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BRD 1977 - Der Polizeistaat in Aktion

Die Linke und der Terrorismus

Über die Schwierigkeiten, mit den Problemen des Terrorismus fertig zu werden

Stellungnahme der Redaktion* der Zeitschrift "Probleme des Klassenkampfes" (Prokla)

aus: Prokla 30, 8.Jg. 1/78


Schon seit Jahren sprechen wir von "Tendenzwende", von der "zweiten Restaurationsphase" (nach dem ersten antikommunistischen, restaurativen ,roll back` unter Adenauer in den 50er Jahren), von der Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland zur autoritären Demokratie. Eine Reihe von Gruppen und politischen Theoretikern gar hegt die Auffassung, die westdeutsche Bundesrepublik befinde sich auf dem besten, oder besser gesagt auf dem schlechtesten Wege in einen "neuen Faschismus". Tatsächlich ist nach der durch die Studenten- und Jugendlichenrevolte aufgewuhlten, offenen, Entwicklungsphase der 60er Jahre der Normalität deutscher Obrigkeitsstaatlichkeit wieder Geltung verschafft worden. Die eingeleiteten Reformen wurden ruckgängig gemacht, gestoppt oder so verbogen, daß außer Effizienz nichts mehr, vor allem kein Körnchen Emanzipation, übrig bleibt. Der Staat der Bundesrepublik Deutschland zeigt, wie Franz Josef Strauf es ausdrückte, seine Zähne. Und daß dieser Staat zuzuschlagen versteht, hat nicht nur die spektakuläre Aktion von Mogadishu weltweit deutlich gemacht. Aber auch in den ubrigen Bereichen der Öffentlichkeit, der gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen ist die Tendenzwende kennzeichnendes Merkmal der gegenwärtigen Phase der westdeutschen Entwicklung. Den Berufsverboten nach den Ministerpräsidentenerlassen von 1972 im staatlichen Bereich folgten die Unvereinbarkeitsbeschlüsse in den Gewerkschaften. Im Bildungswesen ist die Lockerheit antiautoritären Verhaltens in Unterricht und Studium vorbei, im Justizapparat wird durchgegriffen. So eine '"schlappe" Verhaltensweise wie die Amnestie fur Demonstrationsstraftaten im Jahre 1969 unter der Kanzlerschaft Willy Brandts wäre gegenwärtig undenkbar. Die "heißen" Herbste und Sommer der späten 60er Jahre sind durch die frostige Kälte einer durch und durch autoritären Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Bundesrepublik abgelöst worden. Dabei wirkte das Ende der ökonomischen Prosperität, der Übergang zur Dauerkrise mit Massenarbeitslosigkeit wie ein Verstärker. Austerity, d. h. eine Politik der ökonomischem Restriktionen und der politischen Strenge, wurde - übrigens im ganzen von der Krise betroffenen Westeuropa - zum Begriff fur das gegenwärtige staatliche Handeln. Ökonomische Krise, Rechtsentwicklungen im Parteiensystem der BRD und die niemals in der jungeren deutschen Geschichte aufgearbeitete obrigkeitsstaaliche preußisch-deutsche Tradition definieren das Terrain, auf dem wir alle uns in unserer politischen, aber nicht nur politischen Existenz bewegen.

Die autoritäre Demokratie ist noch kein neuer Faschismus

Der Prozeß einer autoritären Entwicklung war und ist keineswegs geradlinig. Er vollzieht sich in Brüchen und Sprüngen. In dieser Hinsicht war das Jahr 1977 ganz entscheidend, vielleicht eines der fur die zukünftige Entwicklung entscheidendsten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Denn die Terroranschläge auf Buback, Ponto, Schleyer haben wie Katalysatoren bei der Ruckwärtsentwicklung in die autoritäre Demokratie funktioniert. Die Geschwindigkeit, mit der Verteidigerausschlüsse bei politischen Prozessen, die skandalöse Kontaktsperre der politischen Gefangenen durch die Institutionen der parlamentarischen Demokratie rechtmäßig (im rechtsstaatlichen Sinne) gemacht wurden; die Selbstverständlichkeit, mit der polizeiliche Übergriffe, wie gegen die Kernkraftgegener in Grohnde, Brokdorf oder Kalkar in der Öffentlichkeit hingenommen wurden und mit Hilfe des geplanten neuen Polizeigesetzes nicht mehr sanktionierbar sein sollen; die vielen anderen in parlamentarischer Arbeit befindlichen Gesetzesentwurfe zum Komplex "innerer Sicherheit" (insgesamt uber 100); die bedrohlichen Tendenzen staatlicher Organe und von großen Teilen der öffentlichen Meinungsträger, die gesamte Linke (von der linken SPD bis zu den K-Gruppen) als "Sympathisanten des Terrors" sozusagen ,out of bounds` zu stellen, zu marginalisieren und dann wohl auch zu kriminalisieren oder doch - wie mit Peter Bruckner geschehen - zu suspendieren; diese Entwicklungslinien haben die Physiognomie der bundesrepublikanischen Gesellschaft gründlich geklärt. Eine Physiognomie, deren Züge schon lange erkennbar wurden wie auf einem Photo im Entwicklungsbad, und vor dessen Wirklichkeit wir nun alle erschrecken.

Ist darauf die Fratze eines "neuen Faschismus" zu erkennen? Noch nicht. Die Rechtsstaatlichkeit funktioniert: Nicht nur die demokratische Republik sondern auch der einer deutschen, preußischen Tradition entsprechende Obrigkeitsstaat lassen sich rechtsförmlich organisieren. Allerdings bedeutet diese Rechtsförmlichkeit des Rechtsstaates eine Perversion des historisch gewachsenen Begriffs des bürgerlichen Rechtsstaats. Denn er implizierte die kalkulierbare, förmlich geregelte Begrenztheit staatlicher Kompetenz gegenüber der Gesellschaft, deren freie Regelung einen möglichst breiten Umfang erhalten und behalten sollte. Die Usurpation der Regelung gesellschaftlicher Beziehungen und Konflikte durch den Staat, d. h. ihre Verstaatlichung, führt vom Inhalt des Rechtsstaat immer weiter fort, ohne dabei unmittelbar seine Form zu zerstören; und so ist es entscheidend, daß bei grundsätzlicher Erhaltung der demokratischen, staatlichen und öffentlichen Institutionen, vom Parlament uber die Parteien und die Unabhängigkeit der Gerichte bis hin zu den "interdemiären Gewalten" wie den Gewerkschaften, diese westdeutsche Demokratie autoritär durchstrukturiert wird und dabei die freien Bereiche gesellschaftlicher Auseinandersetzungen enger werden. Gesellschaftliche politische Aktivitäten, die den Normen der verfestigten westdeutschen "politischen Kultur" nicht entsprechen, werden dabei verfemt, negativ sanktioniert oder gar kriminalisiert, von den Berufsverboten angefangen bis hin zu den sogenannten Gewaltparagraphen, ohne daß damit die Rechtsförmlichkeit der Rechtsstaatlichkeit verletzt wurde. Es ist wieder mehr verboten; und in Deutschland ist traditionell alles verboten, was nicht ausdrucklich erlaubt ist, während in anderen Ländern mit republikanischer Tradition eher alles das erlaubt ist, was nicht ausdrücklich verboten ist. Freiheitsrechte sind in dieser autoritären Demokratie aufgehoben oder zumindest gefährdet. Menschenrechte sind verletzt worden, aber ein faschistisches Regime ist die Bundesrepublik deswegen noch längst nicht. Diese Einschätzung hat natürlich politische Konsequenzen, ebenso wie die Definition dieses Landes als ,Faschismus` oder ,neuer Faschismus` zu politischen Konsequenzen mit innerer Logik hinfuhrt. Ein faschistisches Regime kann man nur frontal bekämpfen, aus der Illegalität heraus. Gesellschaftliche Bereiche, in denen durch eine kontinuierliche politische Kleinarbeit Positionen gewonnen werden können, wären durch das faschistische Machtsystem verunmöglicht; eine darauf zielende Strategie wäre grundsätzlich verfehlt. Die Notwendigkeit und die historische Aufgabe des Widerstands gegen ein faschistisches Gewaltregime wurde auch den "Griff zur Waffe" rechtfertigen. Aber die Bundesrepublik ist kein faschistisches Regime und daher ist eine solche Strategie des bewaffneten Kampfes nicht nur unsinnig, politisch verfehlt, sondern ihr geht auch die aus dem Widerstandsrecht abgeleitete moralische Rechtfertigung ab. Daher gerade ruhrt die politische und moralische Misere der RAF und ihrer Nachfolgegruppen.

Auch die innere oder äußere Emigration, unter heutigen Bedingungen also die Flucht in die Landkommune oder das in sich ruhende, gesellschaftliche Kontakte möglichst aussparende Alternativprojekt, oder die Reise in "das Land, wo die Zitronen bluhen" (nenne es sich nun Italien oder Tunix) bietet sich als Konsequenz aus der Definition der bundesrepublikanischen Zustände als "faschistisch" an. Und nicht wenige versuchen diese Konsequenz zu ziehen, unterstützt von einzelnen "Nouveaux Philosophes" wie Glucksmann oder Guattari, die in allen Herrschaftserscheinungen "mikrofaschistische" Strukturen sehen: im Staat und seinem Handeln ebenso wie in den Strukturen der Arbeiterorganisationen, der Familie und in unseren Köpfen. Diesem Faschismus kann niemand entrinnen, Ausweglosigkeit ist die Folge. Schritte vorwärts zur Befreiung in gesellschaftlichem, kollektiven Zusammenhang, unter Berücksichtigung der Vermittlung von institutionellen und basisdemokratischen Formen können nicht angegeben, vielmehr nur noch denunziert werden als weitere Schritte in Richtung Gulag. Klar, daß die Herrschaft in diesen hochentwickelten bürgerlichen Gesellschaften wie der BRD sich zu totalisieren tendiert. Aber muß daher auch Ausweglosigkeit entstehen? Gibt es nur den Widerspruch zwischen dieser Gesellschaft insgesamt mit Kapital und Arbeit, deren Klassengegensatz auf einmal gegenüber den Herrschaftsmechanismen nebensächlich, gar unbedeutend geworden ist, und den Randbereichen von Jugendlichen Outcasts Freaks und Spontis? Man beschneidet sich selbst der Handlungsmöglichkeit in dieser Gesellschaft zur Veränderung dieser Gesellschaft, auch zur Schaffung befreiterer Verhältnisse zwischen den Menschen, wenn mit der Definition dieser Gesellschaft als einer faschistischen die Widersprüche im Herrschaftszusammenhang in allen Bereichen nicht mehr erkannt und ausgenutzt werden.

Die deutsche Unfähighkeit, den Terrorismus politisch zu verarbeiten

Tendenzen zur autoritären Demokratie gibt es auch in anderen Ländern als der westdeutschen Bundesrepublik. Nicht diese sind also das spezifisch deutsche Problem. Die Gefahr geht in diesem Lande davon aus, daß sich über diese Entwicklungsrichtung ein repressiv zustandegekommener Konsens herstellen könnte. Anders als in Ländem wie Italien oder Spanien oder Großbritannien erweist sich die westdeutsche Gesellschaft als erschreckend unfähig, den Terrorismus politisch zu verarbeiten. Nicht nur, daß eine Ursachenanalyse des Terrorismus in der BRD leichthin und demagogisch in "Sympathie" für terroristisch agierende Gruppen oder doch für ihre Ziele umgemünzt werden kann; und nicht nur, daß die Abwehr des Terrorismus ausschließlich als staatliche Aufgabe usurpiert und nicht als gesellschaftlich zu verarbeitende Erscheinung begriffen wird; die Mittel der Terrorismusbekämpfung seitens des Staates und seiner Organe produzieren gerade gesellschaftliche Hilflosigkeit, Machtlosigkeit und daher auf der einen Seite Nonchalance, ohnmächtige Wut, eine verantwortungslose (weil zur Verantwortung uberhaupt nicht aufgerufene) Kopfab-Stimmung, Ängste, und auf der anderen Seite verrückten Aktionismus, der in individuellen Terror münden kann, nicht muß.

Um deutlicher zu machen, worum es geht, sei an die Terrorwellen der vergangenen Jahre in Italien erinnert. Die Bombenanschläge und die politischen Morde Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre im Rahmen der "Strategie der Spannung" waren, wie mittlerweile in einer Reihe von Prozessen aufgeklärt worden ist, ausschließlich von der Rechten organisiert, bei aktiver Mithilfe des Geheimdienstes (unter dem General Miceli) und von Teilen der Armee. Auch höchste Politiker regierender Parteien haben dabei ihre Hände im Spiel gehabt. Die Terrorwelle sollte die sozialen und politischen Spannungen im Lande so verschärfen, daß gegen die Erfolge der Arbeiterbewegung im Verlauf der Klassenkämpfe die Law-and-Order-Partei hätte Zulauf finden und politisch Terrain gewinnen können. Es war daher kein Zufall, daß in die gleiche Entwicklungsphase 1971 der Putschversuch des Fürsten Borghese fällt. Es ist ausschließlich der Massenmobilisierung - und nicht der staatlichen Terrorabwehr, die eher Bock als Gärtner war - zu verdanken, daß dieser Spannungsstrategie kein Erfolg beschieden war, ja daß die politische Linke in diesen Auseinandersetzungen gestärkt worden ist und Demokratisierungstendenzen in den Betrieben, (Delegiertenbewegung) im kulturellen Bereich (Scheidungsreferendum etc.), in den öffentlichen Einrichtungen (Wahlsiege und Reformpolitik der linken Parteien, vor allem der KPI) durchgreifen konnten. Die Strategie der Spannung versagte, was allerdings kein Ende terroristischer Anschläge bedeutete. Gerade in jüngster Zeit haben die Attentate auf Richter und Staatsanwälte, die Entführungen von Industriellen, die politischen Attentate und Morde an Andersdenkenden in erschütterndem Ausmaß zugenommen. Aber es ist der politischen Öffentlichkeit bis weit ins bürgerliche Lager hinein klar, daß die Terroranschläge eine der verrücktesten, brutalsten ausweglosesten Erscheinungsformen gesellschaftlicher Zerrissenheit und Perspektivlosigkeit darstellen und folglich nicht durch die staatliche Aufrüstung gegen die Gesellschaft wirksam verhindert werden können. Die alten republikanischen Traditionen und die Erfahrungen aus der antifaschistschen Befreiung haben eine politische Kultur geformt, die gerade in der Verteidigung der republikanischen Freiheiten gegenüber den Unterminierungsversuchen die politische Hauptaufgabe sieht. Demgegenüber tendiert die öffentliche Meinung in der BRD eher dahin, von einer Stärkung des Staates gegenüber der Gesellschaft, also durch seine militärische Niederschlagung, die Bewältigung des Terrorismus zu erwarten. Die dabei mitzertrampelten verlorengehenden Freiheiten erscheinen dann nur noch als "Preis fur die innere Sicherheit". Sie waren offensichtlich schon vorher wenig wert . . .

Betroffenheit und Bedrohtheit der westdeutschen Linken

Die westdeutsche Linke - ein schwammiger Begriff, aber daher gerade angemessen - ist von diesen Tendenzen in doppelter Weise betroffen. Einmal spürt sie unmittelbar die Einschränkung des Freiheitsspielraums durch die repressiven Reaktionen des Staates und durch eine sich ihr gegenüber hermetisierende Gesellschaft. Zum anderen ist sie den Aktionen der terroristischen Gruppen ausgeliefert, so daß sie nur noch zu reagieren, oft genug nur noch hilflos die Taten und ihre Konsequenzen zur Kenntnis zu nehmen vermag, ohne die Initiative dabei übernehmen zu können. Resolutionen, in der die Terrortaten verurteilt werden, reichen beileibe nicht aus. Das war schon im Winter 1974 so, als mit dem Mord an Kammergerichtspräsidenten Drenkmann eine breite Kampagne für menschliche Haftbedingungen, wie sie nach dem Hungertod von Holger Meins anlief, verunmöglicht wurde. Und als eine Bewegung 1975 gegen das Verfassungsgerichtsurteil zum Paragraphen 218 entstand, wurde ihr mit der Entführung des CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz das Heft aus der Hand gerissen. Die Morde des Jahres 1977 schließlich haben viele anstrengende Jahre des Kampfes gegen die politische Repression in ihren Erfolgen geschmälert. Denn die Aufklärungsarbeit gegen Berufsverbote und Gewaltparagraphen, gegen die Herstellung des repressive Konsenses in dieser Gesellschaft darüber, ist dadurch gefahrdet, daß nun die Regierenden mit der allgemein als notwendig erkannten Terrorabwehr einen Erdrutsch repressiver Gesetze auslösen können. Zur Betroffenheit der Linken kommt also eine sehr reale Bedrohtheit ihrer politischen und manchmal sogar ihrer persönlichen Existenz.

Davon waren und sind denn auch die vielen Publikationen und Resolutionen zur Terrorismusfrage gekennzeichnet. Angst, Larmoyanz, Trotz, haben in vielen Fällen ihre Aussagen bestimmt. Die eigentlich niemals in der Arbeiterbewegung und in der politischen Linken strittige Ablehnung der Terrorstrategie wurde und wird (wem gegenüber eigentlich?) nochmals versichert. Nicht, daß dies alles unwichtig, überflüussig gar gewesen wäre, aber mehrere Mängel in den Diskussionen, Publikationen, Resolutionen zu den Terroranschlägen müssen (aus einem, wenn auch noch geringen Abstand heraus und keineswegs mit besserwisserischer Gebärde oder dem Anspruch größerer politischer Radikalität) konstatiert werden:

  1. Über die analytische Bewältigung der Gewaltphänomene obsiegte häufig die moralische Verurteilung. Damit läßt sich jedoch keines .ausgewiesene Position bestimmen, von der aus man politisch handeln könnte. Zu erreichen ist damit allenfalls eine gewisse Exkulpation vor denjenigen, die die Terrortaten der westdeutschen Linken antasten wollen. Das Desiderat, die gesellschaftliche Verantwortlichkeit für die Entstehung des Terrorismus in hochindustrialisierten Gesellschaften herauszuarbeiten und, daher die Strategie gegen den politischen Terrorismus mit einer gesellschaftlichen Veränderungsstrategie zu verknüpfen, ist oft genug unter dem moralischen und politischen Druck, insbesondere während der Wochen der Schleyer-Entführung, unberücksichtigt geblieben.
  2. Aber auch die bloß analytische Aussage von dem Verhaftetsein des Terrorismus in den Klassenstrukturen der bürgerlichen Gesellschaft bleibt mangelhaft; denn man kann sich erst aus der Initiativlosigkeit lösen, wenn auch moralisch ausgewiesene Zielvorstellungen entwickelt werden. Diese Aussage steht nur scheinbar im Widerspruch zum ersten Punkt. Denn natürlich kann es nicht darum gehen, aus einer allgemeinen gattungsgeschichtlichen Ethik die politische Moral abzuleiten. Vielmehr bleiben auch die Moral und die damit verknüpften handlungsleitenden Ideen, Zielvorstellungen, an die Gesellschaft und ihre möglichen, d. h. über den Kapitalismus hinausweisenden Entwicklungsrichtung, gebunden. Die Schwäche der westdeutschen Linken reproduziert sich in einem unproduktiven Zirkel, wenn ihre Handlungsschwierigkeiten aufgrund ihrer Schwäche zur Ursache für Selbstbezogenheit und fur die Ablehnung der Anstrengung, politische Zielvorstellungen zu entwickeln, wird. Manchmal gar führt dies zu einer die gesellschaftlichen Ausgrenzungsmechanismen verstärkenden Selbstmarginalisierung, die uberhaupt keine Ausarbeitung von Zielvorstellungen fur politische Interventionen in dieser Gesellschaft mehr zuläßt. Es geht ja nicht nur um negative Abgrenzungen zur bürgerlichen Gesellschaft, ihrer Moral und Kultur, und dann um die Entwicklung von alternativen Verhaltensweisen und Verkehrsformen, sondern um zumindest ansatzweise positive Formulierungen dessen, was wir eigentlich wollen.
  3. Die Betroffenheit und Bedrohung durch die Terrortaten und die staatlichen Reaktionsweisen darauf haben eine zeitweise Fixierung auf diese Frage bewirkt. Keineswegs abzuleugnen ist deren außergewöhnliche Bedeutung und daher die Notwendigkeit, zu den immer wieder aufgeworfenen Fragen der Gewalt in dieser Gesellschaft Stellung zu beziehen. Aber ist es nicht merkwürdig und bezeichnend zugleich, daß der Flut von Positionspapieren und Resolutionen zur Frage der Gewalt, und zu den Terroranschlägen des letzten Jahres, nur ein schmales Rinnsal von ebensolchen Papieren zum gesellschaftlichen Problem der Arbeitslosigkeit gegenübersteht? Die (sicherlich nicht bewußt manipulierte) Ablenkung von gesellschaftlichen Strukturproblemen durch den Terrorismus und die politischen Konterstrategien haben auch die westdeutsche Linke erfaßt. Die Zeitungen (und die Köpfe der Menschen) waren voll von den Anschlägen und von der staatlich organisierten Jagd mit BKA und GSG 9; doch zweifelhaft ist es, ob die tiefergreifenden gesellschaftlichen und individuellen Probleme von dem Rentendesaster bis zur Arbeitslosigkeit deshalb für uns keine so große Bedeutung mehr haben mussen, weil in der Öffentlichkeit der "Kampf gegen den Terrorismus" Platz 1 eingenommen hat. Wie schon angedeutet, besteht nach unserer Auffassung eine der Hauptaufgaben der Linken darin, die Bewältigung des Terrorismus nicht von den übrigen gesellschaftlichen Widersprüchen und Problemen isolieren zu lassen, sondern gerade den Zusammenhang analytisch und politisch strategisch herzustellen.

Die Verdrängung gesellschaftlicher Zerrissenheit durch den Terrorismus

Der arbeitslose Familienvater aus dem Bayrischen Wald, der sich in seiner Verzweitlung das Leben nimmt, die 32jährige Lehrerin ohne Anstellung aus Berlin die von einem Hochhaus springt, oder der ausgeflippte Jugendliche aus Seesen ohne Lehrstelle der ein Moped klaut, damit abhaut und dabei von einem Polizisten erschossen wird, sind auch Leichen, die den Weg der westdeutschen Entwicklung pflastern. Drücken sie ein weniger ernstes Problem aus als die Toten der Terroranschläge der RAF-Gangster? Man kann nicht Tote gegeneinander aufrechnen und jeder gewaltsam umgebrachte Mensch, ob er nun Schleyer, Meier oder Baumann heißt, ist ein Toter zuviel. Wir müssen uns davor hüten, mit der Fixierung auf die Terrorismusfrage die anderen für Millionenmassen relevanten Konflikte und Probleme aus unserem Gesichtskreis zu entfernen. Das Frappierende in der westdeutschen Entwicklung der jüngsten Zeit ist ja gerade, daß eine sehr breite Schichten ergreifene Betroffenheit von den Terroranschlägen platzgreift, daß in deren Verurteilung, Ablehnung und Bekämpfung so etwas wie gesellschaftliche Synthesis hergestellt wird - und damit zugleich die anderen Probleme der gesellschaftlichen Zerrissenheit überdeckt werden. In der Ablehnung des Terrorismus ist sich die Nation einig; aber wie kommt es trotzdem, daß jährlich uber 100.000 Menschen in Untersuchungshaft geraten, daß Millionen Vorbestrafte unter uns sind, daß sich eine den bürgerlichen Normen von Arbeitsamkeit Disziplin, Verzicht, Anpassung nicht mehr verpflichtete und darauforientierte "zweite Gesellschaft" herausbildet - von all den unter Bedingungen der Arbeitslosigkeit nicht mehr in die bürgerlichen Normen Integrierbaren? Die Einigkeit der Nation in einem Punkt hergestellt ist somit nur eine scheinbare, nur Fassade.

Dies ist aber gerade ein Ausdruck des "repressiven Konsenses" in der westdeutschen Gesellschaft, daß hinter der Wirklichkeit der Fassade die ganze Erbärmlichkeit, Kontliktträchtigkeit, das Leiden und die Fülle der ungelösten sozialen Probleme verschwinden, sozusagen aus der Wirklichkeit der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt werden. Über den oben berichteten polizeilichen Todesschuß auf den Jugendlichen in Seesen konnte man in der überregionalen Presse auf der letzten Seite lesen: Vermischtes aus aller Welt, irgendwie unpolitisch allgemein menschlich. Der Todesschuß des Polizeibeamten Kurras auf den Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 hat noch eine Bewegung ausgelöst, hat sich dem kollektiven Gedächtnis der westdeutschen Linken als unvergeßbares Datum eingeprägt. Aber ist der Tod des Lehrlings der Lehrerin , die Selbstverbrennung des AKW-Gegners in Hamburg weniger politisch als der Tod von Ohnesorg auf der einen Seite, von Schleyer, Ponto, Buback; Drenkmann auf der anderen? Was nottut, ist sicherlich auch eine Klärung des Politikverständnisses in unserer Gesellschaft das die politische Relevanz tatsächlich nur an der Fassade absieht. Farbeier, die nun wirklich die Fassade beschmutzen werden zur Kenntnis genommen aufgeregt und empört. Die Grunde, warum Farbeier geworfen werden, die politischen Absichten, die damit bezweckt werden, finden in der Regel keine Beachtung. Es findet so in beinahe jeder Hinsicht ein Verdrängungsprozeß gesellschaftlicher Ursachen und Bedingtheiten statt. Und die Terrortaten werden dann auch nicht mehr in ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit gesehen und politisch verarbeitet. Im Gegenteil, sie finden eine Öffentlichkeit die gesellschaftliche Probleme von mindestens gleicher Relevanz niemals erhalten.

Als gesellschaftliches Problem ist die Terrorismusfrage schon im Ansatz verschoben gestellt, wenn die Neigung zu terroristischen Verbrechen einer bestimmten psychologischen Struktur angelastet wird. Da wurde breit die Rolle der Frau in der Terrorszene reflektiert, da sind dann auch Psychogramme konstruiert, Abnormalität festgestellt oder die Ausbildung an bestimmten Universitäten verantwortlich gemacht worden usw. Aber dies kann ja gar nicht der Kern des Problems sein. Man fragt nach der Psychologie der Susanne Albrecht, aber wer fragt schon nach der Psychologie des Franz Josef Strauß? Obwohl doch die seinige politisch für die BRD-Entwicklung sehr viel relevanter sein durfte als die ihrige. Es wird so das innerhalb eines bestimmten historisch gewachsenen gesellschaftlichen Rahmens "deviant behaviour", das ja in brutalster Form die Terrorkommandos ausüben, als psychologisches, also als ihr Problem bestimmt, und nicht mehr als ein gesellschaftliches, also auch unser Problem. Die Kopf-Ab-Haltung resultiert genau aus dieser Interpretationsstruktur: Die Probleme des Terrorismus lassen sich lösen, wenn man die Terroristen physisch beseitig. Der Terrorismus ist die Zuspitzung der destruktiven Tendenzen in dieser Gesellschaft, und diese realisieren sich auch in ganz legaler Weise in der Art und Weise, wie die Terroristen beseitigt werden.

Die Verdrängung der gesellschaftlichen Dimension von Gewalt und Terrorismus, die Psychologisierungen und einfachen Zurechnungen sind also verhängnisvoll. Sie entsprechen voll den Ausklammerungsstrategien der bürgerlichen Öffentlichkeit, die als Marktöffentlichkeit sich um die Produktion um gesellschaftliche Ereignisse sowieso nur kümmert, sofern sie sich zu Markte tragen, vermarkten lassen. Die Terrorakte erscheinen ihr als Sensationen, die im Begleitprogramm mit staatstragendem verantwortlichen Bewußtsein zur Schau gestellt werden. Aber der Gesamtbereich gesellschaftlicher Probleme bleibt dabei letztendlich verborgen, oder kommt nur zutage, wenn er ebenfalls sensationell wird.

Für die Linke kann es nicht darum gehen, innerhalb dieser vorstrukturierten Öffentlichkeit auch ihre Position zu den Sensationen zur Schau zu stellen, durch Resolutionen und Publikationen. Fatal ist dies deshalb, weil die Gefahr besteht, an den relevanten gesellschaftlichen Problemen vorbei politische Entwurfe zu entfalten und dabei die eigene Schwäche eigentlich zu reproduzieren. Sicherlich ist es notwendig, zu Strategien, wie sie die RAF verfolgt, eine glasklare Position zu entwickeln, die nur in harter Ablehnung des individuellen Terrors bestehen kann, ohne, klammheimliche" Freude oder kopf und identitätslose Abgrenzungen von Positionen aus, die nicht die unseren sind, die uns vorgegeben wurden. Politische Identität in dieser Frage zu finden, scheint uns nur möglich zu sein, wenn politische Strategien entwickelt werden, die die Fülle der gesellschaftlichen Konflikte aufgreifen, dazu Positionen entfalten und Handlungsalternativen aufzeigen. Es darf also nicht immer wieder von neuem passieren, daß durch Terrorakte lähmende Wirkungen ausgehen. Diese Lähmung ist natürlich nicht nur subjektiver Unfähigkeit geschuldet sondern ist Ausdruck der realen Situation, in der sich die Linke in der Bundesrepublik beindet. Aber gerade deshalb kommt es wesentlich darauf an, Konzeptionen zu entwickeln, mit denen sich diese Situation verändern läßt und nicht nur in oft genug hilfloser Reaktion auf die Terrortaten kleiner Gruppen, die lediglich der Rechten in die Hände arbeiten, zu antworten.

Politische Fragestellungen , für die wir Antworten finden müssen

Es erscheint uns angesichts der Vielzahl von Aufsätzen und Broschüren, die in jüngster Zeit zur Frage der Gewalt und Terrorismus herausgekommen sind (insbesondere: "links" Sonderdruck, "Ästhetik und Kommunikation", "Kritik", "Neuer Langer Marsch", "SHL-Info"), nicht notwendig, noch einmal die Probleme, die uns die Gewalt der burgerlichen Gesellschaft und der Terror von kleinen Gruppen aufgeben im einzelnen und daher wiederholend zu behandeln. Daher wird dieses vorliegende Heft auch keinen besonderen Diskussionsschwerpunkt zum politischen Terrorismus in der Bundesrepublik enthalten - entgegen der Ankundigung im Editorial von Prokla 29 -, zumal die dafür vorgesehenen Artikel von Altvater, Blanke u.a. und von Dingel aus zeitlichen Gründen bereits in "Ästhetik und Kommunikation" und der "Kritik" erschienen sind. Aber die Fragen, die der politische Terrorismus der sozialistischen Linken aufgibt, und erst recht die gesellschaftlichen Probleme, die durch die Sensationen terroristischer Gewalttaten verdrängt werden werden uns in Zukunft weiter beschäftigen und auch die Veröffentlichungsstrategie der Prokla bestimmen.

Die bisher zur Frage von Gewalt und Terrorismus erschienenen Stellungnahmen, Diskussionsbeiträge, Broschüren und Aufsätze - auch der hier im folgenden von O. Ka!lscheuer abgedruckte - tragen alle mehr oder weniger den durch die aktuellen Ereignisse geprägten Charakter der Überwindung der Sprachlosigkeit der Artikulation von politischen Standpunkten und der ansatzweisen Analyse verschiedener Aspekte der Bedingungen des Terrorismus. Soll politische Diskussion sich nicht nur von Tagesereignissen abhängig machen, sondern sich an den längerfristigen Bedingungen und Praxisformen sozialistischer Politik orientieren, so bedarf es eines weiteren notwendigen Schritts: der intensiven Auseinandersetzung der vorgetragenen Positionen unter der Fragestellung der Handlungsmöglichkeiten und bedingungen der sozialistischen Linken. Folgende Probleme erscheinen uns fur eine solche politische Diskussion zentral:

  • Welche spezifischen gesellschaftlichen Ursachen fuhren in der BRD zur gegenwärtigen Form der Terroristenbekämpfung verbunden mit der Stigmatisierung der Linken bis in Gewerkschaften und SPD hinein? Was sind die klassenpolitischen Grundlagen der Entwicklung zur "autoritären Demokratie" in der BRD? Welche staatspolitischen, rechtlichen und ideologischen Elemente definieren diese "autoritäre Demokratie"? In welchem Zusammenhang stehen sie zu den spezifisch deutschen Traditionen des preuflischen Obrigkeitsstaats, des unbewältigten Faschismus, der fehlenden burgerlichen Revolution? Welche Rolle spielt dabei die gegenwärtige ökonmische Krise mit den damit verbundenen sozialen Folgen insbesondere der Massenarbeitslosigkeit?
  • Warum entsteht der politische Terrorismus in der BRD im Zusammenhang der politischen Linken? Welche politische Kontinuität und Diskontinuität besteht zwischen der APO, der zerfallenden Studentenbewegung und der RAF? Hat sich die soziale Basis der RAF im Kontext der Arbeitslosigkeit von,Jugendlichen und Akademikern verändert?
  • Besteht ein Zusammenhang zwischen den spezifischen klassenpolitischen Bedingungen der BRD; die sich in der "autoritären Demokratie", der staatlichen Integration des Klassenkonflikts und auch des spezifischen Staatssozialismus der deutschen Arbeiterorganisationen ausdrücken, und der spezifischen Isolation gesellschaftlichen und politischen Widerstands; sowohl der Linken in Gewerkschaften und SPD, der APO, der sozialistischen Linken, einer Isolation, die sich etwa auch in der RAF in extemer Weise artikuliert?
  • Im Vergleich zur BRD: In welchen Formen reagiert der Staat in anderen Ländern - wie hier am Beispiel Italiens angedeutet - auf den Terrorismus, welche gesellschaftlichen und politischen Ursachen hat der Terrorismus dort, und warum reagiert die staatliche Politik nicht in Form einer autoritären Demokratie?
  • Wenn die politische Isolation einer Opposition in der BRD die Grundlage sowohl der RAF; des Zerfalls der Studentenbewegung, aber auch die Bedingung einer sozialistischen Praxis ist, welche alternativen Perspektiven hat die sozialistische Linke? Welche alternativen Formen von Arbeit und Bedurfnisbefriedigung und damit Widerspruchspotentiale entstehen im Zuge der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung der BRD, und in welcher Form sind sie politisierbar? Wie verhält sich die sozialistische Linke zur SPD und Gewerkschaften? Wie verhält sie sich zur bürgerlichen Demokratie? Welche Ziele kann die sozialistische Bewegung formulieren, welche Kriterien für gesellschaftliche Veränderungen hat sie entwickelt und muß sie entwickeln, welche Formen der Organisation zur Verwirklichung der Ziele sind geeignet oder ungeeignet?

Dies sind nur einige Fragen, die sich im Zusammenhang einer Terrorismusdiskussion aufdrängen und die eine Diskussion um die Bedingungen und Praxisformen sozialistischer Politik in der BRD beatnworten muß. Die Prokla wird versuchen, hierzu Analysen anzuregen und zu veröffentlichen.

*) Mitglieder der Redaktion: Elmar Altvater, Gerhard Armanski, Bernhard Blanke, Klaus Busch, Jurgen Hoffmann, Wilfried Spohn

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