." ("Streitpunkte 1", 30). Stichhaltig sind die von der "Gruppe Arbeitermacht" vorgetragenen Argumente nur dort, wo sie übertriebene Formulierungen in Deinen Texten zurückweisen (daß Reformziele auch in Bescheidenster Einzelheit "nur noch revolutionär zu verwirklichen" seien usw.), nicht aber in der Verteidigung jenes "klapperigen Konstrukts". Auch dort macht man sich kaum geringerer Übertreibungen schuldig ("Forderungen nach Arbeitszeitverkürzung, zum Erhalt bestimmter Sozialleistungen wie der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, oder nach dem Erhalt von Flächentarifen können heute letztlich nur durch ihre Internationalisierung und mit Formen von Arbeiterkontrolle durchgesetzt werden ..."; "Streitpunkte 1", 64), läßt man Paradoxa wie das von den erlittenen Teilerfolgen (auch wenn das Vorantreiben unter der revolutionären Gesamtperspektive "an irgendeinem Punkt einmal Rückschläge oder gar doch Teilerfolge erleiden sollte", ebd.) unaufgelöst und deutet den "verhängnisvollen Kreislauf", den es nach Engels Worten zu durchbrechen gilt (s. das Engels-Zitat im Text, ebd.), affirmativ um. Letzteres stimmt zusammen mit der Vorstellung des Akkumulationszyklus als der Wiederkehr des Immergleichen: "Gelingt es dem revolutionären Proletariat nicht, diese Krise - gemeint ist die Überakkumulationskrise - in revolutionärer Weise zu lösen, wird der Imperialismus jeweils in der Lage sein (nach welchen Aktionen zur Vernichtung von Überschußkapital auch immer) einen neuen Klassenkompromiß zu finden, um seine Kapitalakkumulation wieder in ruhigere Bahnen zu lenken." (ebd. 57.) Was gegen die "Thesen" geltend gemacht wird: "Das Problem ist, daß die Thesen eine konkrete Perspektive für die Umwandlung aktueller Kämpfe in revolutionäre Klassenkämpfe nicht aufzeigen" (64), gilt auch für ihre Kritiker. Wobei es ja keine Schande ist, daß niemand von uns eine revolutionäre Strategie aus dem Hut zaubern kann. 

Aus dem Prozeß fortschreitender Kapitalakkumulation läßt sich heute weniger denn je auf fortschreitende Verallgemeinerung der im Kapitalverhältnis angelegten Vergesellschaftungstendenz schließen. Maßgebend dafür ist die enorm gesteigerte Produktivkraft der Arbeit und daß industrielle Produktion und Großproduktion nicht mehr konzentriert ist an einigen Punkten der Erde und auch nicht mehr Privileg einer oder mehrerer Nationen (England bzw. Westeuropa/USA) ist. So ist das industrielle Proletariat bei absoluter Zunahme weltweit in den kapitalistischen Kernländern geschrumpft. Zugleich schreitet die Konzentration des Kapitals schneller denn je voran, so daß eine immer kleinere Zahl von Superkonzernen imstande ist, die weltweite zahlungsfähige Nachfrage zu befriedigen. 

Der metropolitane Blickwinkel führt zu perspektivischen Verzerrungen, zu denen es reichlich Belege sowohl in Deinen Texten wie in dem der "Gruppe Arbeitermacht" gibt. "Der erste Anschein der politischen Lage 150 Jahre später (d.h. nach dem "Manifest" von 1848) - und zwar im globalen Maßstab - spricht nun freilich dafür, daß die Begründer des wissenschaftlichen Kommunismus gerade in diesem essentiellsten Punkt ihrer revolutionären Theorie (wobei hier unklar bleibt, ob der Bezugspunkt das Zitat aus dem "Manifest" ist oder die von Dir gegebene Interpretation zur Textstelle MEW 23, 249) gründlich daneben gelegen haben. Die riesige Mehrheit der Menschheit in den Metropolen des Weltkapitalismus lebt vom Verkauf ihrer Arbeitskraft..." ("Streitpunkte 1", 11). Da die Mehrheit der Menschheit gar nicht in den Metropolen lebt, straft sich die Rede vom globalen Maßstab sogleich selbst Lügen. - Auch ohne jede "Internationalisierung" ist die unverkürzte "Lohnfortzahlung im Krankheitsfall" in unserem Land gerade wieder beschlossen worden, während an zahllosen Punkten der Erde um die allerelementarsten Arbeiterrechte wie das nach Koalitionsfreiheit gekämpft wird, zu schweigen von staatlich garantierten Sozialleistungen und Flächentarifen. Am krassesten macht sich der metropolitan verengte Blick geltend, wo es um den sogenannten Realsozialismus und seinen Zusammenbruch geht. "Dem Fossil, das da zertrümmert wurde, auch nur eine Träne nachzuweinen, hätte eine revolutionäre Linke, so es sie denn gäbe, selbstverständlich keinen Grund"; sogar ein "Stück historischer Vernunft" soll bei dieser Zertrümmerung im Spiel gewesen sein (ebd., 24). Solche Abstraktion von allem, was Existenz und Zusammenbruch des Realsozialismus im internationalen Zusammenhang, für Weltproletariat und Weltkapital, impliziert haben, wird nur noch durch die Dämonisierung des Realsozialismus in der "Stellungnahme" überboten. So falsch wie es ist, jenen Zusammenbruch als "Zusammenbruch des Stalinismus" zu bezeichnen (ebd., 56), so falsch ist im nachstehend zitierten Satz auch die Behauptung vom Zusammenbruch der sozialdemokratischen Arbeiterbürokratien: "Gerade das Zusammenbrechen der alten Arbeiterbürokratien - sowohl der stalinistischen wie der sozialdemokratischen - ermöglicht eine neue Dynamik dieser (Klassen-) Kämpfe..." (ebd. 64). 

Ungleicher Tausch und Werttransfers, die Unterbrechung der zyklischen Bewegungen des Kapitals durch Weltkriege und ihre Abschwächung durch Staatseingriffe, schließlich die gesteigerte Produktivkraft der Arbeit mit ihren Folgen für die Zusammensetzung der Arbeiterklasse wie für die Gesamtzusammensetzung des Kapitals nach seinem konstanten und variablen Bestandteil - das sind die von den realen Verhältnissen als Jahrhunderttatsachen sich aufdrängenden Themen, denen sich eine Debatte um die Reformulierung des kommunistischen Programms zu stellen hat, will sie nicht bei der Rekapitulation einiger allgemeiner Wahrheiten des Marxismus stehenbleiben. Dafür, daß der viel gescholtene Realsozialismus einige dieser allgemeinen Wahrheiten in bürokratische Verwaltung genommen hatte, bekommt er heute mehr Prügel als verdient. Jede monokausale Auffassung der Geschichte des Jahrhunderts, der Akkumulationsbewegungen des Kapitals oder des Realsozialismus und seines Zusammenbruchs führt in die Irre und kann sich nur vor der Wirklichkeit blamieren. 

Was Modell und Projekt zu Allerweltsbegriffen gemacht hat, ist, daß darin historische Prozesse, um ihren Eigensinn gebracht, nach dem Muster der ihre Zwecke bewußt setzenden Ratio uminterpretiert werden. Vorzüglich wird dieses Quidproquo von der bekannten Marx-Karikatur persifliert, die diesem in den Mund legt, auch mal so eine Idee gehabt zu haben. Dankt sich der Lacherfolg hier noch der Ambivalenz, so ist alle Doppelbödigkeit bei der Umdeutung der Revolution in etwas Kopfgebürtiges, ein Projekt" getilgt. Ähnliches gilt für die Gipsabgußfigur Modell, aus der alle Subjekt-Objekt-Dialektik ausgetrieben ist. So beliebt sind diese Begriffe durch ihre Tauglichkeit, sei's zu Denunziationszwecken, sei's zur idealistischen Überhöhung des Subjekts. Es soll in den Köpfen von Leuten richtig oder nicht richtig getickt haben, als sie sich ein Modell Realsozialismus ausgedacht oder dem Kapitalismus ein fordistisches Akkumulationsmodell verpaßt haben. Die Umdeutung der Geschichte in einen Paukboden für Revoluzzer und Reformköche läßt für den historischen Materialismus und materialistische Dialektik keinen Raum. 

Der Meinung, daß der Zusammenbruch des Realsozialismus unausweichlich gewesen sei, habe ich schon einmal widersprochen ("Von Konsensen und Differenzen. Beitrag zur März-Tagung '98", S. 4). Die Sowjetunion war keine durch Aushungerung zur Übergabe reife Festung. Unausweichlich war nur die Preisgabe einer Militärdoktrin, die sich darauf versteift hatte, Rüstungspolitisch und militärstrategisch mit den USA gleichzuziehen. Großmannssucht kommt vor den Fall, indem sie sich in kopflose Panik verkehrt. Nach diesem Schema hat sich der Zerfall des europäischen Realsozialismus vollzogen. 

Apologie und abstrakte Negation sind gleichermaßen einer realistischen Einschätzung des Realsozialismus abträglich. In verallgemeinertem Gebrauch gibt sich der Begriff selbst als ein Notbehelf zu erkennen, weil offen bleibt, worauf er sich bezieht: auf die Periode insgesamt, die mit der Oktoberrevolution begann, oder nur auf deren letzte Phase, der durch die Liquidation der Sowjetunion und der KPdSU der Schlußpunkt gesetzt wurde. Es gibt keinen alternativen oder konkurrierenden Allgemeinbegriff dafür. Staatssozalismus und Staatskapitalismus sind als Begriffe mit einem weiteren Bedeutungshorizont zu unspezifisch. Wenn man der Geschichte eine Nase drehen will mit einem "Ätsch, es war ja gar nicht so gemeint", dann spricht man wie in der PDS von einem Sozialismus-Versuch. Stalinismus ist als deskriptiver Begriff zu weit und als theoretischer zu unscharf. Am ehesten dürfte man es treffen, wenn man sich einmal auf das fragwürdige Geschäft von Definitionen einlassen will, Stalinismus als das Gesamtensemble von Herrschaftstechniken bei der Errichtung und Ausübung der persönlichen Diktatur Stalins zu definieren, von denen einige seine Herrschaft überdauert haben und bis zum bitteren Ende nicht oder nur halbherzig liquidiert wurden. So war die Machtkonzentration beim letzten Generalsekretär, um einsame Entscheidungen und Willkürentscheidungen zu treffen, nicht geringer als bei Stalin. 

Im globalen Gesamtzusammenhang war der Zusammenbruch des Realsozialismus gleichbedeutend mit der Beseitigung der mächtigsten Schranke für die Kapitalexpansion, die ihr in diesem Jahrhundert und überhaupt erstanden war. Das hat trotz Überakkumulationskrise den Schein von Lebenskraft und Unüberwindlichkeit des Kapitalismus verstärkt mit fatalen Folgen für alle sozialrevolutionären Bewegungen. Zu diesen Folgen gehört auch die Rückverwandlung des Kommunismus in Utopie in den dominierenden linken "Diskursen". Statt eine neue Dynamik der Klassenbewegung freizusetzen, schossen reformistische Illusionen ins Kraut wie niemals zuvor. Folgerungen, wie sie in den Texten aus dem Zusammenbruch des Realsozialismus für die Metropolen gezogen werden, sind wenig plausibel oder schlecht abstrakt. "Die Existenz von stagnierenden Arbeiterstaaten in einem in die Krise geratenen Weltkapitalismus wurde zu einem unhaltbaren Widerspruch. Andererseits stellt der Zusammenbruch dieser Staaten noch keine grundlegende Verschiebung im Verhältnis der Klassenkräfte zugunsten der Bourgeoisie dar, solange diese nicht die wesentlichen Elemente der Krise der Akkumulation ihres Kapitals lösen kann." ("Streitpunkte 1", 56) Die Existenz von stagnierenden Arbeiterstaaten steht zu einem in die Krise geratenen Weltkapitalismus nicht im Widerspruch - das Umgekehrte wäre plausibler: daß ein durch Krise geschwächter Kapitalismus Arbeiterstaaten bei der Überwindung von Stagnation hilfreich ist. Entscheidend für das Kräfteverhältnis der Klassen ist, ob sich die kapitalistische Krisensymptomatologie weltweit verschärft oder abschwächt, wohingegen es sinnlos ist, ein Faktum zu bestreiten, und mehr als fragwürdig, der Bourgeoisie eine fast übernatürliche Befähigung zum Krisenmanagement zu konzedieren. Auch den immer wieder unterstellten unmittelbaren Zusammenhang zwischen Existenz und Zusammenbruch des Realsozialismus und Klassenbewegung bzw. Klassenbefriedung gibt es so nicht. Mit Sicherheit hat die Existenz der DDR nicht die "Entwicklung der Produktivität der vom deutschen Kapital kommandierten Arbeit" induziert (ebd. 17), auch wenn sie es sehr schwierig gemacht hat, den Arbeitslohn unter den Wert der Arbeitskraft zu drücken, weshalb es lange Zeit der Stolz der westdeutschen Gewerkschaften gewesen ist, die Lohnbewegung an den Produktivitätsfortschritt gebunden zu haben. 

Obwohl der Kreis der in den "Streitpunkten" angeschnittenen Fragen auch nicht annähernd ausgeschritten ist, breche ich ab. Mehr am Herzen läge mir, daß eine wenig konturierte Debatte stärker strukturiert würde. Wie denkt man in Hamburg, Kiel, Kassel usw. darüber? 

[...]
Jede Auseinandersetzung bringt es mit sich, daß auf Differenzen ein schärferes Licht fällt als auf Verbindendes. Der einzig sichere Test darauf, wieweit Gemeinsamkeiten tragen, ist eigentlich nur kooperative Arbeit an Texten bzw. an deren Redaktion. Ob wir je dahin gelangen, weiß ich nicht. Was wünschenswert wäre, muß ja nicht auch möglich sein. Eine Auseinandersetzung mit den vorliegenden Texten bietet kaum Ansatzpunkte, um Ökonomie kritische Überlegungen zu Überakkumulationskrise und Kapitalbewegung weiterzutreiben. Um diesen Aspekt stärker in die Debatte einzubringen, müßte ich zunächst schon Gesagtes rekapitulieren, was nicht ohne eine gewisse Umständlichkeit abginge. Und jedenfalls den durch die Beiträge in den "Streitpunkten" gesteckten Rahmen bei weitem überschreiten würde. Von den "Aktionen zur Vernichtung von Überschußkapital" (Markus) werden in der kommenden Entwertungskrise mit Sicherheit die Ausleiher von Geldvermögen, größerem, kleinem und ganz kleinem, zuerst und vor allem betroffen sein. Die Zinspolitik in den ausschlaggebenden Währungsräumen und das anhaltende Börsenfieber legen die Vermutung nahe, daß wir gerade Zeugen des Hinüberwachsens der Überakkumulationskrise in die Entwertungskrise sind. Was bitter not täte, wäre Klassenanalyse, worunter ich aber nicht die ominöse Suche nach dem Proletariat verstehe. Man bringt analytische Kategorien um ihre Trennschärfe, wenn man Lohnabhängigkeit mit dem Begriff der Mittelschicht konfundiert, wie Markus das getan hat (55, 58). Andererseits klingt der Terminus "Kleinbürger" heute seltsam harmlos, hausbacken, wenn man an die nur noch reaktionäre Rolle des gewerblichen Mittelstands denkt. Die sich nach oben immer stärker zuspitzende Pyramide des großen Kapitals ruht auf diesem Sockel, dem gewerblichen Mittelstand, den "Krautern", wie Du sagst, und nicht auf dem von der bürgerlichen Sozialforschung entdeckten "neuen Mittelstand". Ein reformuliertes kommunistisches Programm befände sich auf der Höhe der Zeit, wenn es als Provokation ankäme; das möchte ich heute fast zum Kriterium machen. Alles Mittlere und Vermittelnde ist vom Übel. 
Ich zweifle nicht daran, daß der Platz revolutionärer Marxisten in allen fortschrittlichen Bewegungen ist, so wie es das Manifest von 1848 zu seiner Zeit und auf seine Weise gefordert hat. Für das, was an eigenständiger Organisierung nötig ist, bieten Foren, Clubs, Zirkel, wo immer möglich eng miteinander vernetzt, den geeigneten Rahmen. Für Marx und Engels war die Organisationsfrage kein Dogma und ich kann keinen vernünftigen Grund erkennen, warum wir ein solches daraus machen sollten. Was die Rolle des Störenfrieds in der PDS betrifft, so hat mich nur mein labiler Gesundheitszustand genötigt, davon (vorerst oder endgültig?) Abstand zu nehmen. 
 
 
 

Mit den besten Grüßen von U. nach K. 
 
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