ED v. 29.5.1968, Nr. 43/II


SEMINARBESETZUNG:
WISSENSCHAFT UND NOTSTANDS-GESELLSCHAFT


Am frühen Morgen des Montag wurde das Germanistische Seminar der Freien Universität in Westberlin besetzt. Auf dem Dach wurde von Studenten des Seminars die rote Fahne gehißt, das Seminar in "Rosa-Luxemburg-Institut" umbenannt. Nachstehend dokumentieren wir wesentliche Auszüge aus einer Erklärung der Seminars-Besatzung:

Am 29. Mai ist die dritte Lesung der Notstandsgesetze. Wir besetzen am 27. Mai das Germanistische Seminar. Das Parlament wird sich am 29. Mai zum dritten Mal die Notstandsgesetze widerstandslos vorlesen lassen. Der Notstand der Demokratie wird durch die Notstandsgesetze zum gesetzlichen Zustand erhoben. Die Notstandsgesetze stellen jede substanzielle Kritik vor die Waffen .der Bundeswehr. Sie garantieren den Instrumenten der Herrschaft Objektschutz und schaffen die legale Basis für den Klassenkampf von oben. Jeder Versuch einer vernünftigen Änderung der Gesellschaft wird als Naturkatastrophe bekämpft, fundamentale Opposition als kriminelle Handlung verfolgt. Die Notstandsgesetze sind die realen Perspektiven unserer gesellschaftlichen Entwicklung. Mit der dritten Lesung ist das protestierende Einwirken auf das Parlament verabschiedet. Daß die Transformation der Demokratie in den Notstandsstaat sich in schamloser Hast vollzieht, ist nicht nur Folge des Zynismus der Herrschenden, sondern auch Folge der Angst vor der außerparlamentarischenOpposition. Aus Angst, daß die Massen der Lohnabhängigen über kurz oder lang die Machtfrage stellen, wirft die herrschende Gewalt den liberalen Schleier ab und präsentiert ihre Bereitschaft zur nackten Unterdrückung als Gesetz. Es gibt nur eine praktische Antwort auf die Faschisierung der Gesellschaft: Die Organisation des Widerstandes.

Aber: Widerstand heißt mehr als Aktion und Widerstandshandlung gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze. Widerstand bedeutet eine qualitative Veränderung unserer politischen Praxis. Widerstand heißt mehr als Umfunktionierung von Vorlesungen, mehr als Notstandsdiskussionen in den Seminaren. Aus einem befristeten oder unbefristeten Verzicht auf die Wissenschaft ergibt sich noch keine praktische Alternative. Eine Flucht aus der Wissenschaft verändert nicht die Wissenschaft selbst. Notstandsdiskussionen in den Seminarräumen aus dem aktuellen Anlaß der Faschisierung unserer Gesellschaft kompensieren lediglich die methodische Entpolitisierung, der sich unsere Wissenschaft verpflichtet hat.

Die Germanistik ist eine Wissenschaft, die in die Notstandsgesellschaft paßt. Sie lehrt das Interesse an der Literatur als Desinteresse an der Gesellschaft. Sie unterwirft uns der sinnlosen Prozedur, die Interpretation von Literatur und das Herstellen von Literatur über Literatur als unendliche Aufgabe zu betreiben. Die Germanistik erwartet von uns, eine längst abgedankte bürgerliche Kultur fortgesetzt in der Innerlichkeit unserer Individualität zu reproduzieren. Sie wird uns auch im Notstandsstaatlehren, aus der realen Zerstörung individueller Existenzen ihren imaginären Reichtum zu beziehen. Der gegenwärtige Zustand der Germanistik nimmt die Rolle der Wissenschaft im Notstandsstaat vorweg: nicht nur yerzicht zu leisten auf die Frage nach demgesellschaftlichen Sinn und der Wirksamkeit wissenschaftlicher Praxis, sondern die Praxis so einzurichten, daß diese Frage gar nicht erst aufkommt.

Brauchte noch die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts die Germanistik, um ihren ideologischen Bedarf zu decken, so steht hinter der wissenschaftlichen Produktion der gegenwärtigen Germanistik kein gesellschaftliches Interesse mehr. Die Gesellschaft subventioniert die Freiheit einer Forschung, die Forschungsprobleme aufstellt, um forschen zu können. So verhält sich die Germanistik zynisch zu dem emanzipatorischen Anspruch der Wissenschaft. Ihre Produktion bedeutet Verschwendung von Kapital und Verschleiß von Arbeitskraft. Aber wennder Kapitalismus auch nicht interessiert ist an ihrer wissenschaftlichen Produktion, so ist er doch an den menschlichen Produkten der Germanistik, an ihrer Charakterbildung interessiert. Solange die Germanistik Charaktere produziert, die den sinnlosen Verschleiß ihrer Arbeitskraft als Studium akzeptieren - und zwar für Zwecke, auf deren Reflexion sie in .ihrer Wissenschaft zu verzichten angehalten sind - werden sie sich den Verfügungen des Notstandsstaat widerstandslos unterwerfen. Die herrschenden Produktionsverhältnisse des Faches Germanistik zerstören die Ausbildung der intellektuellen Produktivkraft, brechen den Widerstand der Vernunft gegen die herrschende Unvernunft.

Die Organisationdes Widerstandes gegen den Notstandsstaat muß die organisierte Unvernunft zerstören. Wir müssen die Verfügung über die Produktionsmittel erlangen, um endlich über uns selbst verfügen zu können.

Wir besetzen am 27. Mai 1968 das Germanistische Seminar auf unbefristete Zeit. Unsere Arbeit während der Besetzung wird sein: "Die Aufgaben der Germanistik im Widerstand gegen den Notstandsstaat zu definieren."