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BAHAMAS Nr. 22

Michael Koltan

Marxistische Dialektik im 20. Jahrhundert

1 - Teil: Lenin ueberwindet eine Depression

In einer losen Folge von Artikeln werden in den naechsten Heften eine Reihe unterschiedlicher Konzepte von Dialektik (und Anti-Dialektik) vorgestellt und diskutiert werden. Dabei sollen nicht nur die Vorstellungen von Marxisten wie Lenin, Lukacs, Horkheimer, Marcuse, Sartre und Adorno referiert werden, sondern auch prominente Antikommunisten wie Heidegger oder Foucault ihr Fett wegbekommen. Was sich zunaechst wie eine mehr oder minder willkuerliche Aufzaehlung anhoert, dient nicht irgendeinem marxistischen Pluralismus, wo sich dann am Schluss jeder das herauspicken kann, was ihm in den Kram passt. Vielmehr werden die unterschiedlichen theoretischen und - damit verbunden - politischen Positionen abgeklopft werden, damit am Ende das Licht Adornos umso heller erstrahlen kann.

Es gibt einige Leitmotive, die den gesamten Gang der Darstellung strukturieren. Das erste haengt mit der zeitlichen Begrenzung zusammen. Warum die Beschraenkung auf das 20. Jahrhundert? Warum nicht die gesamte Geschichte der marxistischen Dialektik in der Folge Hegels aufgreifen? Vieles spraeche natuerlich dafuer, eine historische Darstellung bei Hegel beginnen zu lassen; der Grund, warum hier trotzdem anders vorgegangen wird, ist darin zu finden, dass die Dialektik um die Zeit des ersten Weltkriegs einen grundlegenden Funktionswandel erfaehrt: Aus einer Art wissenschaftlicher "Meta-Methode" wird zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine"Anti-Wissenschaft".

Auch wenn Marx gelegentlich ueber den "Scheisspositivismus" (MEW 31, S.234) herzog - sein Verhaeltnis zur buergerlichen Wissenschaft war relativ ungebrochen. Dummheit, Borniertheit, Einseitigkeit mochte er den buergerlichen Oekonomen vorwerfen, doch eine grundlegende Ablehnung der buergerlichen Wissenschaft als solcher waere ihm nie in den Sinn gekommen.

Anders bei den Marxisten des 20. Jahrhunderts. Diesen ging es nicht darum, die positiven Einsichten der buergerlichen Wissenschaft mit Hilfe der Dialektik auf ein neues Niveau zu heben (Ausnahmen bestaetigen die Regel), sondern vielmehr, mit Hilfe der Dialektik eine fundamentale Kritik an den buergerlichen Formen des Wissens zu formulieren. Anders ausgedrueckt: Die Dialektik des 20. Jahrhunderts ist wesentlich Kritik, und deshalb ist es sinnvoll, sie sozusagen als eigene Gattung zu behandeln.

Dies erklaert auch, warum sich die Untersuchung auf den sogenannten "westlichen" Marxismus beschraenken wird . Die sich "real-sozialistisch" nennenden Regimes staatlich organisierter nachholender Akkumulation haben im Bereich dieser kritischen Handhabung der Dialektik nichts Erwaehnenswertes hervorgebracht. Selbst der spaete Lukaecs, der noch am ehesten Beachtung verdiente, versucht wieder, die Dialektik als sozialistische"Meta-Wissenschaft" zu etablieren, was seine Ontologie des gesellschaftlichen Seins so unglaublich affirmativ macht.

Diese Beschraenkung auf den kritischen westlichen Marxismus gibt dann auch das inhaltliche Leitmotiv vor, das sich als roter Faden durch alle Folgen durchziehen wird. Der kritisch-antibuergerliche Gestus der marxistischen Dialektik im 20. Jahrhundert wirft naemlich ein Problem auf, das sich fuer die Dialektik des 19. Jahrhunderts ebensowenig stellte wie fuer die Philosophen des Staatssozialismus: Die Frage nach dem Verhaeltnis von Geschichte und Dialektik. Der Begriff geschichtlicher Totalitaet - gleichzusetzen mit der Vorstellung eines bereits eingetretenen oder zumindest kurz bevorstehenden Endes der Geschichte - kann von der kritischen Dialektik nicht unhinterfragt uebernommen werden.

Die entscheidende Frage wird deshalb bei allen zu diskutierenden Autoren sein, wie sie den Begriff der dialektischen Totalitaet und wie sie den Begriff der Geschichte denken; dabei wird, je nach dem zu behandelnden Theoretiker, einmal mehr das Schwergewicht auf der Totalitaet, dann wieder eher auf der Geschichte liegen. Und Ziel der Serie waere es, Geschichte und Totalitaet auf zeitgemaesse Weise wieder zusammendenken zu koennen. Ob das gelingt, kann nur ihr Fortgang erweisen.

Die Schuesse von Sarajewo und Hegels Logik

Die Geschichte der Dialektik im zwanzigsten Jahrhundert begann am 28. Juni 1914 in Sarajewo: Ein bosnischer Student erschoss, im Auftrag einer serbischen Geheimorganisation, den oesterreichischen Thronfolger Franz Ferdinand. Die wichtigsten Auswirkungen dieses Terroraktes sind bekannt: Zunaechst einmal bot dieses Attentat fuer Oesterreich und das Deutsche Reich den Vorwand, ihren lange vorbereiteten Krieg gegen Serbien und Russland zu beginnen; einen Krieg, der sich schnell zum Weltkrieg auswachsen sollte. Bekannt ist auch, dass in der Folge von Attentat und Kriegsbeginn sich die internationale Arbeiterbewegung spaltete - in die Masse derer, die die imperialistische Politik der eigenen Nation unterstuetzte, und eine zunaechst kleine Minderheit, die bedingungslos die Unterstuetzung der kriegfuehrenden Nationen ablehnte.

Eine weniger bekannte Nachwirkung des Anschlags hingegen war, dass in Oesterreich, nahe der Grenze zum zaristischen Reich, der russische Staatsbuerger Wladimir Iljitsch Uljanow verhaftet wurde. Erst als den oesterreichischen Behoerden glaubhaft versichert wurde, dass selbiger Uljanow unter dem Namen Lenin einer der erbittertsten Gegner des Zarismus sei, wurde er freigelassen und konnte in die Schweiz ausreisen. Dort liess er sich in Bern nieder und begann seine Propagandarbeit gegen den imperialistischen Weltkrieg und fuer dessen Umwandlung in einen revolutionaeren Buergerkrieg.

Betrachtet man naeher, womit Lenin sich in den ersten Jahren des Weltkriegs intellektuell beschaeftigte, verwundert es kaum, dass es sich dabei in erster Linie um Fragen des Krieges, des Imperialismus und der Nationalitaetenpolitik handelte. Wundern muss man sich allerdings, wenn man erfaehrt, dass Lenin sich zu dieser Zeit auch gruendlieb mit Hegels Logik befasst und ausfuehrliche, kommentierte Exzerpte angefertigt hat. Warum wendet sich ein Berufsrevolutionaer in dieser schlimmsten Krise der revolutionaeren Bewegung einem von der praktischen Politik so weit entfernten Thema zu? Hatte Lenin angesichts der Katastrophe resigniert? Einer der Biographen Lenins aeusserte sich in diesem Sinn: "Die philosophische Arbeit sollte eine Art Notwehr sein, denn Lenin steckte mitten in einer seiner Depressionen. Seit Mitte Juli [ 1914] fuehlte er sich nicht wohl, und abgesehen von einer kurzen Periode der Aktivitaet Anfang September nahm er seine politische Betaetigung erst wieder am 11. Oktober auf."

Doch so einfach ist es nicht. Es griffe zu kurz, wenn man die Abwendung von den politischen Tageskaempfen und die Hinwendung zur Philosophie nur als eine Art psychischer Notwehr betrachtete. Derartiger Defaetismus waere Lenin fremd gewesen. Richtig ist natuerlich, dass Lenin auf die traumatische Erfahrung des Kriegsausbruches reagierte, als er sich mit der Philosophie zu beschaeftigen begann. Es wuerde schwer verwundern, haette Lenin nach diesem Schock, der sein ganzes Lebensziel in Frage stellte, einfach so weitergemacht, als waere nichts geschehen. Tatsaechlich waren durch den Kriegsausbruch grundlegende Fragen zur historischen Situation und der Rolle der Arbeiterbewegung darin aufgeworfen worden.

Im Gegensatz zu frueheren innerparteilichen Auseinandersetzungen, die Lenin bekanntermassen nie gescheut hatte, konnte jetzt nicht mehr einfach mit politischen Kurskorrekturen innerhalb einer im grossen und ganzen bekannten allgemeinen Strategie reagiert werden. Vielmehr hatte sich durch den Kriegsausbruch die gesamte politische Konstellation veraendert. Die Auseinandersetzungen, die jetzt innerhalb der internationalen Arbeiterbewegung begannen, hatten bislang keinen Praezedenzfall. Im Gegensatz zu frueheren Kontroversen etwa der vehement gefuehrten Massenstreikdebatte - konnte man sich nicht mehr darauf berufen, dass es sich zwar um Meinungsverschiedenheiten handelte, diese aber auf dem Boden einer grundsaetzlichen Uebereinstimmung ausgetragen wurden. Das Problem musste jetzt tiefer angesetzt werden; es ging nun nicht mehr um taktische Differenzen innerhalb einer einheitlichen Strategie, sondern die Strategie selbst stand zur Debatte. Wollten tatsaechlich noch all diejenigen, die sich als Teil der internationalen Arbeiterbewegung begriffen, dasselbe?

Dialektik und Arbeiterbewegung

Lenins theoretische Anstrengungen in der Anfangszeit des imperialistischen Weltkrieges zielten darauf ab, den fundamentalen Bruch in der Arbeiterbewegung herauszuarbeiten und ihm eine theoretische Begruendung zu geben. Bei den Studien zum Imperialismus ist offensichtlich, dass diese Frage im Zentrum steht. Man mag zurecht den theoretischen Wert von Lenins Imperialismustheorie bestreiten; klar istjedoch, dass Antwort darauf gegeben werden sollte, warum die Arbeiterbewegung am Vorabend des Weltkrieges versagt hatte. Doch gilt dies auch fuer die Hegelstudien?

In der Tat. Auch hier steht die Spaltung der Arbeiterbewegung im Zentrum, wenn auch von einem anderen Blickwinkel aus. Damit dies verstaendlich wird, muessen wir einige Jahre zurueckgehen, zu den Auseinandersetzungen um das Hegelsche Erbe in der Marxschen Theorie, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der deutschen Sozialdemokratie gefuehrt worden waren. Schon damals war diese Frage untrennbar mit der Auseinandersetzung um Sozialreform oder Revolution verknuepft worden. Eduard Bernstein, der Vater des Revisionismus und Apostel des allmaehlichen Uebergangs vom Kapitalismus in den Sozialismus, hatte die Frage der Dialektik zu einem zentralen Streitpunkt gemacht. In seinen "Voraussetzungen des Sozialismus" schrieb er: "Die Hegelsche Philosophie ist von verschiedenen Schriftstellern als ein Rellex der grossen Franzoesischen Revolution bezeichnet worden, und in der Tat kann sie mit ihren gegensaetzlichen Evolutionen der Vernunft als das ideologische Gegenstueckjener grossen Kaempfe bezeichnet werden. [...] Das radikalste Produkt der grossen Franzoesisehen Revolution war die Bewegung Babeufs und der Gleichen gewesen. Ihre Traditionen wurden in Frankreich von den geheimen revolutionaeren Gesellschaften aufgenommen, aus denen spaeter die blauquistische Partei hervorging. Ihr Programm war: Sturz der Bourgeoisie durch das Proletariat mittels gewaltsamer Expropriation. [... ] In Deutschland kamen Marx und Engels auf Grund der radikalen

Hegelschen Dialektik zu einer dem Blanquismus durchaus verwandten Lehre." (Bernstein 1969, 54f.) Es wird deutlich: Der Revisionist Bernstein sieht die Uebernahme der Hegelschen Dialektik und den Willen zum revolutionaeren Umsturz als zwei Seiten einer Medaille. Die Spaltung der Revolutionaere von den Reformisten steht somit in einem engen Zusammenhang mit Fragen der dialektischen Methode. Waehrend die Revisionisten in der Vorkriegssozialdemokratie philosophisch eher dem Neu- Kantianismus zuneigten, beriefen sich die ueberzeugten Revolutionaere auf eine materialistische Dialektik.

Diese hoechst merkwuerdige Verknuepfung von philosophischer Methode und revolutionaerem Willen war jedoch nicht ganz so absurd, wie der von Bernstein suggerierte Zusammenhang zwischen Hegel und Blanqui vielleicht glauben machen koennte. Tatsaechlich hatte sie ihren Grund in der fragwuerdigen Auffassung von Dialektik, wie er in der Sozialdemokratie vorherrschte.

Im wesentlichen bezogen die Theoretiker der Sozialdemokratie ihr gesamtes Wissen ueber Hegel und die Dialektik aus Engels'Altersschriften. Und Engels'Beschaeftigung mit Hegel ging - im Gegensatz zu der von Marx - schon in seiner Jugendzeit nicht sehr weit. Tatsaechlich propagiert Engels in seinen Alterschriften eine Form von "Dialektik", wie sie absurder nicht sein koennte.

Die durch Engels in der marxistischen Arbeiterbewegung popularisierte Aul'fassung der Dialektik lief im wesentlichen darauf hinaus, eine Liste "dialektischen Gesetzmaessigkeiten" aufzustellen, die in Natur und Gesellschaft wirksam sein sollten. Von den ueblichen Naturgesetzen sollten sich diese "dialektischen" Gesetze dadurch unterscheiden, dass sie das Moment des Widerspruches betonten. Entwicklung und Bewegung seien nicht einfach linear, sondern in Kategorien des Kampfes, des Widerspruches, der ploetzlichen Umschwuenge zu denken. Dass eine derartige Widerspruchsontologie mit Dialektik sehr wenig, mit Darwinismus jedoch sehr viel zu tun hat, ist offensichtlich.

Diese verballhornte Dialektikauffassung laesst jedoch klarer hervortreten, warum die Revolutionaere sich als "Dialektiker" verstanden, waehrend die Reformisten die Dialektik als krude Metaphysik abtaten. Das Argument der Dialektiker war immer, dass die Ablehnung einer derartigen Kosmologie auf eine "Leugnung der gesellschaftlichen Widersprueche" hinauslaufe, was in letzter Instanz dazu fuehre, der Revolution abzuschwoeren und der Verbuergerlichung der Partei Tuer und Tor zu oeffnen.

Lenins erneute Beschaeftigung mit der Dialektik zu Beginn des Weltkrieges muss vor dem Hintergrund dieser Debatte begriffen werden. Einerseits knuepfte er an die alten Streitigkeiten an, indem auch fuer ihn die Differenz zwischen Reformisten und Revolutionaeren sich im Verhaeltnis zur dialektischen Methode ausdrueckte: Wer die Dialektik anerkennt, ist Revolutionaer, wer nicht, offenbart sich als Revisionist. Andererseits ging Lenin jedoch ueber die alten Debatten hinaus, indem er sich nicht mehr scholastisch auf den alten Engels berief, der die richtige, dialektische Linie vorgegeben habe. Stattdessen ging er zu den Quellen selbst zurueck, zu Hegel. Ganz offensichtlich muss er den Verdacht gehabt haben, dass Engels' Auffassung der Dialektik deutlich zu kurz griff.

In Lenins Hegelexzerpten gibt es einen gern zitierten, aber selten interpretierten Aphorismus. Er lautet: "Man kann das,Kapital' von Marx und besonders das 1. Kapitel nicht vollstaendig begreifen, ohne die ganze Logik von Hegel durchstudiert und begriffen zu haben. Folglich hat nach einem halben Jahrhundert nicht ein Marxist Marx begriffen!" (LW 38,170)

Einmal davon abgesehen, dass dieser Aphorimus einfach sachlich richtig ist, sind zwei wenig beachtete Motive hervorzuheben. Das eine ist, dass die Aussage, kein Marxist nach Marx habe dessen Kapital begriffen, ganz offensichtlich Friedrich Engels einschliesst: Engels' Altersschriften, die die Marxsche Theorie und Methode popularisiert hatten, werden hier von Lenin als authentische Interpretationen verworfen.

Wiederentdeckung der Totalitaet

Noch wichtiger jedoch als diese Abkehr von den Engelsschen Altersschriften ist die zweite Implikation dieses Aphorismus: Indem Lenin darauf hinweist, dass die Kenntnis der Hegelschen Dialektik vor allem fuer das erste Kapitel des Marxschen Kapital von herausragender Bedeutung sei, wird zum ersten Mal das zentrale Thema angcschlagen, das fuer die Dialektik im zwanzigsten Jahrhundert bestimmend sein wird: Der Zusammenhang der Dialektik mit der Wertform - denn genau diese ist Gegenstand des ersten Kapitels.

Dies ist durchaus neu. Die Debatten in der Vorkriegssozialdemokratie drehten sich immer um das 24. Kapitel im Kapital, der beruehmt-beruechtigten Skizze ueber die geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation. Dort hatte Marx geschrieben: "Die aus der kapitalistischen Produktionsweise hervorgehende kapitalistische Aneignungsweise, daher das kapitalistische Privateigentum, ist die erste Negation des individuellen, auf eigne Arbeit gegruendeten Privateigentums. Aber die kapitalistische Produktion erzeugt mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigne Negation. Es ist Negation der Negation.

Diese stellt nicht das Privateigentum wieder her, wohl aber das individuelle Eigentum auf Grundlage der Errungenschaft der kapitalistischen Aera: der Kooperation und des Gemeinbesitzes der Erde und der durch die Arbeit selbst produzierten Produktionsmittel." (MEW 23, 791) Diese Textstelle war von den Gegnern der Marxschen Dialektik immer als Beweis dafuer angefuehrt worden, dass Marx die Revolution nicht wirklich wissenschaftlich begruendet, sondern sich als Dialektiker auf das metaphysische Gesetz einer"Negation der Negation" berufen habe. Es nuetzte auch nichts, dass Marx noch zu eigenen Lebzeiten darauf hingewiesen hatte, dass diese Textstelle keinerlei begruendenden Charakter habe, und zwar"aus dem guten Grund, dass diese Behauptung selbst nichts anderes ist als die summarische Zusammenfassung langer Entwicklungen, die vorher in den Kapiteln ueber die kapitalistische Produktion gegeben worden sind." (MEW 19, 1 1 1)

Indem Lenin jetzt das Augenmerk von dieser, was die Marxsche Auffassung der Hegelschen Dialektik betraf, unsinnigen Debatte weg- und auf die Dialektik in der Marxschen Warenanalyse hinlenkte, trat er aus dem Schatten des 19. Jahrhunderts heraus und erwies sich als erster Marxist des zwanzigsten. Wir haben somit zwei entscheidende Neuerungen, die die Auffassung der Dialektik in der Arbeiterbewegung grundlegend veraenderten: Friedrich Engels wird nicht mehr als Autoritaet angesehen, und die Debatte wird weg von angeblich in der Geschichte wirksamen Gesetzmaessigkeiten hin auf die Marxschc Warenanalyse gelenkt.

Es kommt noch ein drittes Motiv hinzu, das sich in einem etwas spaeter zu datierenden Manuskriptfragment aus dem Jahr 1915 findet. Dort schrieb Lenin: "Spaltung des Einheitlichen und Erkenntnis seiner widersprechenden Bestandteile [ ] ist das Wesen ( J der Dialektik. [ ] Somit sind die Gegensaetze (das Einzelne ist dein Allgemeinen entgegengesetzt) identisch: das Einzelne existiert nicht anders als in dem Zusammenhang, der zum Allgemeinen fuehrt. Das Allgemeine existiert nur im Einzelnen, durch das Einzelne. Jedes Einzelne ist (auf die eine oder andere Art) Allgemeines. Jedes Allgemeine ist (ein Teilchen oder eine Seite oder das Wesen) des Einzelnen." (LW 38, 338ff.)

Damit naeherte sich Lenin zumindest ansatzweise dem an, fuer das Hegel die Formel der "Identitaet von Identitaet und Nichtidentitaet" gepraegt hatte. Hier wird ueber die in der Vorkriegsdemokratie gaengige Karikatur der Dialektik, die diese auf eine blosse Wechselwirkung entgegengesetzter Kraefte herunterbrachte, hinausgegangen. Zum ersten Mal taucht der Gesichtspunkt der Totalitaet auf, und zwar einer Totalitaet, die durch das Einzelne hindurch sich in sich selbst vermittelt. Im selben Manuskript schrieb Lenin: "Marx analysiert im Kapital' zunaechst das einfachste, gewoehnlichste, grundlegendste, massenhafteste, alltaegliebste, milliardenfach zu beobachtende Verhaeltnis der buergerlichen (Waren)Gesellschaft: den Warenaustausch. Die Analyse deckt in dieser einfachsten Erscheinung (in dieser,Zelle' der buergerlichen Gesellschaft) alle Widersprueche (resp. die Keime aller Widersprueche) der modernen Gesellschaft auf. Die weitere Darstellung zeigt uns die Entwicklung (sowohl das Wachstum als auch die Bewegung) dieser Widersprueche und dieser Gesellschaft im Gesamt ihrer einzelnen Teile, von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende." (LW 38 340)

Damit hat Lenin zum ersten Mal das herausgearbeitet, was Georg Lukacs dann in Geschichte und Klassenbewusstsein zum Ausgangspunkt machen wird - dass die Warenanalyse der Schluessel dafuer ist, die Totalitaet der buergerlichen Gesellschaft zu durchdringen. Lukacs fuer die Geschichte der Dialektik im zwanzigsten Jahrhundert grundlegender Aufsatz "Die Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats" begann mit den Worten: "Es ist keineswegs zufaellig, dass beide grossen und reifen Werke von Marx, die die Gesamtheit der kapitalistischen Gesellschaft darzustellen und ihren Grundcharakter aufzuzeigen unternehmen, mit der Analyse der Ware beginnen. Denn es gibt kein Problem dieser Entwicklungsstufe der Menschheit, das in letzter Analyse nicht auf diese Frage hinweisen wuerde, dessen Loesung nicht in der Loesung des Raetsels der Warenstruktur gesucht werden muesste." (Lukacs 1986, 170)

Zum 2. Teil: Geschichte und Klassenbewußtsein

Abkuerzungen:

- Bernstein 1969: Die Vorausetzungen des Sozialismus, Reinbek

- Lukacs 1986: Geschichte und Klassenbewusstsein, Darmstadt/Neuwied

- LW: Lenin Werke

- MEW: Marx Engels Werke

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