Am frühen Morgen des Montag wurde das Germanistische Seminar der
Freien Universität in Westberlin besetzt. Auf dem Dach wurde von Studenten
des Seminars die rote Fahne gehißt, das Seminar in "Rosa-Luxemburg-Institut"
umbenannt. Nachstehend dokumentieren wir wesentliche Auszüge aus einer Erklärung
der Seminars-Besatzung:
Am 29. Mai ist die dritte Lesung der Notstandsgesetze. Wir besetzen am 27.
Mai das Germanistische Seminar. Das Parlament wird sich am 29. Mai zum dritten
Mal die Notstandsgesetze widerstandslos vorlesen lassen. Der Notstand der
Demokratie wird durch die Notstandsgesetze zum gesetzlichen Zustand erhoben. Die
Notstandsgesetze stellen jede substanzielle Kritik vor die Waffen .der
Bundeswehr. Sie garantieren den Instrumenten der Herrschaft Objektschutz und
schaffen die legale Basis für den Klassenkampf von oben. Jeder Versuch
einer vernünftigen Änderung der Gesellschaft wird als Naturkatastrophe
bekämpft, fundamentale Opposition als kriminelle Handlung verfolgt. Die
Notstandsgesetze sind die realen Perspektiven unserer gesellschaftlichen
Entwicklung. Mit der dritten Lesung ist das protestierende Einwirken auf das
Parlament verabschiedet. Daß die Transformation der Demokratie in den
Notstandsstaat sich in schamloser Hast vollzieht, ist nicht nur Folge des
Zynismus der Herrschenden, sondern auch Folge der Angst vor der außerparlamentarischenOpposition.
Aus Angst, daß die Massen der Lohnabhängigen über kurz oder lang
die Machtfrage stellen, wirft die herrschende Gewalt den liberalen Schleier ab
und präsentiert ihre Bereitschaft zur nackten Unterdrückung als
Gesetz. Es gibt nur eine praktische Antwort auf die Faschisierung der
Gesellschaft: Die Organisation des Widerstandes.
Aber: Widerstand heißt mehr als Aktion und Widerstandshandlung gegen
die Verabschiedung der Notstandsgesetze. Widerstand bedeutet eine qualitative
Veränderung unserer politischen Praxis. Widerstand heißt mehr als
Umfunktionierung von Vorlesungen, mehr als Notstandsdiskussionen in den
Seminaren. Aus einem befristeten oder unbefristeten Verzicht auf die
Wissenschaft ergibt sich noch keine praktische Alternative. Eine Flucht aus der
Wissenschaft verändert nicht die Wissenschaft selbst. Notstandsdiskussionen
in den Seminarräumen aus dem aktuellen Anlaß der Faschisierung
unserer Gesellschaft kompensieren lediglich die methodische Entpolitisierung,
der sich unsere Wissenschaft verpflichtet hat.
Die Germanistik ist eine Wissenschaft, die in die Notstandsgesellschaft paßt.
Sie lehrt das Interesse an der Literatur als Desinteresse an der Gesellschaft.
Sie unterwirft uns der sinnlosen Prozedur, die Interpretation von Literatur und
das Herstellen von Literatur über Literatur als unendliche Aufgabe zu
betreiben. Die Germanistik erwartet von uns, eine längst abgedankte bürgerliche
Kultur fortgesetzt in der Innerlichkeit unserer Individualität zu
reproduzieren. Sie wird uns auch im Notstandsstaatlehren, aus der realen Zerstörung
individueller Existenzen ihren imaginären Reichtum zu beziehen. Der gegenwärtige
Zustand der Germanistik nimmt die Rolle der Wissenschaft im Notstandsstaat
vorweg: nicht nur yerzicht zu leisten auf die Frage nach demgesellschaftlichen
Sinn und der Wirksamkeit wissenschaftlicher Praxis, sondern die Praxis so
einzurichten, daß diese Frage gar nicht erst aufkommt.
Brauchte noch die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts die
Germanistik, um ihren ideologischen Bedarf zu decken, so steht hinter der
wissenschaftlichen Produktion der gegenwärtigen Germanistik kein
gesellschaftliches Interesse mehr. Die Gesellschaft subventioniert die Freiheit
einer Forschung, die Forschungsprobleme aufstellt, um forschen zu können.
So verhält sich die Germanistik zynisch zu dem emanzipatorischen Anspruch
der Wissenschaft. Ihre Produktion bedeutet Verschwendung von Kapital und
Verschleiß von Arbeitskraft. Aber wennder Kapitalismus auch nicht
interessiert ist an ihrer wissenschaftlichen Produktion, so ist er doch an den
menschlichen Produkten der Germanistik, an ihrer Charakterbildung interessiert.
Solange die Germanistik Charaktere produziert, die den sinnlosen Verschleiß
ihrer Arbeitskraft als Studium akzeptieren - und zwar für Zwecke, auf deren
Reflexion sie in .ihrer Wissenschaft zu verzichten angehalten sind - werden sie
sich den Verfügungen des Notstandsstaat widerstandslos unterwerfen. Die
herrschenden Produktionsverhältnisse des Faches Germanistik zerstören
die Ausbildung der intellektuellen Produktivkraft, brechen den Widerstand der
Vernunft gegen die herrschende Unvernunft.
Die Organisationdes Widerstandes gegen den Notstandsstaat muß die
organisierte Unvernunft zerstören. Wir müssen die Verfügung über
die Produktionsmittel erlangen, um endlich über uns selbst verfügen zu
können.
Wir besetzen am 27. Mai 1968 das Germanistische Seminar auf unbefristete
Zeit. Unsere Arbeit während der Besetzung wird sein: "Die Aufgaben der
Germanistik im Widerstand gegen den Notstandsstaat zu definieren."
|