Die
NotstandS
Gesetze

Die Enthüllung der seit 1962 vor der Öffentlichkeit geheimgehaltenen Pläne zur Schaffung einer Notstandsverfassung ist einem der bemerkenswertesten Spionagefälle in der Geschichte der Bundesrepublik zu verdanken. Auf einer internationalen Pressekonferenz in Berlin am 2. Mai 1966 legte der Nationalrat der Nationalen Front der DDR eine Broschüre vor mit dem Titel "Notstandsgesetze - das Ende von Demokratie und Sicherheit - Was die Bonner Regierung den Bundesbürgern verschweigt."

An der Echtheit der darin nachgedruckten Notverordnungen war kaum zu zweifeln. Ferner bestand kein Zweifel daran, daß sie in Bonn von Agenten des MfS gestohlen worden waren; denn auf dem Tisch der Pressekonferenz lagen nicht nur Dokumente aus der im Grundgesetz nicht vorgesehenen Geheimausgabe des Bundesgesetzblattes, die "jeder Landrat und jeder Bürgermeister bereits im Besitz hat", sondern es lagen dort auch "Fotokopien von maschinengeschriebenen Notverordnungstexten", die nur aus Bonn stammen konnten.

Doch diese und andere - vor allem - Massenaktionen konnten die Notstandsverfassung nicht aufhalten. Die SPD befand sich seit 1966 im Rahmen der Großen Koalition mit der CDU/CSU an der Regierung. Ihre Abgeordneten legalisierten diese Diktaturgesetze zwei Jahre später mittels der dafür notwendigen parlamentarischen 2/3 Mehrheit.

Ein Kommentar zu den Notstandsgesetzen

von Carl Nedelmann

aus: Der CDU-Staat 1, Analysen zur Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik, Hrg. Gert Schäfer/ Carl Nedelmann, Ffm 1967, 3. Überarbeitete Auflage 1969, S.207ff

Die Notstandsverfassung trat am 18. Juni I968 in Kraft und legte den Kern der Notstandsgesetze offen, wie er in dem sechs Jahre zuvor in den vierten Bundestag eingebrachten Regierungsentwurf eines Zivildienstgesetzes deutlich konzipiert war. Lediglich ist in der neuen Verfassung, die das Bonner Grundgesetz von I949 abgelöst hat, nicht von Notstandsberechtigten und Notstandspflichtigen die Rede, gleichwohl ist ihr einziges Grundrecht die private Verwertung der Arbeitskraft (Art.12a). Alle weiteren Rechte haben sich diesem einen unterzuordnen, notfalls mit den Mitteln staatlichen Zwangs, die bis zum Einsatz der Bundeswehr eskalierbar sind (Art.12a, 80a, 87a). Die Berechtigten (staatliche Organe, öffentlich-rechtliche Arbeitgeber und Unternehmer der privaten Wirtschaft) dürfen die Pflichtigen (alle übrigen, insbesondere Arbeiter) in Zwangsarbeit nehmen, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt sind. Solange sie nicht erfüllt sind, solange trotz Freiwilligkeit (also des bislang üblichen Zwangs) der Pflichtigen Unruhe, Unsicherheit und Unordnung in kapitalverträglichen Grenzen bleiben, bestehen die alten Grundrechte weiter. Sie werden abgelöst - I. Voraussetzung -, "wenn der Bundestag den Eintritt des Spannungsfalles festgestellt . . . hat." (Art. 80a, Abs. I). Was ein Spannungsfall ist - Mutmaßungen darüber können wir uns inzwischen ersparen. Das Gesetz selbst macht den Spannungsfall zum überflüssigen Terminus und gibt preis, was bislang als diffamierende Unterstellung von den Notstandsbefürwortern zurückgewiesen war, daß nämlich die Notstandsverfassung in der auf den Verteidigungsfall oder auf einen wie immer auch gearteten Spannungsfall begrenzten Anwendung nicht ihren eigentlichen Zweck habe. In nun gesetzter Wirklichkeit ist die Anwendung von Zwangsarbeit in der privaten Wirtschaft mitsamt ihrer bis zum Bundeswehreinsatz eskalierbaren staatlichen Erzwingungsmaßnahmen auch dann zulässig, wenn der Bundestag, ohne auf einen Spannungsfall abheben zu müssen, "der Anwendung besonders zugestimmt hat", und zwar mit "einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen.". Doch obwohl die Legislative sich als Erfüllungsgehilfe der mit Kapitalinteressen identifizierten Exekutive erprobt und bewährt hat, sieht die Notstandsverfassung noch einen zweiten Weg zur Ablösung der alten Grundrechte vor - Alternative zur ersten Voraussetzung -: die Anwendung der genannten Zwangsmaßnahmen ist "auch auf der Grundlage und nach Maßgabe eines Beschlusses zulässig, der von einem internationalen Organ im Rahmen eines Bündnisvertrages mit Zustimmung der Bundesregierung gefaßt wird." (Art. 80a Abs. 3). Uber die Beschaffenheit der in Frage stehenden Bündnisverträge und internationalen Organe schweigt das Gesetz sich aus. Eine Reihe von Möglichkeiten - auch bilateraler Art - ist denkbar. Einmal beschlossen, kann der Bundestag die Aufhebung dieser Maßnahmen "mit der Mehrheit seiner Mitglieder" verlangen, doch der Kraft des Faktischen wird diese Instanz sich kaum widersetzen. Die zweite Voraussetzung, die erfüllt sein muß, um den privat Berechtigten in den verwertbaren Genuß des Zwangspflichtigen zu bringen: "Verpflichtungen in Arbeitsverhältnisse im Bereiche der Versorgung der Zivilbevölkerung sind nur zulässig, um ihren lebensnotwendigen Bedarf zu decken oder ihren Schutz sicherzustellen."(Art. 12a Abs. 3). Das ist - zumal im Rahmen der Metapher vom Ineinandergreifen aller industrieller Räder - leicht zu behaupten, für die Großen im Kapitalgeschäft immer zu beweisen und schwer zu überprüfen.

Mit alledem ist nicht gesagt, noch erzwingt es die neue Verfassung, daß sie auf einmal und ganz in Funktion gesetzt werden müßte. Vielmehr steckt sie die legal durchsetzbare äußerste Konsequenz ab und ermöglicht es, jeweils soviel davon zu praktizieren, wie es im Hinblick auf gewisse Gruppen oder zur Förderung gewisser Einrichtungen opportun erscheint, gemessen an den rohen Bedürfnissen des kapitalistischen Gesamtbetriebes, auf den sich die Verfassungswirklichkeit mehr und mehr reduziert.

Modellhaft und die Geschicke aller übrigen Bereiche des Gesamtbetriebes vorausnehmend und bestimmend sind zunächst die Arbeiter in den Produktionsbetrieben betroffen, deren reibungslose Verwertbarkeit im weit vorverlegten Notstandsfeld der Betriebe selbst durch Werkschutzgruppen garantiert werden soll. Privatarmeen im kleinen, mit Waffen wohl ausgerüstet, zentral ausgebildet von denselben industriellen Spitzenverbänden, denen die Verabschiedung der Notstandsverfassung so sehr am Herzen lag, im Kontakt mit anderen Staatsschutzinstanzen und wie diese mit Spitzeldiensten versehen. Die Gewerkschaften wissen es, aber wagen es nicht, diese barbarische Regression sozialer Verhältnisse aufzudecken; denn deutlich würde nur die Ohnmacht, ihre Mitglieder davor zu bewahren. So enthüllt sich als Illusion, was noch viele Köpfe als Rettungsanker festhalten, die Gewerkschaften könnten die Anwendung der Notstandsgesetze verhindern. Sie konnten es nicht.

Haben so die Unternehmer Maßnahmen zur Durchsetzung von Ruhe und Ordnung, wie es die einfache Gestalt des Kapitals verlangt, bis zu einem gewissen Grad in eigene Regie genommen, so vermindert dies dennoch nicht den Aufgabenbereich der öffentlichen Ordnungskräfte, die gemäß der Interessenidentität von Staat und Wirtschaft im selben Sinne wirken. Im Gegenteil, Notstandsmaßnahmen werden vermehrt geübt und auch im praktischen Einsatz erprobt. Opposition gegen die Bestrebungen des Gesamtbetriebs, aus den Parlamenten auf die Straße gedrängt, wird dort sämtlichen Instanzen des politischen Staatsschutzes freigegeben. Vorsorglich hielt sich die Legislative im 8. Strafrechtsänderungsgesetz, das die strafrechtlichen Bestimmungen des politischen Staatsschutzes neu faßte und am 1.August 1968 in Kraft trat, an ihre exekutivgebundene Rolle und tastete die bisherige Praxis nicht an. Doch auch dies war denen, die sich die Ordnungsberechtigung fest in die Hand gegeben haben, zur wirksamen Bekämpfung der außerparlamentarischen Opposition nicht ausreichend. Besonders die SPD zeigte sich peinlich berührt und regte deshalb eine Vorbeugehaft-Vorlage an, die formal als Antrag der Fraktionen der Großen Koalition am 11. Dezember 1968 in den Bundestag eingebracht wurde.