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BAHAMAS Nr. 23

Marxistische Dialektik im 20. Jahrhundert

2. Teil: Geschichte und Klassenbewußtsein

Unsere Serie zur Geschichte des "Westlichen Marxismus" über die wichtigsten Stationen der Dialektik im 20. Jahrhundert anhand ihrer Vordenker (und Feinde) begann in der vorherigen BAHAMAS Nr. 22 mit dem Beitrag Lenin überwindet eine Depression. (Die Red.)

Was bisher geschah: Anhand von Lenins Exzerpten und Notizen zur Hegelschen Dialektik waren im ersten Teil schon drei wichtige Motive herausgearbeitet worden, die für die neue Auffassung von Dialektik im zwanzigsten Jahrhundert von Bedeutung waren: Erstens die Kritik an Engels, zweitens die Abwendung von einer pseudo-dialektischen Revolutionsbegründung und Hinwendung zur dialektischen Kritik der Warengesellschaft und drittens die erneute Aufnahme der Hegelschen Totalitätskategorie, die jetzt mit der Marxschen Warenanalyse verknüpft wurde.

Was bei Lenin jedoch nur mehr oder minder aphoristischen Charakter hatte und später im Wirbel der politischen Umwälzungen wieder unterging, wurde von Georg Lukács in seiner 1923 erschienenen Aufsatzsammlung Geschichte und Klassenbewußtsein ausführlich entfaltet. Allerdings setzte Lukács die Akzente bereits etwas anders als Lenin. Die Differenzen lassen sich im wesentlichen auf zwei Gründe zurückführen:

Lukács: Der erste Marxist mit solider philosophischer Ausbildung

Zum einen weist Lukács einen ganz anderen sozialen und damit auch intellektuellen Hintergrund als die allermeisten anderen sozialdemokratischen bzw. kommunistischen Theoretiker auf. Während Lenin, obwohl selbst eher der bürgerlichen Oppositionsbewegung Rußlands entstammend, eine lange Schule in der internationalen Sozialdemokratie absolviert hatte, gehörte Lukács der radikalen bürgerlichen Intelligenz an, die erst durch ihre Opposition zum Weltkrieg in die Arme des Marxismus getrieben wurde. Schon vor dem Weltkrieg und seiner Hinwendung zum Marxismus war Lukács als bedeutender philosophischer Autor hervorgetreten. Der intellektuelle Hintergrund, vor dem Lukács agierte, war somit ein völlig anderer, als derjenige der sogenannten "Arbeiterintellektuellen", die die theoretischen Auffassungen der zweiten Internationale geprägt hatten.

Lukács war wahrscheinlich der erste Marxist - Marx eingeschlossen - der eine grundsolide philosophische Ausbildung besaß. (1) Gerade diese überlegene Bildung dürfte mit ein Grund dafür gewesen sein, daß die Kritik, die Geschichte und Klassenbewußtsein von orthodox-kommunistischer Seite her erfuhr, derart haßerfüllt und ressentimentgeladen war. Doch zu dieser Kritik und ihrem sachlichen Gehalt später. Jedenfalls: Lukács' profunde Kenntnis der bürgerlichen Philosophie und ihrer ungelösten Probleme ermöglichten ihm, die Marxsche Theorie auf eine Weise in die Kontinuität der philosophischen Tradition einzubetten, zu der vor ihm schon rein aus mangelndem Wissen kein Theoretiker der Arbeiterbewegung in der Lage gewesen wäre.

Dies war nicht die einzige Differenz: Auch die weltpolitische Lage und die Rolle der Arbeiterbewegung darin war grundlegend verändert. Reagierte Lenin mit seiner Hinwendung zur Hegelschen Dialektik auf die Katastrophe des Weltkrieges und den Zusammenbruch der Arbeiterbewegung, sind die Probleme, vor die sich Lukács gestellt sieht, andere. Auf der einen Seite sieht die Lage deutlich positiver aus als noch zu Beginn des Weltkriegs: Der Krieg hat zu einem Zusammenbruch der alten bürgerlichen Welt geführt, die Arbeiterbewegung erweist sich in den Nachkriegswirren als wichtige politische Kraft und zumindest in Rußland gehen die radikalen linken Strömungen siegreich aus den Machtkämpfen im zerbrechenden Zarenreich hervor. Doch gleichzeitig müssen einige sehr bittere Wahrheiten bilanziert werden: Außer in Rußland sind die revolutionären Bewegungen niedergeschlagen worden. Lukács selbst, der sich aktiv an der ungarischen Räterepublik beteiligt hatte, muß 1919 ins Ausland fliehen. In Deutschland hat die Sozialdemokratie einen nicht zu unterschätzenden Anteil daran, daß die Revolution niedergeschlagen wird. Die Arbeiterbewegung ist weiter gespalten, die ökonomische Situation des eingekreisten Rußlands verschlechtert sich zusehends. 1923, als Geschichte und Klassenbewußtsein erscheint, gärt es zwar noch etwas in Deutschland, doch der verzweifelte Versuch der Komintern, 1923 eine Revolution anzuzetteln, wird in letzter Sekunde abgeblasen, da man zu Recht keine sonderlich enthusiastische Reaktion der deutschen Arbeiterschaft erwartet. Kurz: Die revolutionäre Arbeiterbewegung befand sich nach einer kurzen Scheinblüte erneut in einer schweren Krise, die jedoch von einem anderen Format war als die Krise von 1914.

Der bürgerliche Interlektuelle als Marxist

Geschichte und Klassenbewußtsein reagiert, wie Lenins Hegelstudien, auf eine Krise der Arbeiterbewegung. Die Differenz zur scheinbar aussichtslosen Lage 1914 ist die Doppeldeutigkeit der neuen Situation: Die Möglichkeit der Revolution steht zwar noch klar vor Augen, doch ihre Wirklichkeit läßt, mindestens momentan, sehr zu wünschen übrig. In dieser Situation versucht nun der bürgerliche Intellektuelle Lukács, der marxistischen Theorie eine grundlegend neue Wendung zu geben.

Für die marxistische Theorie bis zu Geschichte und Klassenbewußtsein waren die tragenden Säulen vor allem die Ökonomie beziehungsweise die Geschichte gewesen. Philosophie stellte, von der unseligen Empiriokritizismus-Debatte einmal abgesehen, bestenfalls ein theoretisches Randgebiet da, reserviert für die Sonntagsbeilagen der Arbeiterzeitungen.

Geschichte und Klassenbewußtsein repräsentiert nun den ersten großen Versuch einer marxistischen Philosophie. Damit stellte Lukács entscheidende Weichen, die dem ganzen sogenannten Westlichen Marxismus die Richtung wiesen und damit zu einer Spaltung der marxistischen Theorietradition führten. Denn paradoxerweise hatte die Spaltung der Arbeiterbewegung sich in der Theorie kaum niedergeschlagen. Trotz differierender Einschätzungen im Konkreten unterschied sich der Marxismus der Sozialdemokraten wenig von dem der Kommunisten. Die Anknüpfung jedoch an die Kritiken Kants sollte in der Folge von Geschichte und Klassenbewußtsein zu einer grundlegenden Neuorientierung führen, die den Marxismus der zweiten und dritten Internationale in Frage stellte.

Dabei gab sich Lukács, im Gegensatz zur späteren Kritischen Theorie, noch außerordentliche Mühe, den Denkgepflogenheiten des klassischen Marxismus entgegenzukommen. Um seine Anknüpfung an die bürgerliche Philosophietradition zu legitimieren, folgte er dem klassischen Schema, das die Arbeiterbewegung in bezug auf die bürgerliche Kultur entwickelt hatte: Begriff sich die Arbeiterbewegung als Sachverwalterin des bürgerlichen Kulturerbes, die dieses nicht so sehr ersetzen als vielmehr weiterentwickeln und in der Weiterentwicklung vollenden wollte, so wandte Lukács dieses Schema nun auf die Philosophie an. Eine marxistische Philosophie ist ihm nicht so sehr anti-bürgerlich, als vielmehr Fortsetzung und Krönung der bürgerlichen Philosophietradition.

So wie die Entwicklung der Produktivkräfte zunächst durch die kapitalistischen Produktionsverhältnisse befördert wird, dann aber an systemimmanente Schranken stößt, so auch die des bürgerlichen Denkens. Ist es das Ziel der kommunistischen Revolution, die endgültige Entfesslung der menschlichen Produktivkräfte zu befördern, so sollen auch die letzten Schranken der bürgerlichen Vernunft niedergerissen werden. Und genau diese Vorstellung, daß die durch die bürgerliche Gesellschaft in ökonomischer wie geistiger Hinsicht gesetzten Grenzen zu überschreiten seien, macht zwangsläufig Kant zum Dreh- und Angelpunkt von Lukács' Überlegungen.

Grenzen der Vernunft

In seiner Kritik der reinen Vernunft hatte Kant den Versuch unternommen, gerade die Grenzen der menschlichen Vernunft ein für allemal zu bestimmen. Lukács akzeptiert im wesentlichen die Befunde Kants, schränkt sie dann aber dahingehend ein, daß die Grenzen der Vernunft, wie sie von Kant bestimmt wurden, nicht die Grenzen einer Vernunft sans phrase, sondern eben die Grenzen der bürgerlichen Vernunft seien. Eine Überwindung dieser Grenzen ist somit möglich, allerdings nicht auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft. In dieser Perspektive ist Marx nun auf einmal nicht mehr so sehr der Überwinder Hegels, als vielmehr dieser Marxens Komplize in der Überwindung Kants.

Die von Kant bestimmten Grenzen der menschlichen Vernunft, die dieser für unüberwindlich hielt, betrachtet Lukács nach zwei Richtungen. Kant zufolge ist naturwissenschaftliche Erkenntnis deshalb möglich, weil die Formen der Welt, die uns umgibt, selbst Resultate der Konstitutionsleistung unserer Vernunft sind: Wir können uns in der Welt zurechtfinden und ihre Gesetzmäßigkeiten feststellen, weil sie, zumindest in Ansehung der Formen, unser ureigenstes Produkt ist. Eine Grenze unserer Vernunft wird jedoch durch den Inhalt dieser Formen markiert. Während die Formen selbst der Notwendigkeit gehorchen, ist ihr Inhalt zufällig, irrational: Daß ein Apfel, wenn er sich vom Stamm löst, herunterfallen muß, ist eine physikalische Notwendigkeit. Daß aber überhaupt ein Apfel da ist, der herunterfallen kann, ist nur empirisch zu konstatieren. Dies ist die eine Grenze der bürgerlichen Vernunft: Während die Gegenständlichkeitsformen rationaler Notwendigkeit gehorchen, können wir über den Inhalt nichts aussagen. Wir werden, wie Kant es nennt, davon "affiziert", daß die Konstituton der gegenständlichen Welt mit unerbittlicher Notwendigkeit abläuft, wir aber nichts über den Inhalt dieser Affektionen jenseits der von uns hinzugefügten kategorialen Formen aussagen können. Kurz: Der "Inhalt" der Gegenständlichkeitsformen, das berühmte Kantsche "Ding-an-sich", ist außerhalb unserer Vernunft, da diese sich auf die kategorialen Formen beschränken muß.

Dies ist aber nicht die einzige Grenze. Wichtiger noch ist eine andere, die die Totalität der gegenständlichen Welt für die bürgerliche Vernunft darstellt. Kant versuchte in den Antinomien der reinen Vernunft zu zeigen, daß wir keinen Begriff von der Totalität der gegenständlichen Welt besitzen können. So wie das Ding-an-sich sich sozusagen unterhalb des kategorialen Rahmens bewegt, in dem wir überhaupt denken können, bewegt sich das Weltganze oberhalb. Kant zeigt, daß wir über die Totalität der Welt genausowenig etwas vernünftig aussagen können wie über das letzte Substrat der Gegenstände. Hier müsse sich die menschliche Vernunft damit bescheiden, an unüberschreitbare Schranken gestoßen zu sein.

Warum aber kulminieren in diesen Problemen die ganzen Schwierigkeiten des bürgerlichen Denkens? Nach Lukács handelt es sich bei der Philosophie Kants nur um den abstraktesten und allgemeinsten Ausdruck der Probleme, die in allen Wissenschaften zu finden sind, die sich das Modell der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung zu eigen gemacht haben. Alle bürgerlichen Wissenschaften stehen vor dem Problem, daß sie derart an die Grenzen ihrer Begriffsbildung stoßen. Zum einen bleibt ihnen ihr Gegenstand fremd: Sie haben keine wirkliche Macht über ihn, sondern finden ihn nur als Anstoß vor, ihre Begriffsgerüste um ihn herum aufzubauen. So wie wir, allgemein erkenntnistheoretisch gesprochen, vom Ding-an-sich affiziert werden, ohne jedoch über diese Affektion irgendetwas zu vermögen, so sind die Gegenstände der Einzelwissenschaften ein Substrat, das die Wissenschaftler nur vorfinden, das sie eventuell manipulieren können, über das sie aber keine tatsächliche Macht ausüben.

Totalitätsproblematik und bürgerliche Realität

Dasselbe gilt für die Totalitätsproblematik: Keine der bürgerlichen Einzelwissenschaften ist, nach Lukács, in der Lage, ihren gesamten Gegenstandsbereich in den Griff zu bekommen. Diese mangelnde Beherrschung der Totalität wird immer dann sichtbar, wenn eine Disziplin in die Krise gerät. Scheinbare Zufälligkeiten führen dazu, daß der von der Wissenschaft festgelegte Normalfall auf einmal nicht mehr hinreicht, die tatsächlichen empirischen Phänomene zu beschreiben. Die Krise wird immer als von außen kommend imaginiert, nie als Bestandteil des Systems selbst.

Diese Blindheit ist nach Lukács nicht zufällig: Die ganze Problematik ist ideologischer Ausdruck der bestimmten ökonomischen Struktur der bürgerlichen Gesellschaft selbst. Und erst die Analyse dieser Struktur, wie sie von Marx im Kapital geleistet worden war, liefert nach Lukács überhaupt den Schlüssel dafür, eine Überwindung der Problematik anzugehen.

Das wirklich Geniale an dieser Behauptung war, daß Lukács tatsächlich einigermaßen plausibel aufwies, wie diese Grenzen der wissenschaftlichen Begriffsbildung in den Kategorien der politischen Ökonomie sozusagen ihr Urbild hatten: Dem Ding-an-sich als Substrat der Erkenntnisformen entspricht in der Ökonomie der Gebrauchswert. Er wird, sowohl in seiner dinglichen Gestalt als konkreter Warenkörper ebenso wie als bestimmtes Bedürfnis der Konsumenten von der Ökonomie einfach vorausgesetzt. Die bürgerlichen Ökonomen sind einzig in der Lage, die Formen des Austauschs und die diesem zugrundeliegenden Regeln zu erforschen. Der Inhalt dieser Formen jedoch bleibt in der bürgerlichen Ökonomie außen vor. Dasselbe gilt für die Totalitätsproblematik: Diese taucht in der Ökonomie auf als das Problem der Krise. Die ökonomische Krise kann von der bürgerlichen Ökonomie überhaupt nicht in ihrer Notwendigkeit erfaßt werden. Sie erscheint immer als kontingenter Einbruch von außen, als zufällige Katastrophe, die sich jeder Rationalität entzieht.

Erst Marx ist es, nach Lukács' Auffassung, gelungen, das Geheimnis der Formen zu enthüllen - und zwar unter Rückgriff auf die Hegelsche Methode. Indem Marx den strikten Dualismus von Form und Inhalt dialektisch aufhob, den Inhalt als Resultat der Selbstbewegung der Form auffaßte, konnte es ihm gelingen, die Schranken der ökonomischen Rationalität zu durchbrechen. Das heißt nun aber nicht, daß Marx einfach klüger war als die bürgerlichen Ökonomen. Tatsächlich besteht die Gleichgültigkeit des Inhalts gegenüber der Form in der bürgerlichen Realität fort. Das Problem ist nicht einfach ein theoretisches, das Kant und seine Nachfolger nur aus Unvermögen oder bürgerlicher Verblendung nicht hatten lösen können. Tatsächlich sind diese Grenzen real: Die Gleichgültigkeit des Inhalts gegenüber den Formen, die Notwendigkeit der Krise sind nicht durch einen theoretischen Gewaltakt aus der Welt zu schaffen.

Philosophische Mission des Proletariats?

Marx' theoretische Lösung reicht nur so weit, wie in der realen gesellschaftlichen Bewegung die Gleichgültigkeit der Form gegen den Inhalt aufgelöst wird. Konkret heißt das: Nur in dem Maß, in dem sich das Proletariat den konkreten gesellschaftlichen Reichtum aneignet, in dem Maß können auch die Grenzen der bürgerlichen Vernunft überschritten werden. Theorie kann diesen praktischen Prozeß antizipieren und ihn ins Bewußtsein rufen, ihn ersetzen kann sie nicht.

Allein das Proletariat als konkrete Totalität, die keine Grenze mehr außer sich hat, ist letztlich zur Überwindung der bürgerlichen Schranken berufen, um damit auch die Kantsche Problematik ad acta zu legen. Für das Proletariat als wirklich tätige Kraft, die im Produktionsprozeß Form und Inhalt vermittelt, ist das Auseinanderklaffen von Form und Inhalt nicht in dem Maße gegeben wie für den bürgerlichen Wissenschaftler, der außerhalb des eigentlichen Produktionsprozesses steht. Die Anwendung der Dialektik auf die ökonomischen Kategorien setzt somit voraus, daß Marx sich antizipierend auf den Standpunkt eines Proletariats stellte, das so, in der empirischen Realität, noch gar nicht existierte, sondern nur als Tendenz in der Bewegung der Form selbst. Dieser Standpunkt des Proletariats, die Kritik der bürgerlichen Gesellschaft von einer antizipierten konkreten Totalität her, markiert nach Lukács die fundamentale Differenz der materialistischen Dialektik zur bürgerlichen Wissenschaft. Die Dialektik als theoretische Methode antizipiert also das, was das Proletariat in seiner Praxis erst noch zu leisten hat, nämlich die Gesellschaft als konkrete Totalität aus sich selbst heraus zu produzieren.

An dieser Stelle taucht natürlich zwangsläufig die Frage auf, warum denn eigentlich die Dialektik, die ja offensichtlich die Identifikation mit dem Befreiungskampf des Proletariats zur Voraussetzung hat, von einem so durch und durch bürgerlichen Philosophen wie Hegel zur höchsten Vollendung geführt werden konnte. Tatsächlich bleibt diese Frage in Geschichte und Klassenbewußtsein weitgehend offen. In der weiteren Entwicklung der materialistischen Dialektik wird dann auch sehr schnell diese Identifizierung der Totalität mit dem Proletariat aufgegeben. Aber die Kategorie selbst wird, zumindest bis zu den sogenannten "postmodernen" Denkern, zentrales Thema bleiben. Die kommunistische Orthodoxie witterte sofort die Gefahr, die dem Proletariat von der Lukácsschen Redialektisierung des Marxismus drohte. Mit Schaum vor dem Mund hetzten die Wächter der reinen Lehre gegen Lukács. Zur Illustration sei hier nur der Anfang von Deborins legendärer Kritik zitiert: "Genosse Lukács tritt in seinem Buch ,Geschichte und Klassenbewußtsein' (1923) in der Rolle des philosophischen Kritikers des Marxismus auf. Man muß es dem Verfasser lassen: er versteht es, seine idealistischen und sogar mystischen Tendenzen geschickt zu verschleiern. Aber es fällt ihm trotz seiner feinen Diplomatie doch nicht gar so leicht, die idealistischen Ohren unter die Tarnkappe zu stecken. Jeder nur ein wenig geschulte Marxist wird bei etwas Nachdenken leicht diese idealistischen Tendenzen erkennen, die aus einem Meer krauser Phrasen an die Oberfläche treten." (2)

Die ohnmächtige Wut, die alle orthodoxen Kritiken durchzieht, ist ziemlich instinktsicher: Tatsächlich stellt Geschichte und Klassenbewußtsein den Anfang vom Ende des Marxismus als Emanzipationstheorie der Arbeiterklasse dar. Das Problem von Geschichte und Klassenbewußtsein ist dabei jedoch nicht, daß Lukács eventuell sich der idealistischen Abweichung schuldig gemacht hatte. Das eigentliche Problem fällt vielmehr mit der eigentlichen Stärke des Werkes zusammen: Mit Geschichte und Klassenbewußtsein wurde dem Marxismus ein philosophisches Fundament gegeben, das ihn in die große Tradition der abendländischen Philosophie integrierte. Damit aber wurde zugleich die Trennungslinie verwischt, die Marx zwischen sich und der philosophischen Tradition gezogen haben wollte.

Philosophie und Klassenkampf

Somit ist die erneute Integration der Marxschen Theorie in die philosophische Tradition eigentlich ein theoretischer Rückschritt, allerdings ein Rückschritt, der unvermeidlich war. Indem Lukács das Proletariat wieder zur philosophischen Kategorie erhob, die Theorie der realen Praxis des Proletariats vorauseilen ließ, reflektierte er nur die desolate Klassenkampfpraxis des real existierenden Proletariats, was wiederum die marxistischen Sittenwächter mit sicherem Instinkt erkannten.

Der Bruch zwischen Theorie und Praxis, den Geschichte und Klassenbewußtsein noch einmal mit einem theoretischen Kraftakt kitten wollte, war irreparabel. Der theoretische Marxismus, soweit er sich nicht dem blinden Diktat irgendwelcher Parteizentralen unterwerfen wollte, wurde zu einer von der realen Klassenkampfpraxis getrennten Philosophie. Und so führt, obwohl Lukács in einem Verzweiflungsakt gerade die historische Mission des Proletariats noch einmal zu begründen versuchte, ein direkter Weg von Geschichte und Klassenbewußtsein zu Adornos Negativer Dialektik, die dann mit den Worten anheben muß: "Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward." (3)

Michael Koltan

Anmerkungen:

1) Marx' philosophische Interessen waren sehr selektiv. Seine große Liebe galt den alten Griechen, insbesondere Aristoteles. Die beträchtlichste Lücke seiner philosophischen Bildung aber klaffte gerade dort, wo die ganzen "westlichen" Marxisten in der Nachfolge von Lukács ansetzen sollten: bei Kant.

2) A. Deborin, "Lukács und seine Kritik des Marxismus", in: Arbeiterliteratur, Heft 10/1924, S. 615

3) Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt/M. 1992, S.15

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