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Es war nicht zwölf Uhr mittags, sondern acht Uhr früh. Doch der
Sheriff des kleinen Städtchens unten im Westen wußte Bescheid: Sie würden
kommen. Und die braven Bürger, von denen viele nur vorsichtig die Gardine
zur Seite schoben, waren ebenfalls gewarnt. "An alle Haushaltungen"
war per Postwurfsendung schon einen Tag zuvor der Ruf ergangen: "Wer morgen
aufpaßt, parkt seinen Wagen nicht in den Straßen, schützt seine
Fenster, hält sich und seine Kinder fern..." Die gefährlichen
Burachen würden mit dem Zug aus Richtung Osten kommen. Das hatten die Bürger
in ihrer Zeitung gelesen. Und ihre Angst wuchs: Aus dieser Richtung war nur das
Schlimmste zu erwarten. Aber ein Mann unter ihnen war unerschrocken genug, der
Gefahr mutig ins Auge zu blicken: Der Sheriff...
Er wartete schon am Bahnhof als der Zug kam: Willy Weyer, für einen Tag
aktiver Sheriff im Bundesdorf, hatte für die Panikmache der CDU und der
Jungen Union, die in zehntausenden von Postwurfsendungen blanke Angst erzeugt
hatte, nur ein kaltes Frank-S-Thorn-Lächeln. Als bei der Ankunft des
Berliner Sonderzuges ein Grenzschutz-Hubschrauber auf Geheiß des
Bundesinnenministeriums über dem Bahnhof kreiste, zürnte Weyer gegenüber
Journalisten: "Er hat hier nichts zu suchen. Das empfinde ich als
Provokation." Er werde sofort Protest bei Benda einlegen. Viele Bonner aber
empfanden diese Luftüberwachung als sehr notwendig: Hatten sie doch in
ihren Zeitungen gelesen, daß der Sonderzug aus Ostberlin käme.
Folglich mußten auch jene 123 Rote-Fahnen-Träger, die dem Zug
entstiegen, "aus der Zone" sein. Geschulte Umstürzler also unter
Ulbricht-Kommando. Manch einer wurde denn aber doch skeptisch, als er
entsprechende Selbstbezichtigungen gleich chorweise zu Ohren bekam: "Wir
sind alle aus dem Osten, Ulbricht zahlt für uns die Kosten. " Eine
Hausfrau pirschte sich auf dem Bahnhofsvorplatz vorsichtig an einen Bärtigen
heran: "Stimmt denn das wirklich, daß ihr von drüben geschickt
werdet." Sein Gelächter nahm sie ebenso erleichtert wie verwundert
hin. Entsprechende Fragen wurden an diesem Tag oft gestellt: Das bewußt
erzeugte Mißverständnis, daß ein aus Ostberlin abfahrender Zug
randvoll mit DDR-Kompanien sein müsse, ließ sich nur mühselig
aus dem Bundesdorf schaffen. Daß jeder Zug aus Berlin in Friedrichstraße
abfährt und der DDR-"Reichsbahn" gehört, hielten aufgeklärte
"Bild"-Leser für eine Zwecklüge. "Ihr könnt uns
viel erzählen. Das hätte dann ja auch in der Zeitung gestanden. "
Die Angst- Parolen der Jungen Union verloren allerdings schnell an Wirkung,
wenn die Demonstranten sie ironisierten: "Bonner, holt die Kinder rein,
jeder Linke ist ein Schwein." Oder: "Mädchen, schnell in eure
Stuben, unten sind die roten Buben." Die "roten Buben" aus Berlin
hatten selbst den Veranstaltern des Sternmarsches Angst gemacht. Wollte man sie
ursprünglich von der Vorgebirgsstraße aus in der Nähe der
stacheldrahtbewehrten Bannmeile zur Kundgebung marschieren lassen, gab man ihnen
lieber eine andere Route vom Beueler Rheinufer aus über die Kennedy- Brücke.
Etwa 3000 Westberliner, der größte Teil war mit Privatautos und
Bussen gekommen, marschierten auf Bonn. Allerdings nicht als geschlossener
Block. Man wollte seine Demonstrationserfahrungen auch anderen Gruppen
vermitteln. So reihte man sich jeweils dutzendweise in andere Gruppen ein und
brachte sie rhythmisch auf Trab. Die meisten Sprechchöre verrieten
unverkennbar Berliner Herkunft. Teils waren es Geistesprodukte einer langen
Nacht auf ost- und westdeutschen Schienen, teils nur leicht für den Bonner
Gebrauch abgewandelte Parolen, die man schon von heimischen Aktionen her kannte.
Aus Westberlin hatte man auch revolutionäre Disziplin mitgebracht.
Westdeutsche Journalisten wußten sie besser zu würdigen als ihre
Frontstadt-Kollegen. So der Kölner "Express:" "Erste Schlägerei
in der Maxstraße. Sieben angetrunkene Bonner schlagen wahllos auf die
Gruppen der Demonstranten ein. Der studentische Ordnerdienst riegelt die Schläger
ab und fordert zum Weitergehen auf. " In Westberlin wären diese
betrunkenen Schläger "Gegendemonstranten" oder "Andersdenkende"
gewesen. Zu weiteren Zwischenfällen kam es nicht. Nur ab und zu schimpften ältere
Bürger vom Fenster herunter, allerdings weniger auf die jugendlichen
Demonstranten mit roten Fahnen, sondern auf ehemalige KZ-Häftlinge in
Buchenwald-Anzügen, die den Zügen vorangingen. "Die hätte
man damals gleich vergasen sollen", brüllt eine Frau vom Balkon herab.
Die meisten aber sind betroffen und schweigen. So, wie sie schon immer
geschwiegen haben.
Einer, der zu seinen Lebzeiten nicht geschwiegen hatte und seine
Begeisterung für Revolutionäre gleich in Symphonien umsetzte, hielt
eisern die Faust hin, als man ihm eine rote Fahne überreichte. Daraus wurde
für die "Rundschau am Sonntag" (CDU) ein drei Balken dicker
Aufmacher: "Die rote Fahne in Beethovens rechter Faust". Ein
taktischer Fehler, die rechte zu nehmen? Heute müßte Beethoven seine
Fünfte mit anderem Auftakt schreiben - im Rhythmus "No-No-Notstand-No
! " Mit diesen Schlägen pochte das Schicksal an die Bonner Bundeshaustür...
Das Finale fand denn auch in der Beethovenhalle statt: Ein teach-in des SDS.
Halle und Foyer waren schließlich so überfüllt, daß als
Sammel- und Treffpunkt verschiedener Gruppen, die über das Mikrophon zur
Heimfahrt riefen, nur noch die Herrentoilette zur Verfügung stand.
Um 22 Uhr schraubte der Hausmeister die Sicherungen heraus: Die Revolution
sollte sicher drücken. Eine Stunde später, als etwa 2000 Demonstranten
nach Bad Godesberg zogen um vor der französischen Botschaft Solidarität
mit den französischen Kommilitonen zu bekunden, mußten die
Westberliner in ihrem Sonderzug die Türen schließen. Bis Helmstedt
hatte die Bundesbahn sogar kostenlos einen Extra-Wagen zur Verfiigung gestellt.
Dieser Anhänger war allerdings auch nötig, denn auf der Rückfahrt
war mancher dabei, der nur eine Bahnsteigkarte in der Tasche hatte. Kontrolliert
wurden nur die Ausweise - und auch das recht hastig, sowohl in Ost als in West.
Auf der Hinfahrt wollten die Helmstedter zwei Ausländer zurückhalten,
deren Aufenthaltsgenehmigung abgelaufen war. Als die übrigen Zuginsassen
daraufhin aus den Abteilen kletterten, um ein sit-in auf dem Bahnhof zu
veranstalten, gab man den Ausländern schnell den nötigen Stempel. "Haut
bloß schnell ab", stöhnte einer der zahlreich versammelten
Verfassungsschützer, die mit hochgeschlagenen Mantelkrägen im
Halbdunkel bibberten.
Auch in der DDR waren die Kontrollen nicht übermäßig gründlich:
Mindestens zwei der Revolutions-Reisenden hatten keine Ausweisedabei. Die
Grenzer übten private Solidarität und übersahen das. Dafür
veranstaltete man für sie auf dem Bahnsteig in Griebnitzsee ein teach-in in
sozialistischer Demokratie. Das Modell einer Rätedemokratie dagegen, das
man während der Fahrt zu praktizieren versuchte, scheiterte an räumlicher
und akustischer Beschwerriis. Die einzelnen Abteile hatten Delegierte gewählt,
die im Zugkomitee (ZK) zwar keinen Sitz, dafür aber Stimme hatten. Da es
aber bei einer Abstimmung über eine eventuelle Aktion im Maison de France
nach der Ankunft unmöglich war, die Stimmen auszuzählen, entschied man
sich für die Vollversammlung auf dem Bahnsteig. Verdient noch als letztes für
die Revolutions-Historie jene Dampflok mit der Nummer 3214 erwähnt zu
werden, die die elf mit roten Fahnen geschmückten Waggone ale Triumphzug
durch Westberlin hindurchschnaufte. Die Demonstranten tauften sie schlicht auf
den Namen "Aurora". . .
Dennoch: Das Signal dieser "Aurora" bei der Einfahrt in Bonn hatte
die Bundesbürger umsonst beunruhigt. Der Sturm auf das Bundespalais war
nicht geplant und fand nicht statt. Ob Notstandsminister Benda dennoch beruhigt
schlafen kann, ist die Frage. Vielleicht klingt ihm der Abechiedsgruß der "Berliner
Ferienkinder" noch in den Ohren: "Beeendaa, wir kooommen wiiieder ! "
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