Herbert Lederer

Nichts dazugelernt


Wird die Revolution auch in hochentwickelten kapitalistischen Staaten nicht allein von den Studenten "gemacht", so sind sie doch unentbehrlich - selbst wenn Lenins Einschätzung der Studentenschaft als am "feinsten reagierender Teil der Intelligenz" eher historisch richtig als allgemeingültig ist. Unentbehrlich als Akteure, die an den Kadettenschulen des Kapitals, den Universitäten und Institutionen, fürs zukünftige Funktionieren des ökonomischen und politischen Systems sowohl zu Herren als auch - und mehrheitlich - zu Knechten gedrillt werden und damit, falls nicht zu dumm, gute Voraussetzungen haben, dessen Ziele zu erkennen und bekämpfen zu lernen. Unentbehrlich aber sind Studenten damit auch für die wissenschaftliche Erarbeitung einer marxistischen, alle Bereiche umfassenden Gesellschaftsanalyse, ohne die revolutionäre Praxis weniger denn je auskommt. Organisationen mit revolutionärem Anspruch, die glauben, auf sie und darauf verzichten zu können, zehren intellektuell aus. Die, die glauben, sich allein darauf verlassen zu können, sind allerdings, wenn`s drauf ankommt, verraten und verkauft. Radikale, und das heißt noch immer marxistische Kritik an den Ideologien, die den weltweit siegreichen Kapitalismus begleiten, feiern und seine Verbrechen rechtfertigen - vor dieser Aufgabe stehen vor allem revolutionäre Studenten, wie klein ihre Zahl auch ist. die besonders ekelerregende kapitalistische Realität mit ihren herrschenden Normen verlangt darüber hinaus von ihnen, Organisationsformen zu schaffen und/oder sich denen anzuschließen, die kollektiv diese Wirklichkeit bekämpfen und alle Verhältnisse umwerfen wollen, "in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist".

Von denen, die das wollten und entsprechend handelten, gab es in der Studentenbewegung 1965ff. viele - mehr als uns die von Talk-Show zu Talk-Show tingelnden, nicht nur gesichts-alten, an den Krippen der Bourgeosie angekommenen "68er-Zeitzeugen" weismachen wollen. Immerhin sah sich der Staat gezwungen, die Berufsverbote zu erfinden und massenhaft an denen zu exekutieren, die "revolutionäre Berufsperspektiven" suchten, statt sich auf den auf Anpassung angelegten Marsch durch, genauer in die Institutionen zu machen. Sie wurden an denen vollstreckt, die den Kampf gegen den Vietnamkrieg als antiimperialistischen und ihre Solidarität mit den um ihre Befreiung kämpfenden Völkern Afrikas und Lateinamerikas als internationalistische begriffen. Der bundesdeutsche Staat ging gegen diejenigen vor, die in ihrem antifaschistischen Kampf gegen Neonazismus, die kackbraune Kontinuität der Machteliten und auch gegen die Notstandsgesetze nicht vom Kapitalismus schweigen wollten - gegen diejenigen, die der antiautoritären Attitüde nicht das sozialistisch-kommunistische Ziel opferten.

Revolutionäre Studenten werden heute unter stark veränderten Bedingungen neue Zugänge suchen und finden müssen. Ausnahmsweise sollten sie dabei Hermann L. Gremlizas Rat nicht folgen, 1968 zu vergessen. Denn das hieße, wichtige Erfahrungen im Kampf der Klassen zu ignorieren, und zwar nicht nur solche, die vom Scheitern und seinen Ursachen handeln.

Anmerkung: Herbert Lederer war Mitglied im "traditionalistischen" SDS und lebt heute als Rechtsanwalt in Essen. Dieser Text wurde erstveröffentlicht in UNI_KONKRET, Sommersemester 1997, S. 4.