ED 18.5.1968 40/II


KARL DIETRICH WOLFF

UNSER WIDERSTAND BEGINNT ERST


Der Bundesvorsitzende des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), Karl-DietrichWolff, hielt auf der Abschlußkundgebung des Sternmarsches der Notstandsgegner am 11. Mai in Bonn folgende im Wortlaut dokumentierte Rede:

Die radikal demokratische Opposition sieht sich heute dem zynischen Versuch gegenüber, brutale Gewalt der herrschenden Klasse formal in der Verfassung zu verankern. Wieder einmal will eine deutsche Regierung 'Schutzhaft' verordnen. Wie in Griechenland ist in Mitgliedsstaaten des angeblich freiheitlichen Verteidigungsbündnisses der NATO nun auch in Deutschland Zwangsarbeit wieder möglich. Der Staat wird nach Belieben wieder das große "Militärzuchthaus der Arbeit", von dem Lenin schon 1916 spricht.

Wer nicht pariert, wird vom Werkschutz, Bundesgrenzschutz und Bundeswehr eingeschüchtert oder schließlich zusammengeschossen. Der Innensenator von Westberlin, Neubauer, hat bekanntlich gemeint, auf ein paar Tote komme es nicht an. Diese verbrecherische Gleichgültigkeit wird in der Notstandsplanung technisch perfekt in nationalem Maßstab sichtbar. Die Bürgerkriegsplaner haben selbst das Grundgesetz zum alten Eisen geworfen; jetzt wollen sie uns zur Verfassungstreue ermahnen. Aber die Notstandsstrategen haben die Rechnung ohne uns alle gemacht. Wir werden nicht in aller Ruhe zusehen, wie ein Parlament zum zweiten Mal in der deutschen Geschichte sich selbst vollends überflüssig macht und uns die neue Diktatur beschert.

In der Konfrontation, der wir uns ausgesetzt sehen, sind wir stärker und schwächer zugleich geworden. Wir sind schwächer geworden: der sozialdemokratische Parteiapparat hat mit der Tradition des demokratischen Widerstandes der Arbeiterbewegung endgültig gebrochen und ist heute ganz auf die Seite der Konterrevolution übergegangen. Wenn Otto Wels in seiner mutigen Rede 1933 bei der Verabschiedung der Hitlerschen Ermächtigungsgesetze noch sagen konnte: "Die deutsche Sozialdemokratie ist zwar wehrlos, aber nicht wehrlos", so könnte die heutige Parteiführung, wenn sie ehrlich wäre, nur das Gegentefeststellen. Wir sind schwächer geworden: wir haben die schleichende Militarisierung der Betriebe bei der Aufstellung von Werkschutz-Privattruppen nicht verhindert. Wir sind schwächer geworden: Genosse Otto Brenner und Kollege Rosenberg sind heute nicht bei uns, wo sie hingehören. Wir sind auch stärker geworden: die Bewegung gegen die Wiederaufrüstung verlor ihre Kraft, nachdem die Wehrpflicht durchgesetzt war. Unsere Opposition wird weiterreichen als bis zur Verabschiedung dieser Diktaturgesetze. Wir sind stärker geworden: wir sind heute hier mit Tausenden von Sozialdemokraten und Gewerkschaftskollegen zusammen, die ihre Verantwortung für ein demokratisches und sozialistisches Deutschland über Partei- und Verbandsloyalität stellen. Wir sind stärker geworden: zum ersten Mal seit 1848 steht die große Mehrzahl der deutschen Studenten und Schüler nicht auf der Barrikadenseite der Reaktion. Wir sind stärker geworden: wir haben gelernt, unsere Forderungen nicht mehr nach dem auszurichten, was die Abs, Benda, Kiesinger & Co. uns im Rahmen von Rüstungswirtschaft, Devisenhilfe für den Krieg der Amerikaner in Vietnam, kapitalistischen Rezessionen zugestehen können. Wir haben gelernt, Forderungen an unseren ungeheuren historischen Möglichkeiten zu messen. Das ist nicht utopisch. Es ist eher utopisch, wenn die herrschende Clique meint, unsere Zukunft auf Dauer verhindern zu können.

Kollegen, Genossen, wir haben einen Teil der Notstandsgesetzgebung hinausschieben können. Wir sind nicht stark genug gewesen, die Texte vom Tisch zu wischen und ihre Verabschiedung endgültig zu verhindern. Aber unser Widerstand, den wir an unseren Arbeitsplätzen in Betrieb, Schule und Universität tragen und dort selbständig organisieren: er beginnt erst. Der Widerstand verstärkt sich im sicheren Wissen, daß selbst eine vorläufige Niederlage gegen die Notstandsstrategen doch nur der Anfang für eine noch tiefere und endgültigere Niederlage der deutschen Bourgeoisie als 1945 sein kann. Aber unser Widerstand setzt früher an; Deutschland hat in diesem Jahrhundert schon zuviel Blut und Tränen gesehen. Werden sie es wagen, ganze Lehrlingsgruppen eines Betriebs, ganze Schulklassen, ganze Lehrerkollegien, ganze Universitätsseminare zu verhaften und zusammenzuschlagen?

Wir müssen in einer breiten öffentlichen Diskussion von Arbeitern, Schülern und Studenten klären, mit welchen massenhaften Aktionen wir auf die Herausforderung durch eine 3. Lesung antworten werden. Wir müssen gemeinsam über die Organisierung des Widerstandes im autoritären Staat diskutieren. Wir können heute noch nicht fertige Rezepte und Modelle vorweisen. Wir wollen deshalb gemeinsam im Anschluß an die Kundgebung diese Diskussion führen. Wir jedenfalls werden zur geplanten 2. Lesung am 15. Mai streiken, streiken an allen Universitäten, Hochschulen und Schulen. Ob mit oder ohne Zustimmung der Rektoren oder Ministerien. Und die Nachricht, daß auch in verschiedenen Betrieben Warnstreiks durchgeführt werden, ist die beste Nachricht, die wir heute bekommen haben. Und so wenig die Schüler auf Erlaubnis ihrer Lehrer warten, so wenig werden die Kollegen die Unternehmer fragen. Nur wir selbst können unsere Interessen wahrnehmen.