Hermann L. Gremliza

Vergeßt 68!


Was damals so wild und rebellisch aufging, ist endlich doch noch gut ausgegangen. Vati und Mutti können stolz auf ihre Früchtchen sein

Bundestagspräsidentin Süssmuth hat die Bedeutung der Studentenbewegung von 1968 gewürdigt. Es sei "leider in Mode gekommen", diese Bewegung abzuqualifizieren, sagte die CDU-Politikerin. Evangelischer Pressedienst

Hoch die internationale Solidarität? Schafft zwei, drei, viele Vietnam? Enteignet Springer? Nieder mit dem Schweinesystem? Aber, aber, Frau Präsidentin!

Das haben sich Dutschke und die anderen Helden der "Studentenrevolution" nicht träumen lassen, daß ihnen 28 Jahre später die immer noch christdemokratische Präsidentin eines mehr denn je Deutschen Bundestages ein so schönes Denkmal setzen wird. Sollte der heroische Aufbruch, von dem der Apo-Opa an langen Winterabenden erzählt wie sein Großvater von der Marneschlacht, am Ziel sein? Springer enteignet, der Trikont befreit, die Kapitalherrschaft gestürzt?

Billiger Hohn. Recht behält Frau Süssmuth: "Trotz aller politischer Fehler in diesen Jahren", sagt sie, hat der Aufbruch 1968 "entscheidende Impulse" für eine Erneuerung der Gesellschaft vermittelt. Er hat die alte Ordinarien-Universität, die nicht in der Lage war, den Unternehmern die benötigten Akademiker zu liefern, so zugerichtet, daß die Personalchefs, die in den Sechzigern jedem Zwischenprüfling mit einem Vorvertrag hinterherlaufen mußten, heute bei der Besetzung einer Pförtnerstelle unter zweihundert Magistern wählen können. So hat die Demokratisierung, von den Revolutionären gedacht, die Universitäten den Arbeiterkindern zu öffnen, die Hochschulen dem Kapital ausgeliefert.

Wie im universitären Besonderen so im gesellschaftlichen Allgemeinen: Die Bürgerkinder veranstalteten, um Vatis Aktien zu schonen, ihre Revolution im Überbau oder, wie sie sagten, in der "Kultur", was der Kapitalherrschaft die Möglichkeit bot, jede ideelle Parole materiell zu verwerten - ad usum dividendi. Das Abschneiden alter Zöpfe macht vor allem die Friseure reich. Rebellische Gesten wurden zu Moden, die Moden zum Geschäft.

Die sexuelle Revolution, das Achtundsechziger-Produkt, sollte das Liebesleben aus dem Elend der christlichen Kleinfamilie erlösen und hat fast ebensoviel zur psychischen Verelendung der Massen beigetragen wie zur Vermarktung ihrer letzten Intimität. Orale Befriedigung ist, ein Vierteljahrhundert nach der Kommune 1, ein Produktionsmittel im Besitz des Süßwarenkonzerns Schöller-Mövenpick.

An den Achtundsechzigern vor allem anderen zu loben (und von Frau Bundespräsidentin ausdrücklich gelobt) aber ist ihr Beitrag zur "Aufarbeitung des Holocaust" bzw. der "Bewältigung der Vergangenheit". Das Nazi-Pack, das heute unter Mitwirkung aler Achtundsechziger "die Erlebnisgeneration" genannt wird, hatte vor der Revolution seine Verbrechen einfach geleugnet oder ein paar kriminellen Dunkel- und Eichmännern angelastet - eine ebenso schlichte wie auf Dauer teure Übung, die es jedem Feind ermöglichte, die Deutschen und ihre Volksvertreter nach Belieben mit Enthüllungen unter Druck zu setzen oder zu blamieren. Da die Täter und Täterinnen selber nicht Kraft noch Mut zum Geständnis aufbrachten, blieb die Aufgabe an den Söhnen und Töchtern hängen, eben an den Achtundsechzigern, die auch in diesem Fall dafür bürgten, daß die Sache von der richtigen, der falschen Seite angepackt würde, nämlich in der Kultur und nicht auf dem Konto.

Das Problem dieser Bürgerkinder hieß: Wie werd ich Vati los, aber nicht sein Geld? Weshalb der vielgepriesene Aufstand gegen die Väter in so gut wie keinem Fall zu Hause gegen den eigenen Vater stattfand, sondern gegen die Generation der Väter, exemplifiziert an persönlich nicht bekannten Nazi-Richtern und Nazi-Professoren. So ließ sich das ideelle Erbe ausschlagen und das materielle antreten.

Wie segensreich für die moralische Aufrüstung der Deutschen die Achtundsechziger gewirkt haben, läßt sich an einer Wanderausstellung des Hamburger Insituts für Sozialforschung zum Thema "Vernichtungskrieg - Verbrechen der Wehrmacht 1941 - 1944" zeigen. Wohlgesonnene Rezensenten lobten die Veranstalter, eine schmerzliche Wahrheit endlich entdeckt zu haben, und lösten so die alte Lüge, daß die Wehrmacht eine honorige Einrichtung gewesen sei, mit der neuen Lüge ab, man habe es bis gestern glauben dürfen. Aber daß die deutsche Wehrmacht eine verbrecherische Organisation war, wußten ihre Angehörigen, Millionen deutscher Soldaten, wie die Millionen ihrer Opfer von Beginn des Krieges an, und nach dessen Ende wußte es die ganze Welt. Doch solange die Täter noch fürhende Positionen in Politik, Wirtschaft und Militär der Bundesrepublik bekleideten, sorgten sie und ihre Lohnschreiber dafür, daß die Wahrheit nicht gesagt werden konnte.

Warum heute mit Beifall bedacht wird, was vor einigen Jahren verschwiegen oder verflucht wurde? Die Täter liegen inzwischen im Grab oder sind auf dem besten Weg dahin, Rücksicht auf die Gefühle einiger in jeder Lage zum Durchhalten entschlossener Greise (Dregger, Mende, Schmidt) lohnt den Aufwand nicht und schon gar nicht den Verdacht, den das neue Deutschland und sein Militär auf sich zöge, wenn es sich für die Ehre seiner Ahnen schlüge. Wer morgen in aller Welt mitkämpfen will, tut gut daran, heute die Verbindungen zu kappen, die zu seinen Vorgängern führen. die Ausstellung der Wehrmachtsverbrechen, die noch vor zehn Jahren ein Angriff auf die Nation gewesen wäre, ist heute ein Angriff zu ihrer Entlastung.

(Was hier beschrieben ist, gilt für die Tendenz der öffentlichen Meinung, wie sie von den Leitartiklern und Feuilletonisten der Bürgerpresse gemacht wird. Natürlich geht der Nutzen des neuen Diskurses nicht gleich in jeden Kommißkopf, weshalb die Führung der Bundeswehr ihrem Personal die Teilnahme an Veranstaltungen und Diskussionen darüber untersagt hat.)

Der Projektleiter dieser vorzüglichen Ausstellung war anno Achtundsechzig Mitglied im selben Sozialistischen Deutschen Studentenbung, mit dem es jener grüne Europaabgeordnete hielt, dessen Propaganda es der Bundesregierung erleichtert hat, Deutschland zur kriegführenden Weltmacht zu promovieren. Ob sie wissen, wie sehr der eine noch immer der Genossenschaft des andern bedarf? Der Karrieremacher, der Deutschland den Serben - zum dritten Mal in diesem Jahrhundert - den Krieg erklären läßt, des Sorgenmachers, der die deutschen Verbrechen des zweiten durch sein Geständnis sühnt? Der Praktikus, der die Überwindung des Systems als Bankdirektor fortsetzt, des kritischen Kritikers, der die Verknöcherung des Systems an seinen Gewerkschaften bekämpft?

"Etwa zwei Jahrzehnte hat es gedauert", erzählt einer ihrer Denker, "bis die Generation, der ich angehöre, in dieser Republik angekommen war: nicht angepaßt, sondern wach und begierig, die Chancen der Freiheit zu nutzen. Viel Müll mußte dabei zur Seite geräumt werden, heißgeliebte Traditionsgewänder von jenseitigem Zuschnitt mußten abgelegt werden", bis man auf dem Schoß der christdemokratischen Präsidentin des Deutschen Bundestages (vormals "Bonner Charaktermaske") Platz nehmen durfte. Dieser hier hat es noch weiter gebracht, er ist seit einigen Wochen stellvertretender Chefredakteur einer vormals sozialdemokratischen Boulevardzeitung, in der er mit geringerem journalistischen Geschick zwar, aber mit heißem Bemühen nachäfft, was Springers "Bild" vorgemacht hat, derweil eine andere Angekommene, die grüne Stellvertreterin von Frau Süssmuth, die deutsche Intelligenz mit den Nachbarn im Süden aussöhnt: der sudetendeutschen Landsmannschaft.

Summa: Studentenrevolution verhält sich zu Revolution wie Peanuts zu Kapital. Und das Werk der Bürgerkinder kann nur die Befreiung der Bürgerkinder selber sein.

Anmerkungen: Hermann L. Gremliza ist Herausgeber der Zeitschrift KONKRET. Erstveröffentlichung in: UNI-KONKRET, Sommersemester 1996, S. 1f.