ED 15.5.1968 39/II


EXTRA-REPORT

BONNER HOLT DIE KINDER REIN

VON MARTIN BUCHHOLZ
(heute Kabarettist, damals Redakteur des Extradienstes)



Es war nicht zwölf Uhr mittags, sondern acht Uhr früh. Doch der Sheriff des kleinen Städtchens unten im Westen wußte Bescheid: Sie würden kommen. Und die braven Bürger, von denen viele nur vorsichtig die Gardine zur Seite schoben, waren ebenfalls gewarnt. "An alle Haushaltungen" war per Postwurfsendung schon einen Tag zuvor der Ruf ergangen: "Wer morgen aufpaßt, parkt seinen Wagen nicht in den Straßen, schützt seine Fenster, hält sich und seine Kinder fern..." Die gefährlichen Burachen würden mit dem Zug aus Richtung Osten kommen. Das hatten die Bürger in ihrer Zeitung gelesen. Und ihre Angst wuchs: Aus dieser Richtung war nur das Schlimmste zu erwarten. Aber ein Mann unter ihnen war unerschrocken genug, der Gefahr mutig ins Auge zu blicken: Der Sheriff...

Er wartete schon am Bahnhof als der Zug kam: Willy Weyer, für einen Tag aktiver Sheriff im Bundesdorf, hatte für die Panikmache der CDU und der Jungen Union, die in zehntausenden von Postwurfsendungen blanke Angst erzeugt hatte, nur ein kaltes Frank-S-Thorn-Lächeln. Als bei der Ankunft des Berliner Sonderzuges ein Grenzschutz-Hubschrauber auf Geheiß des Bundesinnenministeriums über dem Bahnhof kreiste, zürnte Weyer gegenüber Journalisten: "Er hat hier nichts zu suchen. Das empfinde ich als Provokation." Er werde sofort Protest bei Benda einlegen. Viele Bonner aber empfanden diese Luftüberwachung als sehr notwendig: Hatten sie doch in ihren Zeitungen gelesen, daß der Sonderzug aus Ostberlin käme. Folglich mußten auch jene 123 Rote-Fahnen-Träger, die dem Zug entstiegen, "aus der Zone" sein. Geschulte Umstürzler also unter Ulbricht-Kommando. Manch einer wurde denn aber doch skeptisch, als er entsprechende Selbstbezichtigungen gleich chorweise zu Ohren bekam: "Wir sind alle aus dem Osten, Ulbricht zahlt für uns die Kosten. " Eine Hausfrau pirschte sich auf dem Bahnhofsvorplatz vorsichtig an einen Bärtigen heran: "Stimmt denn das wirklich, daß ihr von drüben geschickt werdet." Sein Gelächter nahm sie ebenso erleichtert wie verwundert hin. Entsprechende Fragen wurden an diesem Tag oft gestellt: Das bewußt erzeugte Mißverständnis, daß ein aus Ostberlin abfahrender Zug randvoll mit DDR-Kompanien sein müsse, ließ sich nur mühselig aus dem Bundesdorf schaffen. Daß jeder Zug aus Berlin in Friedrichstraße abfährt und der DDR-"Reichsbahn" gehört, hielten aufgeklärte "Bild"-Leser für eine Zwecklüge. "Ihr könnt uns viel erzählen. Das hätte dann ja auch in der Zeitung gestanden. "

Die Angst- Parolen der Jungen Union verloren allerdings schnell an Wirkung, wenn die Demonstranten sie ironisierten: "Bonner, holt die Kinder rein, jeder Linke ist ein Schwein." Oder: "Mädchen, schnell in eure Stuben, unten sind die roten Buben." Die "roten Buben" aus Berlin hatten selbst den Veranstaltern des Sternmarsches Angst gemacht. Wollte man sie ursprünglich von der Vorgebirgsstraße aus in der Nähe der stacheldrahtbewehrten Bannmeile zur Kundgebung marschieren lassen, gab man ihnen lieber eine andere Route vom Beueler Rheinufer aus über die Kennedy- Brücke. Etwa 3000 Westberliner, der größte Teil war mit Privatautos und Bussen gekommen, marschierten auf Bonn. Allerdings nicht als geschlossener Block. Man wollte seine Demonstrationserfahrungen auch anderen Gruppen vermitteln. So reihte man sich jeweils dutzendweise in andere Gruppen ein und brachte sie rhythmisch auf Trab. Die meisten Sprechchöre verrieten unverkennbar Berliner Herkunft. Teils waren es Geistesprodukte einer langen Nacht auf ost- und westdeutschen Schienen, teils nur leicht für den Bonner Gebrauch abgewandelte Parolen, die man schon von heimischen Aktionen her kannte.

Aus Westberlin hatte man auch revolutionäre Disziplin mitgebracht. Westdeutsche Journalisten wußten sie besser zu würdigen als ihre Frontstadt-Kollegen. So der Kölner "Express:" "Erste Schlägerei in der Maxstraße. Sieben angetrunkene Bonner schlagen wahllos auf die Gruppen der Demonstranten ein. Der studentische Ordnerdienst riegelt die Schläger ab und fordert zum Weitergehen auf. " In Westberlin wären diese betrunkenen Schläger "Gegendemonstranten" oder "Andersdenkende" gewesen. Zu weiteren Zwischenfällen kam es nicht. Nur ab und zu schimpften ältere Bürger vom Fenster herunter, allerdings weniger auf die jugendlichen Demonstranten mit roten Fahnen, sondern auf ehemalige KZ-Häftlinge in Buchenwald-Anzügen, die den Zügen vorangingen. "Die hätte man damals gleich vergasen sollen", brüllt eine Frau vom Balkon herab. Die meisten aber sind betroffen und schweigen. So, wie sie schon immer geschwiegen haben.

Einer, der zu seinen Lebzeiten nicht geschwiegen hatte und seine Begeisterung für Revolutionäre gleich in Symphonien umsetzte, hielt eisern die Faust hin, als man ihm eine rote Fahne überreichte. Daraus wurde für die "Rundschau am Sonntag" (CDU) ein drei Balken dicker Aufmacher: "Die rote Fahne in Beethovens rechter Faust". Ein taktischer Fehler, die rechte zu nehmen? Heute müßte Beethoven seine Fünfte mit anderem Auftakt schreiben - im Rhythmus "No-No-Notstand-No ! " Mit diesen Schlägen pochte das Schicksal an die Bonner Bundeshaustür... Das Finale fand denn auch in der Beethovenhalle statt: Ein teach-in des SDS. Halle und Foyer waren schließlich so überfüllt, daß als Sammel- und Treffpunkt verschiedener Gruppen, die über das Mikrophon zur Heimfahrt riefen, nur noch die Herrentoilette zur Verfügung stand.

Um 22 Uhr schraubte der Hausmeister die Sicherungen heraus: Die Revolution sollte sicher drücken. Eine Stunde später, als etwa 2000 Demonstranten nach Bad Godesberg zogen um vor der französischen Botschaft Solidarität mit den französischen Kommilitonen zu bekunden, mußten die Westberliner in ihrem Sonderzug die Türen schließen. Bis Helmstedt hatte die Bundesbahn sogar kostenlos einen Extra-Wagen zur Verfiigung gestellt. Dieser Anhänger war allerdings auch nötig, denn auf der Rückfahrt war mancher dabei, der nur eine Bahnsteigkarte in der Tasche hatte. Kontrolliert wurden nur die Ausweise - und auch das recht hastig, sowohl in Ost als in West. Auf der Hinfahrt wollten die Helmstedter zwei Ausländer zurückhalten, deren Aufenthaltsgenehmigung abgelaufen war. Als die übrigen Zuginsassen daraufhin aus den Abteilen kletterten, um ein sit-in auf dem Bahnhof zu veranstalten, gab man den Ausländern schnell den nötigen Stempel. "Haut bloß schnell ab", stöhnte einer der zahlreich versammelten Verfassungsschützer, die mit hochgeschlagenen Mantelkrägen im Halbdunkel bibberten.

Auch in der DDR waren die Kontrollen nicht übermäßig gründlich: Mindestens zwei der Revolutions-Reisenden hatten keine Ausweisedabei. Die Grenzer übten private Solidarität und übersahen das. Dafür veranstaltete man für sie auf dem Bahnsteig in Griebnitzsee ein teach-in in sozialistischer Demokratie. Das Modell einer Rätedemokratie dagegen, das man während der Fahrt zu praktizieren versuchte, scheiterte an räumlicher und akustischer Beschwerriis. Die einzelnen Abteile hatten Delegierte gewählt, die im Zugkomitee (ZK) zwar keinen Sitz, dafür aber Stimme hatten. Da es aber bei einer Abstimmung über eine eventuelle Aktion im Maison de France nach der Ankunft unmöglich war, die Stimmen auszuzählen, entschied man sich für die Vollversammlung auf dem Bahnsteig. Verdient noch als letztes für die Revolutions-Historie jene Dampflok mit der Nummer 3214 erwähnt zu werden, die die elf mit roten Fahnen geschmückten Waggone ale Triumphzug durch Westberlin hindurchschnaufte. Die Demonstranten tauften sie schlicht auf den Namen "Aurora". . .

Dennoch: Das Signal dieser "Aurora" bei der Einfahrt in Bonn hatte die Bundesbürger umsonst beunruhigt. Der Sturm auf das Bundespalais war nicht geplant und fand nicht statt. Ob Notstandsminister Benda dennoch beruhigt schlafen kann, ist die Frage. Vielleicht klingt ihm der Abechiedsgruß der "Berliner Ferienkinder" noch in den Ohren: "Beeendaa, wir kooommen wiiieder ! "