Beiträge zur Organisation der Arbeiterklasse und Studentenbewegung in Westeuropa
TEACH-IN am 15.1.1969,
den 50. Jahrestag der Ermordung
von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg

Referat des Genossen Ernest Mandel*



Rosa Luxemburgs Beitrag zur Entwicklung der revolutionären Bewegung und des Sozialismus läßt sich in fünf dialektischen Zusammenhängen erfassen, die sie versuchte zu klären:

Das Verhältnis Aktion - Erkenntnis, das Verhältnis Reform -Revolution, das Verhältnis Spontaneität - Organisation, das Verhältnis Demokratie - revolutionäre Diktatur und das Verhältnis Nation - proletarischer Internationalismus. Mit der letzten Problematik können wir uns heute abend aus Zeitgründen nicht beschäftigen, aber die vier anderen bilden sozusagen den allgemeinen Rahmen der Analyse, der Probleme mit denen sich die revolutionäre Studentenbewegung heute in Westdeutschland und in Westeuropa konfrontiert sieht.

In Westeuropa kommt der Studentenrevolte ohne- Zweifel der historische Verdienst zu, in den letzten Jahren einen entscheidenen Beitrag zum Wiederaufleben der revolutionärsozialistischen Massenbewegungen geleistet zu haben. Die Gründe dafür sind bekannt und müssen nicht länger untersucht werden. Wie es die Genossin vor mir kurz erwähnt hat ist der Massencharakter der Universität die notwendige Folge der ökonomischen Entwicklung des Neokapitalismus; die Universität ist zu einer Massenbrutstatte von Erkenntnis und Bewußtsein der Entfremdung der geistig Schaffenden, der zukünftigen Produzenten geworden.

Dieses Bewußtsein des entfremdeten Charakters der bürgerlichen Universität zu einer Verbreitung des Bewußtseins von dem entfremdeten und unmenschlichen Charakter der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt. Auch die Rolle, die die Identifizierung der Vorhut der Studenten mit den heldenhaften Kampf der kolonialen Völker um ihre Befreiung dabei gespielt hat, muß hervorgehoben werden.

Aber wenn wir feststellen, daß es den Studenten als erste gesellschaftliche Gruppe in Westeuropa gelungen ist, den Spuk der scheinbar völligen Kontrolle des Monopolkapitalismus über diese Gesellschaft zu durchbrechen und praktischaufzuzeigen, daß es möglich ist,eine Globalkomptestation dieser bürgerlichen Gesellschaft in einem Sektor des gesellschaftlichen Lebens erfolgreich durchzuführen, so müssen wir doch heute auch gleichzeitig sehr deutlich erkennen, daß diese Beschränkung der Studentenbewegung auf inneruniversitäre Probleme sehr schnell ihre Grenzen erreicht und zu einer Stagnation, wenn nicht zu einem Zurückfluten dieser Bewegung werden muß. Darum kann man feststellen, daß heute in beinahe allen westeuropäischen Ländarn wichtige Teile-der revolutionären Studentenbewegung von sich aus spontan auf der Basis ihrer Erfahrung zu dem Schluß gekommen sind, daß sie um jede Preis einen Weg, eine Brücke finden müssen, um die revolutionäre Bewegung der Studenten mit der potentiell wieder aufkommenden revolutionären Bewegung der Arbeiterklasse zu verbinden. Das ist die historische Bedeutung der- Erfahrung der Basisgruppen in der Bundesrepublik und Westberlin, das ist die historische Bedeutung der Wende im SDS seit Februar 1968.

Darum müssen wir verstehen, daß die erste Vorbedingung für das Fortdauern, das Kontinuum, der revolutionären Aktivität der Studenten an dem hohen Entwicklungsgrad angelangt, wo die revolutionäre Studentenbewegung sich heute in Westeuropa befindet. Da die erste Vorbedingung eine organisierte Brücke zur Vorhut der Arbeiterklasse ist, zu den potentiell am leichtesten zu revolutionierenden Teil der Arbeiterklasse, den in erster Linie die Arbeiterjugend darstellt. Damit stellt sich das Problem,- das ich heute abend nicht ausdiskutieren kann, das aber in Zukunft sich stellen wird-, ist es möglich eine solche Brücke zu schaffen ohne gemeinsame Organisation, ist es möglich eine solche Organisation auf rein unverbindlicher, loser, föderativer Basis in einer Föderation von Gruppen und Kommittees zu erreichen und ist es möglich eine solche Organisation zu erreichen, ohne daß für die Arbeiter der Grad des Ernstes und der Verbindlichkeit garantiert werden kann, ohne den Arbeiter auf die Dauer nicht gebunden werden können, da für sie das Ganze in keinerlei Form intellektuelles oder moralisches Spiel der Selbstbefriedigung darstellt, sondern bitterer Ernst ist. Und in dem Sinne meine ich, wie erfolgreich und bedeutend auch die Erfahrungen der konkreten Versuche wie der Basisgruppen in dar BRD, wie der Aktionskommittes in Frankreich , wie ähnlicher Kommittees in Italien und Groß-Britannien seien mögen, früher oder später stellt sich die Frage der revolutionären verbindlichen Organisation, früher oder später stellt sich also die Frage der revolutionären Partei, und in dem Maße, wie es heute hauptsächlich Jugendkräfte sind, die die vorbereitenden Arbeiten in dieser Hinsicht leisten, stellt sich die Frage der Schaffung einer revolutionär-sozialistischen Jugendorganisation.

Wenn es den Studenten gelingt, aus ihrer praktischen Erfahrung der Hochschulrevolte Elemente der Arbeiterkontrolle in die Betriebe hineinzutragen, so werden sie bei der elenentarsten Ebene anfangen nüssen. Das Wissen über die Produktion, den Arbeitsablauf, die Bandgeschwindigkeit, die Bilanzen ist notwendig, um zu zeigen: jeder Konflikt zwischen Meister und Arbeiter ist der wieder aufbrechende Konflikt zwischen Arbeit und Kapital. Die Studenten müssen aufzeigen, daß diese Einzelkonflikte geeignet sind, die bürgerliche Gesellschaft zu durchbrechen und zur Arbteiterproduktionskontrolle vorzustoßen und schließlich den bürgerlichen Staatsapparat zu zerschlagen. Gelingt dies den Studenten, dann wird mehr für das Wiederaufleben der revolutionären Bewegung getan werden, als durch alle Propaganda und Theorie in den letzten zwanzig Jahren erreicht worden ist. Frankreich zeigt, daß die Ansätze möglich sind. Die Kampagne für die Arbeiterproduktionskontrolle in England umfaßt bereits weit mehr als 1000 shop Stewards und sie zielt nicht nur auf gewerkschaftliche und ökonomistische Ziele, sondern sie zielt auf eine politische Machteroberung und Zerschlagung des Staatsapparats. Sie führt die Massen der arbeitenden Menschen hinaus aus der parlamentarischen Tradition, die in Großbritanien so viel stärker ist, als in allen westeuropäischen Ländern. Das sind die praktischen Erfahrungen, an die die revolutionäre Studentenbewegung in Westdeutschland anknüpfen muß. Das ist die praktische Lehre, die wir heute ziehen müssen, um den Vermächtnis von Rosa Luxemburg grecht zu werden. Wir müssen kämpfen für den Aufbau einer revolutionär-sozialistischen Massenarbeiterbewegung in Westdeutschland, in Westeuropa und in der ganzen Welt.

*) Quelle: Aufbruch zum Proletariat, Dokumente der Basisgruppen, Dokument 21/1-3.