Stadt. Diskurs




Gotham City und die Zukunft des öffentlichen Raumes
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Die Würde des Hauptbahnhofs ist unantastbar

Über den Erhalt der öffentlichen Ordnung und den Zerfall des bürgerlichen Bewußtseins

von Lars Quadfasel

Wer in Hamburg mit der Bahn ankommt, vermag dort ein Stückchen weltstädtisches Niveau erleben, das andernorts im neuen Deutschland schon längst der Geschichte angehört: eine offene Junkieszene, auf der abgehangen, gedrückt und gedealt wird. Genausolange, wie dieser letzte soziale Zusammenhang, der den illegalisierten KonsumentInnen von Heroin geblieben ist, währt, währen auch die Versuche Hamburgs, ihn zu zerschlagen, oder - hanseatisch vornehm - ihn sich nicht "verfestigen" zu lassen.

Zunächst durch diverse Vertreibungsorgien, Junkiejogging genannt, überhaupt direkt vor den Hauptbahnhof getrieben, eröffnete dortselbst zeitgleich mit der Schlemmermeile "Wandelhalle" auch die berüchtigte E-Schicht, eine aus Funk und Fernsehen bekannte Prügeleinheit zum Zwecke, die eh schon zermürbten HeroingebraucherInnen ja nicht zur Ruhe kommen zu lassen. Ausgerüstet mit den Mitteln des Sicherheits- und Ordnungsgesetzes (SOG), dürfen die Ordnungshüter jeden nach eigenem Gusto zur "Abwehr unmittelbarer Gefahren" des Platzes verweisen, zur "Abwehr unmittelbarer Straftaten" in Gewahrsam nehmen, d.h. einsperren - beides für 4 bis 12 Stunden und ohne, daß eine richterliche Genehmigung vorliegen muß. Eigentümlich wie der vorgebliche Zweck selbst ist auch das Mittel. Das SOG hatte einstmals den Sinn, Schaulustige von Katastrophen fernzuhalten; erst durch eine folgenreiche Neuinterpretation taugte es zum low-intensity-Kampf gegen die Junkieszene: Diese, mit all ihren Begleiterscheinungen, wurde zur Gefährdung der öffentlichen Ordnung erklärt, und jeder Einzelnen, der dort Aktivitäten wie Schnorren, Spritzen wegwerfen etc. vollführen könnte, wird die Praxis des Kollektivs angelastet. So wird aus der Bagatelle die Störung und aus dem Einzelnen die Gefahr. Noch abstruser die Abwehr unmittelbar bevorstehender Straftaten: Die einzig denkbare in der Szene ist das Dealen, und dazu muß niemand eingesperrt werden, ums zu verhindern; es reicht, ihm die Ware abzunehmen. Dies zumindest sahen auch einige Hamburger Richter so, die nachträglich die Praxis des Ingewahrsamnehmens wieder aufhoben und den Senat veranlaßten, über eine Neufassung des SOG zu brüten, um genau das wieder zu legalisieren. Unbeschadet dessen wurden seit Juli 1995 53.000 Platzverweise verhängt, die 70 Abschiebungen wegen Dealens nicht zu vergessen.

Der reale Zweck des SOG und seiner polizeilichen Umsetzung ist das, wofür in einem Rechtsstaat einmal Gerichte zuständig waren: das Strafen (und die Bullen der E-Schicht, die des Folterns überführt wurden, machen sich bloß an den Buchstaben des Gesetzes schuldig, nicht am Geist). Was sich auch vor Gericht anbahnt, die Abschaffung der Unschuldsvermutung hin zur Generalunterstellung der Herrschaft, "no one is innocent", ist hier bereits vollständig Praxis geworden. Wer dem polizeilichen Blick ausgesetzt ist, ist in ihrer Hand. Die bloße Teilhabe an der Szene, zu langes Verweilen dort oder Gespräche mit den falschen Leuten, können den Vollzug auslösen. Zwar trifft das polizeiliche Vorgehen gegen das als Störung ausgemachte Kollektiv immer noch den vereinzelten Einzelnen, bloß nicht mehr als berechenbare Ursache eines individuellen Verhaltens, sondern mit der unvergleichlicheren Macht der Willkür. Um ihr nicht ausgeliefert zu sein, muß der Bürger das, was einstmals Privatsphäre hieß - nämlich die Art, sich zu kleiden, die Entscheidung, wo man sich aufhält und mit wem man sich trifft - der Staatsmacht offen als Faustpfand seiner Unschuld zur Schau stellen. Trägt er aber die Male der Schutzlosen, den Akteneintrag, die Einstichstellen oder die falsche Hautfarbe, nützt nichts, um kein "natural born criminal" zu sein, der aus dem Verkehr zu ziehen ist, wenn's der Herrschaft gerade beliebt. Denn der polizeiliche Blick entspringt dem einschnappenden Reflex der Volksgemeinschaft. Wie der Hamburger Innensenator Wrocklage das Straßenbild von "schwarzafrikanischen und kurdischen Intensivdealern" säubern will, so weiß auch der Durchschnittsrassist, daß die, deren Anwesenheit ihm unbegreiflich ist, verantwortlich sein müssen für alles, was ihn stört (mit unerkannt wirkenden vaterlandslosen Rauschgiftkartellen im Rücken, versteht sich). Und da eine rassistische Asylgesetzgebung die - meist minderjährigen - ImmigrantInnen auf die Schattenwirtschaft zurückwirft, wollen sie nicht von Lebensmittelkarten vegetieren, bevor sie abgeschoben werden, findet der Bullenblick häufig Erfolg und der Volksgenosse stets Bestätigung in einer Realität, die sein Wahn ihm eigens produziert hat.

Fragt sich nur, was das ganze eigentlich soll. Klassisch linke Analysen nach dem Motto "Wem nützt es?" helfen wenig weiter: Daß präventive Willkür die Aufrechterhaltung des Ganzen reibungsloser sichert als schwerfällige Rechtsstaatlichkeit, wird wohl so sein; ebenso, daß Kapitalisten, die ihre Waren an den Mann bringen wollen (ob Bahnreise oder Blumenstrauß) keine störenden Junkies am Bahnhof haben wollen; und daß niemand die offene Szene mag - die Einen nicht, weil sie sie als Ansammlung moralisch Minderwertiger ansehen, die Anderen nicht, denen sie Symptom der staatlich über HeroingebraucherInnen verhängten Verelendung ist, - auch geschenkt. Aber warum die reibungslose Ordnung erheischt ist, warum sich die KundInnen (als KundInnen wie als StaatsbürgerInnen) stören lassen, und warum ausgerechnet jetzt mit dieser Vehemenz (in anderen Städten ja noch ärger als in Hamburg) die Junkieszene zum Opfer wird, ist damit nicht geklärt und läßt sich mit Interessen, weil dies wenigstens instrumentelle Vernunft unterstellte, wohl auch nicht erklären. Vielleicht hilft es, den Blick, statt auf das ganze, was beschrieben wurde, aufs Ganze der vernunftlosen Kapitalverwertung zu richten und dazu auf die eingangs beschriebene Wandelhalle zurückzukommen.

Diese ist in ihrer Mediokrität beispielhaft. Zig Geschäfte bieten Waren feil, Bodylotions wie exotische Gerichte, die wohl einmal Luxus waren und solchen durch aufwendiges Productplacement immer noch suggerieren, ganz ähnlich den alltäglicheren Dingen, die, knapp über dem normalen Preisniveau, dem Bürger das Gefühl vermitteln, sich etwas Besonderes zu leisten. Nichts ist besonders und alles schmeckt gleich schlecht, ist aber so bunt und vielfältig, daß jedem dünkt, für seinen Geschmack sei etwas dabei. Die eminente Langeweile des Ortes wird kompensiert durch seine Monstrosität, ein hermetisch abgeschlossenes Universum der Waren darzustellen, ein Bild der vollendeten Warentotalität1. Da in der Ware, wenn sie zum Markte kommt, ihre je besondere Geschichte, die Geschichte ihrer Produktion durch menschliche Arbeit, ausgelöscht ist, tritt sie dem Bürger stets als Unbegriffene gegenüber; die Wandelhalle muß ihm daher ein vollständiges Mysterium sein, in dem er nur staunend etwas verloren hat und - wie passend am Bahnhof - nicht lange verweilen darf. Die Wandelhalle präsentiert ihm die Macht. Deren reale Drohung, die er hier erfährt, ist die des Ausgeschlossenwerdens: Nur begreift er ihren Grund nicht, der darin liegt, daß die entwickelten Produktivkräfte, die ihm als verdinglichte Herrschaft des Warenfetischs die Schlemmermeile bescheren, zugleich seinen persönlichen Anteil nicht nur durchstreichen, sondern diesen tendenziell, in der zunehmenden Entwertung des Werts der individuellen Arbeitskraft, überflüssig machen und damit auch ihn selbst. Das Gefühl der Überflüssigkeit für die Produktion und Austauschbarkeit im Angesicht der Ware, die sich ihm als selbstgenügsames Spektakel präsentiert, reflektiert er nicht, sondern bannt es pathisch. Real sich aufs Funktionieren vor den Mächten reduizierend, verachtet er die, deren Lebenszeichen nicht verwertbar sind. Den öffentlichen Raum sieht er nicht durch die glatte Perfektion des Warenspektakels enteignet, sondern durch die Unvollkommenheit jener, die er zuvor aufs Kreatürliche, Kranke, Aussätzige reduziert hat, die Junkies und Obdachlosen, die störrisch bleiben, wo er immer in Bewegung ist, wie durch die Unvollkommenheit des Dealens, dem zum geachteten Handel das staatliche Placet fehlt. Sich mimetisch an die Warenseele, die ihren Käufer sucht, anschmiegend, treibt es ihn an, die zu vertreiben, die es mangels Kasse nie sein werden. Und geht der Staat seinem Wunsche nach und erklärt die Feinde des Volkes für vogelfrei, hat er nicht nur den Freibrief zu hassen; er darf die real Besonderen hassen, um sich mit der Macht eins und - als was Besonderes zu fühlen, als sicher vor dem allgemeinen Verdikt der Überflüssigkeit.

Die böse Ironie daran ist bloß, daß der Wahn des zerfallenden bürgerlichen Subjekts ganz handfest Zustände reproduziert, die es in dem Wahn bestätigen, wie ihn notwendig machen: Wer nur dort kauft, wo keine Junkies lümmeln, der macht ihre Vertreibung zum lohnenswerten Projekt der Kapitalverwertung, läßt die Produktivkräfte nicht stocken - und ist weiter in der Gefahr, von diesen nicht bloß formell, sondern ganz real überflüssig gemacht zu werden. Nicht schade um die, die nicht innehalten werden können, weil dies hieße zu reflektieren, und das wiederum, Kommunistin zu werden. Schade aber um die, die - um wieder zum unmittelbaren Gegenstand zu kommen - als Junkies durch Platzverweise und Ingewahrsamnahmen gehetzt, von Szene und Stoff, von angelegenen Apotheken, ÄrztInnen und Beratungstellen abgeschnitten, in Haft zum kalten Entzug gezwungen und vielleicht auch gefoltert werden. Schade vor allem für diejenigen ImmigrantInnen, deren Traum vom besseren Leben, sofern sie es durch Versorgung der Junkies mit ihrer bevorzugten Substanz zu erreichen trachteten, brutal mit Abschiebung beendet wurde und wird, selbst wenn ihnen Gefahr für Leib und Leben drohen. Solange das so ist, bleibt die Forderung nach Solidarität mit Junkies und Dealern ebenso notwendig wie die Forderung: "Stört die öffentliche Ordnung, wo ihr sie trefft!"

Anmerkungen

1) "Das Spektakel ist das Kapital in einem solchen Grad der Totalität, daß es zum Bild wird" (Guy Debord)