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BRD 1977 - Der Polizeistaat in Aktion


Otto Köhler
Der dritte Denunziant


20 Jahre nach dem Deutschen Herbst ist von dem ehemaligen SS-Führer und späteren Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer nur das Opfer der RAF übriggeblieben
aus: Konkret 9/97

Vormittags, am 29. Mai, waren die drei Denunzianten beim Parteigenossen Friedrich Metz, dem Rektor der Universität Freiburg, erschienen: Man habe Angelegenheiten des Studentenwerks zu besprechen. Bald geriet man ins Plaudern: Über die Ausschmückung der Universität am Fronleichnamstag durch katholische Studenten und über einen Sportwettkampf am Nachmittag zwischen Freiburger und Basler Studenten. Dann gingen sie.

Noch am gleichen Tag schrieben die drei Denunzianten einen Brief an die vorgesetzte Behörde des Rektors Metz, an das Kultusministerium von Baden. Der Brief beanstandete, daß »ein Teil der Universität Freiburg am Fronleichnamstag geschmückt war«. Rektor Metz habe auf Vorhaltungen geäußert, »er könne dagegen nichts machen; außerdem seien die katholischen Dozenten und Studenten auch Deutsche, die zu uns gehörten ... !« In diesem Zusammenhang merkten die drei Denunzianten an, daß »nach Aussagen von verschiedenen Männern die Universität Freiburg am 1. Mai nicht geschmückt war« - den die Nazis zum nationalen Feiertag erhoben hatten.

Man schrieb nämlich das Jahr 1937, und so war der Höhepunkt der Anschwärzung dies: Rektor Metz habe dem gerade in Freiburg anwesenden Reichsstudentenführer Gustav Adolf Scheel verboten, vor den Teilnehmern eines Sportwettkampfs zwischen den Universitäten Freiburg und Basel zu sprechen. Die drei Denunzianten: »Zu dieser Frage äußerte sich Rektor Metz folgendermaßen: Der Reichsstudentenführer darf unter gar keinen Umständen zu den Studenten sprechen ... - es sei auf die Gefühle der Gäste aus der neutralen Schweiz Rücksicht zu nehmen! - Uns wäre es auch nicht recht, wenn wir in Basel von Sozialdemokraten (!) empfangen würden.«

Die Namen von zwei der drei Denunzianten kann man im zweiten des auf viele Bände angelegten und noch unvollendeten Monumentalwerkes Universität unterm Hakenkreuz von Helmut Heiber nachlesen. Einer war der Gaustudentenführer Richard Oechsle, der zweite der NS-Studentenführer Gernot Gather. Doch den Namen des Dritten nennt Heiber nicht, und das bedeutet viel. Wenn nämlich ein konservativer, aber unerschrockener und sich mit Gewißheit eigentlich nur der historischen Wahrheit verpflichtet fühlender Mann wie dieser Historiker es für angemessen hält oder halten muß, den Namen des dritten Denunzianten nicht zu nennen, dann sagt das allerlei über den Zustand dieses Landes im Jahr 20 nach dem Deutschen Herbst. Denn Heiber hätte allerdings an das Tabu der Republik gerührt, er wäre ihrem Blutzeugen zu nahe getreten, wenn er den Namen dieses dritten Denunzianten genannt hätte.

»Es entsprach ganz seiner Freude am Dialog« - beurteilte 50 Jahre später sein Biograph den »mit einer ungewöhnlichen Kommunikationsfähigkeit« ausgestatteten dritten Denunzianten -, »daß er zur lebendigen Auseinandersetzung in der Suche nach dem richtigen Weg aufforderte.« Wobei es wichtig war, daß - wie der Biograph betonte - der dritte Denunziant Anhänger jener »Denkweise« war, die »zunächst einmal nach Erkenntnissen sucht und dann erst nach den darauf bezogenen Richtungen des Handelns fragt«. Tatsächlich, kaum lagen die richtigen Erkenntnisse über Rektor Metz vor, mußte er sein Amt verlassen. Wer aber war sein dritter Denunziant, und warum wurde sein Name nicht preisgegeben?

40 Jahre nach der Denunziation des Freiburger Rektors, 1977, untersagte der Hamburger Schulsenator Günter Apel den Hamburger Lehrern, etwaige »dunkle Punkte« im Leben des Hanns Martin Schleyer auszuleuchten. Die RAF hatte soeben ihre übelste Tat vollbracht. Sie hatte Schleyer ermordet und ihn damit aus einer Symbolfigur der deutschen Kontinuität zu jenem Märtyrer des Nachfolgestaates gemacht, der Horst Wessel für das Vorgängerreich gewesen war. Der Unterschied: Schleyer, der schon 1931, als 16jähriger Schüler, in Rastatt der Hitlerjugend beigetreten war, trug, als er 1933 die Universität Heidelberg bezog, nicht die braune Uniform der SA, sondern die schwarze der SS (Mitgliedsnummer 221714) mit dem Goldenen Ehrenzeichen. Seine Motive waren verständlich und galten über das Ende seines Lebens hinaus gerade in seiner beruflichen Position als ehrbar. Schleyer beim Empfang des Präsidiums der deutschen Arbeitgeberverbände aus Anlaß seines 60. Geburtstags: »Es kam die Zeit des Dritten Reiches, bei dessen Ausbruch ich 17 Jahre alt war, und ich scheue mich gar nicht zu erklären, daß für uns Jugendliche damals ein Auftrieb sichtbar wurde, dem wir uns zur Verfügung stellten: Ich trat sofort in den freiwilligen Arbeitsdienst ein und freute mich in Wirklichkeit auch darüber, daß der Klassenkampf, der sich in den furchtbarsten Formen auf den Straßen abgespielt hatte, nun ein Ende nehmen konnte.«

Schleyers Biograph Fritz Lüttgens, der seine staatsbürgerlich wertvolle Mühewaltung (Hanns Martin Schleyer - eine Verkörperung der sozialen Markwirtschaft) bescheiden eine »soziologische Studie« nennt, entstammt der berühmten Schule des Würzburger Gelehrten Lothar Bossle, dessen wissenschaftliche Tätigkeit dem Ruf der ortsansässigen Universität weit über die Bundesrepublik hinaus einen ganz eigentümlichen Klang verleiht. Bossle akzeptierte das Werk 1987 - mutmaßlich freudig - als Dissertation, und sein kongenialer Kollege Dieter Blumenwitz, bekannt aus Gutachten, spielte den Korreferenten. Lüttgens kommt zu dem Ergebnis, daß sich schon in Schleyers Studentenzeit dessen »ausgeprägtes Interesse an den sozialen Zusammenhängen der modernen Welt und den Institutionen des Staates« gezeigt habe. Das läßt sich ohne Zweifel so sagen. Lüttgens: »So begann er sich für das Studentenwerk zu engagieren und zwar so erfolgreich, daß er später dessen Leitung übernahm.«

Schleyer war zugleich Beauftragter des SD für den Universitätsbereich und mischte sich, wo es ihm nötig schien, auch in die Angelegenheiten der Nachbaruniversität Freiburg ein. Daß deren Rektor Metz seinen Freund, den Reichsstudentenführer Scheel, mißachtet hatte, war eine Provokation, die nicht ungesühnt bleiben durfte. Denn Schleyer besaß neben seiner Ehre als SS-Mann auch noch einen ganz besonderen Ehrenstandpunkt. Außer der schwarzen Uniform trug er bald auch das Kostüm des blutigen Corps Suevia im Kösener SC. »Blutig« nannten sich damals die Mitglieder solcher Vereinigungen selbst, weil sie ihren Ehrenhöhepunkt im wechselseitigen Zerhacken ihrer Gesichter fanden und immer noch finden.

Nach Schleyers Ermordung durch die RAF erklärte der Vorort im Kösener SC-Verband: »Alle Kösener Corpsstudenten in Deutschland und Österreich trauern um Hanns Martin Schleyer ... Er hatte Freunde überall dort, wo er wirkte; seine wenigen Gegner achteten ihn stets. Todfeinde hatte er nur unter den Terroristen, die unser aller Todfeinde sind.« Der Vorort unterstrich: »Hanns Martin Schleyers Verdienste um sein Corps Suevia in Heidelberg sind Verdienste um das Corpsstudententum in schwieriger Zeit gewesen! Wo er seine Spuren hinterlassen hat, werden sie unauslöschlich bleiben.«

Richtig ist, wo Schleyer seine Prinzipien der Auslese verwirklichte, hatte er bald keine Feinde mehr. »Auslese bedingt immer zugleich Ausmerze«, schrieb er 1937 im Hochschulführer der Universität Heidelberg und verlangte: »Wenn sich alle jungen Semester, die ehrlich bemühte Nationalsozialisten sind, denen die Ehre unantastbar ist, und die bereit sind, sich überall und immer für Volk und Bewegung und nicht zuletzt für unsere nationalsozialistische Hochschule einzusetzen, in den Kameradschaften finden, ist von selbst kein Raum mehr für jene, die diesen Anforderungen charakterlich oder politisch nicht genügen.«

Corpsbruder Schleyer machte unter Anrufung des Führers klar, wie eng sich das Ideengut der blutigen Korporationen mit denen des deutschen Faschismus verbinden ließ: »Mit besonderem Nachdruck wird auf die Durchführung der unbedingten Satisfaktion gesehen werden. Der Führer selbst hat bei der Zehnjahresfeier des NSDStB (Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes) im Januar 1936 unseren Ehrenstandpunkt verkündet: daß Ehre nur durch Blut wiederhergestellt werden kann.« Als er das schrieb, hatte Schleyer schon das einzige Corps, das treu zu seinen Mitgliedern stand, das Corps Vandalia, an seine NS-Parteigenossen verraten: »Corps ohne Maske. Ein Nationalsozialist zieht die Konsequenzen« - so überschrieb »Der Heidelberger Student« im Sommersemester 1935 einen offenen Brief von Schleyer an den Verbandsvorsitzenden des Kösener SC, Dr. Max Blunck. Dort rühmte sich Schleyer, daß er sich schon als Schüler nationalsozialistisch betätigt habe: »Ich muß es allerdings ablehnen, daß man den Begriff der Treue, der uns Deutschen heilig ist, in irgendeiner Weise mit Juden in Verbindung bringt, und ich werde es nie verstehen können, daß ein Corps aus der Auflage, zwei Juden aus der Gemeinschaft zu entfernen, eine Existenzfrage macht.«

In seinem Brief an den SC-Vorsitzenden kritisiert Schleyer aber die traditionellen Formen verbindungsstudentischen Lebens, »denn kranke Formen aus vergangener Zeit zerbrechen heute«; den Corps fehle ganz einfach »der Wille zur nationalsozialistischen Leistung«. Mehr noch, man habe ihm den Vorwurf gemacht, er verhalte sich »uncorpsstudentisch«, zugleich sei er für vier Monate und dreizehn Tage in Verschiß - Schleyer formulierte: in »SC-Verruf« - geraten. Weil ihn somit seine eigene Verbindung an der Arbeit für die Durchsetzung des Nationalsozialismus behindert habe, erklärte Hanns Martin Schleyer seinen Austritt aus dem Corps Suevia, das ihn als Erstchargierten vorgesehen hatte.

Nach dem Krieg war Schleyers Verrat am eigenen Corps schnell vergessen. Das gemeinsam vergossene Blut überwand die vorübergehenden Zwistigkeiten von gestern. Nicht umsonst hatte Schleyer seine akademische Sozialisation durch Fritz Ries erfahren, den später so erfolgreichen Arisierer (»Miguin - Jetzt arisch!« warb er für seine Kondom-Produktion) und Nachkriegs-Gründer der Pegulan-Werke. Ries war der politische Ziehvater von Helmut Kohl. »Wenn ich nachts um zwei anrufe, muß er springen«, sagte er, als der spätere Kanzler 1969 Ministerpräsident in Mainz wurde. Und Ries war der Fuchsmajor von Hanns Martin Schleyer.

Das erklärt viel. Keine Beziehung im Korporationswesen prägt einen jungen Menschen stärker als das Verhältnis von Fuchs zu Fuchsmajor. Sklavischer Gehorsam ist verlangt, der sich oft bis in hündische Ergebenheit hineinsteigert. Ries begnügte sich nicht mit dem Zerhacken von Gesichtern. Sein Blutdurst war größer, seine Suevia-Ehre verletzlicher. Leibfuchs Schleyer mußte ihm die Pistole zu einem der letzten Schieß-Duelle im Dritten Reich tragen. Ries starb 1977 durch Selbstmord mit der eigenen Waffe - auf den Tag genau drei Monate vor Schleyers Ermordung.

Die blutigen Seilschaften von damals hatten die schlimme Zeit der Katastrophe von 1945 überstanden. Auch wenn sie nicht mehr eine gemeinsame NSDAP-Mitgliedschaft verband, Schleyer blieb seinem Fuchsmajor treu, zog als verläßlicher Vizechef in den Aufsichtsrat der Pegulan AG und gehörte als einer der ersten zu den vielen Größen aus Wirtschaft und Politik, die in der Frankenthaler Ries-Villa ihre Feldzugspläne gegen die sozialliberale Koalition Willy Brandts schmiedeten.

So wie Schleyer im Heidelberger Studentenwerk und SD als Multifunktionär tätig war, so vereinte er zuletzt in Personalunion drei entscheidende Funktionen der bundesdeutschen Wirtschaft: Vorstandsmitglied von Daimler-Benz (1963), Präsident der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (1973) und Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (1977). Und seine Blut-Bande hielten die deutsche Wirtschaft zusammen. Das »manager-magazin«: »Selbst wenn BDA-Präsident Schleyer mit dem derzeitigen Bundeswirtschaftsminister verhandelt, hat er es mit einem Verbandsbruder aus dem Kösener zu tun.«

Die Grundsätze der Menschenführung, die er sich als Leibfuchs von Fritz Ries erworben hatte, hat Schleyer besonders schlagend bei der Aussperrung im Jahr 1971 praktiziert, als er mit brutaler Härte gegen die streikenden baden-württembergischen Metall-Arbeiter vorging. Die - wie Schleyer in einem »Spiegel«-Interview formulierte - »artgemäße Führung« erlaubte nun mal keine »volle Mitbestimmung« durch die »Belegschaft«, eine Teilhabe durch den schon vorhandenen Betriebsrat und ein Drittel Arbeitnehmer-Vertreter im Aufsichtsrat war für seine Vorstellungen von etwaigen Arbeitnehmerrechten schon »optimal«. Schleyers Begründung: »Wenn man der Meinung ist, daß unsere derzeitige Ordnung im wesentlichen auf dem Eigentum basiert und das Eigentum eines der entscheidenden Ordnungselemente ist, dann ist die Mitbestimmung ein Angriff auf diese Ordnung, denn sie ist zweifellos ein Angriff auf die Funktion des Eigentums.«

Seine Unternehmerkarriere hatte Schleyer im Auftrag des SD-Chefs Reinhard Heydrich in Prag begonnen. Der sorgte 1941 dafür, daß der damals 26jährige SS-Hauptsturmführer Schleyer die Leitung des Präsidialbüros des »Zentralverbands der Industrie für Böhmen und Mähren« übernahm. Als Schleyer - eigentlich Gerichtsreferendar - von den zuständigen Behörden im Alt-Reich aufgefordert wurde, seinen normalen Dienst aufzunehmen, schrieb er empört: »Ich bin alter Nationalsozialist und SS-Führer und darf für mich in Anspruch nehmen, daß mich keine äußerlichen Beweggründe hier festhalten. ... Die uns in jungen Jahren in der Kampfzeit anerzogene Bereitschaft, Aufgaben zu suchen und nicht auf sie zu warten, der ständige Einsatz für die Bewegung, auch nach der Machtübernahme, haben uns früher als sonst üblich in Verantwortung gestellt. Diese Aufgabe glaube ich hier im Protektorat gefunden zu haben ... Heil Hitler!«

Von der Einberufung zur Wehrmacht blieb Schleyer freigestellt. Auf Intervention seines Schwiegervaters, des SA-Gruppenführers Dr. Ketterer, wurde er als »unabkömmlich« eingestuft, denn er war »bewährter« - diese Vokabel erweist sich als zeitlos - »SS-Führer aus der Kampfzeit mit besonders wichtigen politischen Aufgaben in Prag«.

Der verstorbene Schriftsteller Bernt Engelmann hat frühzeitig und in zahlreichen Veröffentlichungen dazu beigetragen, die dunklen Punkte in der Karriere des Hanns Martin Schleyer aufzuklären. Sein erstmals 1974 veröffentlichter Dokumentarroman Großes Bundesverdienstkreuz über den Kreis um Ries, Strauß, Kohl und Schleyer erregte Aufsehen, einige der dort Porträtierten klagten, mit wenig Erfolg. Schleyer unternahm nichts. Dem »Stern« erklärte er zu Engelmanns Vorwürfen: »Warum sollte ich klagen? Es stimmt ja alles.« 1987 bezeugte Engelmann in der erweiterten Neuauflage Großes Bundesverdienstkreuz mit Stern, daß Schleyer in einem Gespräch mit ihm geäußert habe, er sei tatsächlich »ein SS-Haudegen, ein toller Hecht, auch der letzte Kampfkommandant von Prag gewesen«. Und schmunzelnd habe er hinzugefügt: »das Schlimmste« habe er, Engelmann, ja »nicht herausgekriegt«.

Engelmann recherchierte in Prag, was dort über den letzten Kampfkommandanten bekannt war. Tschechische Zeugen beschrieben ihn als einen »gedrungenen breitgesichtigen Mann mit dicken Lippen«, dessen Name jedenfalls mit einem Sch-Laut begann und auf »Meier oder so ähnlich« endete. Dieser Kampfkommandant hatte Prag als mutmaßlicher Massenmörder an Frauen und Kindern verlassen. Engelmann ermittelte: Am 5. Mai 1945, zwei Tage vor der deutschen Kapitulation, umzingelten tschechische Aufständische ein Schulgebäude, in dem sich eine SS-Abteilung verschanzt hatte, die 20 Geiseln in ihrer Gewalt hatte. Ein Parlamentär handelte freien Abzug für die Geiseln aus gegen Garantien für die SS-Leute. Der SS-Kampfkommandant verlangte, daß man seine Frau und sein Kind aus der Wohnung herbeibringe. Sie wurden gegen die Geiseln ausgetauscht, und die tschechischen Aufständischen zogen sich vereinbarungsgemäß zurück. Am nächsten Morgen richtete die SS in unmittelbarer Nähe des Schulgebäudes ein Massaker an: 41 Menschen, unbewaffnete ältere Männer, Kinder unter drei Jahren und Frauen, darunter zwei Hochschwangere, waren die Opfer.

Am 7. Mai 45, während in Reims die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht unterzeichnet wurde, hatten sich die Mörder mit neuen Geiseln abermals in einem Schulgebäude verschanzt - es gab neue Verhandlungen mit ihrem Kommandanten. Engelmann: »Bei diesem - wahrscheinlich letzten - SS-Kommandanten, einem nach tschechischen Angaben etwa dreißigjährigen Mann mit Mensurnarben ... soll es sich um den für das Massaker Verantwortlichen, der daran auch persönlich teilgenommen hatte, gehandelt haben.«

Hanns Martin Schleyer war nach Engelmanns Ermittlungen der einzige SS-Führer in Prag, auf den die Beschreibungen paßten: Er war dreißig Jahre alt, durch Schmisse gekennzeichnet, verheiratet, sein Sohn zählte sieben Monate. Vor Erscheinen der zweiten Ausgabe seines Buches schrieb Engelmann am 1. Juni 1987 dem mittlerweile 42jährigen Schleyer-Sohn Hanns-Eberhard, damals Chef der rheinlandpfälzischen Staatskanzlei. Die Reaktion des Sohnes: Er halte es für »völlig ausgeschlossen«, daß sich der Vater als »letzten Kampfkommandanten von Prag« bezeichnet habe. Doch rechtliche Schritte unternahm er nach Erscheinen des Buches nicht. Auch nicht, als Engelmann 1989 die Ergebnisse seiner Prager Recherchen in dem Buch Rechtsverfall, Justizterror und das schwere Erbe wiederholte.

Die Familie Schleyer konnte sich auf das Schweigen der Medien verlassen. Und auf den Biographen. Bossle-Schüler Lüttgens 1987: »Die Zeit von 1942 bis Kriegsende umfaßte die ersten beruflichen Lehrjahre von Hanns Martin Schleyer. Durch sein soziales Engagement während seiner Studienzeit hatte er bereits Kontakt zum "Centralverband der Industrie in Böhmen und Mähren" mit Sitz in Prag.« Soziales Engagement - Schleyer war dem Chef des Reichssicherheitshauptamts Reinhard Heydrich, dem Organisator der »Endlösung«, durch seine Zuverlässigkeit im Dienst des SD aufgefallen. Nachdem Heydrich im September 1941 das Amt des Reichsprotektors von Böhmen und Mähren übernommen hatte, folgte Schleyer 1942 nach, um die Kontrolle und Ausbeutung der tschechoslowakischen Industrie zu übernehmen.

Seine Kompetenzen waren umfassend. Als Leiter des Präsidiums des Industriezentralverbandes erteilte er zuletzt sogar - am 12. April 1945 - dem Ministeramt in Prag Anweisung für den »R-Fall«, gemeint war das Vordringen der Roten Armee. Biograph Lüttgens: »Am 5. Mai 1945, wenige Stunden nach Gelingen des tschechischen Aufstandes, konnte Schleyer sein Amt noch in Ruhe einem tschechischen Kollegen übergeben und das Protektorat ungehindert verlassen. Im nachhinein sagte er zu dieser Zeit: >Es kam der Krieg, es kamen die eigenen Kriegserlebnisse, es kam nach meiner Entlassung - nach einer Verwundung - meine Versetzung nach Prag und mein wahrscheinlich dort schönstes Erlebnis, als es mir gelang, als junger Mann im Verein mit vier anderen zu verhindern, daß der "Verbrannte Erde-Erlaß" im Protektorat durchgeführt wurde, weil wir nicht einsehen konnten, daß die Arbeitsstellen derer, die auch im Krieg treu ihre Pflicht erfüllt hatten an ihrem Arbeitsplatz, nun bei unserem Ausrücken zerstört wurden.«

Lüttgens Resümee: »Daran läßt sich ermessen, daß die Arbeit Schleyers für den Centralverband, die auf rein wirtschaftlichem Gebiet lag, aufgrund ihres Erfolges für die tschechische Industrie sehr wohl von tschechischer Seite nicht nur geschätzt, sondern auch anerkennend honoriert wurde.« Zu bedenken aber ist: Die Opfer des letzten Kampfkommandanten von Prag hatten mit einiger Sicherheit ihre Pflicht am Arbeitsplatz nicht erfüllt.

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