Karl-Heinz Schubert

Zur Geschichte der westberliner Basisgruppen

aus: Aufbruch zum Proletariat

Vorboten

Obwohl die Entwicklung der APO einen spontanen Verlauf nahm, hatte es in den Jahren zuvor seitens bestimmter Kräfte im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) vereinzelte gezielte Versuche gegeben, außerhalb der Uni ein sozialistisches Protestpotential links von der SPD zu formieren. Die öffentlichen Versuche reichen in Westberlin bis auf das Jahr 1962 zurück, wo der SDS eine sozialistische Maikundgebung auf dem Wittenbergplatz mit rund 250 überwiegend studentischen Teilnehmern durchführte. Dort formulierte der Linkssozialist Fritz Lamm, Betriebsratsvorsitzender bei der Stuttgarter Zeitung: "Die Arbeiterbewegung,..., hatte wieder dort anzusetzen, von wo sie vor 100 Jahren ihren Ausgangspunkt genommen hatte, unter den heutigen Bedingungen den ökonomischen Kampf in den politischen Kampf umzuwandeln, dabei belehrt durch die bitteren Erfahrungen im Scheitern ihrer bisherigen Klassenkämpfe." /1/ Zur unmittelbaren Vorgeschichte dieses propagandistischen Auftretens gehörte der Ausschluß des SDS aus der SPD am 6.11.1961. Dieser Schritt behinderte in gewisser Weise auch das Entrismuskonzept /2/ trotzkistischer Kräfte, die vom SDS aus linke Teile von SPD und DGB für eine linkssozialistische Partei sammeln wollten.

Aufgrund des KPD-Verbots von 1956 und der staatlich verordneten, allgemeinen Antikommunismus-Hysterie bildete der SDS gerade auch ein Sammelbecken revolutionärer Kräfte, die so wenigstens im Rahmen einer Studentenorganisation legal für den Sozialismus eintreten konnten. Da das Meinungsspektrum vom Trotzkismus, Luxemburgismus über kleinbürgerlich-sozialistische Positionen bis zum Marxismus-Leninismus reichte, verliefen die strategischen Diskussion unkoordiniert, widersprüchlich und entsprechend den Kräfteverhältnissen vor Ort mit jeweils anderen Schwerpunktsetzungen./3/

Der gemeinsame Rahmen dieser Debatten und Versuche einer Rekonstruktion sozialistischer Politik schien durch die Abwesenheit einer revolutionären Arbeiterwegung und durch die Isolierheit von der eigenen studentischen Basis zu Beginn der 60er Jahre auf lange Zeit unverrückbar vorgegeben. Dieses "Auf-sich-selber-Bezogensein" nährte die Vorstellung von der besonderen Rolle studentischer Intelligenz im "Spätkapitalismus". So kennzeichnete 1963 der damalige SDS-Bundesvorsitzende Manfred Liebel die Hauptaufgabe des SDS folgendermaßen: "Von hier aus gesehen liegt die Bedeutung des SDS nicht darin, die geballte Macht von tausend Intellektuellen zu sein, sondern eine Gruppierung, in der junge sozialistische Intelligenz lernt zu kooperieren, um die gemeinsame Kritik an der bestehenden Gesellschaft in einer Weise wirksam werden zu lassen, die mit zu einer sozialistischen Veränderung dieser Gesellschaft beitragen kann."/4/

Entsprechend dieser wenig konkreten Generallinie versuchten die einzelnen SDS-Gruppen, durch punktuelles propagandistisches Auftreten ihre Kooperationsbereitschaft unter Beweis zu stellen. So kam es in der Folgezeit über Kampagnen vermittelt zu Bündnissen mit Einzelpersonen aus dem linkssozialdemokratischen Spektrum und der illegalen KPD. Gleichzeitig schottete sich der SDS als Organisation nach außen hin ab, um sich theoretische Fundamente einer zukünftigen sozialistischen Politik einzuverleiben.

Wenn im Zusammenhang mit dem Abriß der Geschichte der Basisgruppen die Bedeutung arbeiterbezogener Politikkonzepte im SDS besonders herausgestellt wird, dann darf nicht übersehen werden, daß der SDS ein Zusammenschluß war, in dem die Mitglieder auch ihre spezifischen Interessen als Studenten und zukünftige Akademiker einbrachten. Ihre berufständischen Forderungen konzentrierten sich bis in die Anfänge der Studentenbewegung auf die Reform der Universitäten, womit sie dennoch in der ersten Hälfte der 60er Jahre innerhalb der Studentenschaft, die in ihrer Mehrheit konservativ war, relativ isoliert blieben./5/ So stellte der SDS gleichsam ein Zwitter dar. Einerseits war er seiner Grundtendenz nach antikapitalistisch gesellschaftsverändernd - also gesamtgesellschaftlich - orientiert; andererseits war er eine ständische Organisation.

1966 vermehrten sich in Westberlin die vom SDS ausgehenden öffentlichen Aktionen. Schwerpunkte bildeten die Aufklärungsarbeit über die Verbrechen des US-Imperialismus in der Dritten Welt und die Kritik an den verkrusteten Strukturen der Ordinarienuniversität. Als im Sommer 1966 an der FU Berlin die Zwangsexmatrikulation für "Langzeitstudenten" bei den Juristen und Medizinern eingeführt wurde, gelang es dem SDS, sich massenwirksam in Szene zu setzen und seine gesellschaftskritischen Vorstellungen auf dem Campus zu verankern. Auf einem von 3000 Studenten in der FU durchgeführten Sitzstreik wurde eine Resolution angenommen, in der es hieß: "Was hier in Berlin vor sich geht, ist ebenso wie in der Gesellschaft ein Konflikt, dessen Zentralgegenstand weder längeres Studium noch mehr Urlaub sind, sondern der Abbau oligarchischer Herrschaft und die Verwirklichung demokratischer Freiheit in allen gesellschaftlichen Bereichen."/6/

Im Winter 1966 gelang es dem SDS, nachdem an der FU propagandistische Vorbereitungen gelaufen waren, rund 2000 überwiegend studentische Kräfte - unterstützt von der SEW und den FALKEN - zu einer Demo auf dem Kudamm gegen den Vietnamkrieg der US-Imperialisten zu mobilieren, wo es wegen des generellen Demo-Verbots zu massiven Auseinandersetzungen mit der Polizei kam. Diese unerwartete Verbreiterung seines Einflusses verunsicherte den SDS als heterogenes Gebilde miteinander konkurrierender ideologischer Strömungen. Zur Überwindung dieses Zustands schlugen die SDS-Funktionäre Deppe/Steinhaus eine Grundlagenschulung vor, die sie folgendermaßen begründeten: "So dürfen wir auch in der gegenwärtig politisch-defensiven Periode der Resignation und dem Opportunismus keinen Raum geben. Bereits jetzt müssen wir uns durch die Erhöhung unseres wissenschaftlich-theoretischen Niveaus und durch die Verbreitung unserer politisch-praktischen Erfahrungen auf die Aufgabe vorbereiten, die sich uns bei einer Verschärfung des Klassenkampfes mit Sicherheit stellen werden."/7/

Als am 2. Juni 1967 die Schüsse aus der Dienstpistole des Kripobeamten Kurras auf einem Hinterhof in der "Krumme Straße" den wehrlosen Studenten Benno Ohnesorg töteten, der an der Anti-Schah-Demo vor der Deutschen Oper mit gut 1000 anderen Studenten teilgenommen hatte und vor dem brutalen Polizeieinsatz geflüchtet war, brach eine Welle der Solidarisierung unter den Studenten aus.

Die jeweiligen subjektiven Beweggründe der scharenweise in die APO strömenden Studenten, Oberschüler und Jungarbeiter mögen vielschichtig und widersprüchlich gewesen sein. Dennoch bildete sich in diesem Bewußtsein eine gesellschaftliche Situation ab, die schlagwortartig folgendermaßen zusammengefaßt werden kann:

Die in der Phase der Isolierheit des SDS entwickelte Vorstellung, daß ihm die Rolle eines Transmissionriemens einer neu entstehenden Protestbewegung zufallen werde, schien Wirklichkeit zu werden. Die "Öffnung zur Stadt" sollte durch die Gründung der Kritischen Universität (KU) als einer im Rahmen des bürgerlichen Unibetriebs selbstorganisierten Fortbildungseinrichtung der "Arbeiter, Schüler und Studenten" dauerhafte Gestalt annehmen. Gleichzeitig sollte die KU zum Instrument der Gegenmacht im Lehrbetrieb der Ordinarienuni werden. Im Programm der KU hieß es dazu: "Gerade weil das Zusammenspiel der Bürokratien des Staates, der Kapitalisten und der Gewerkschaftsspitze in unserer Stadt so umfassend ist, werden die ersten spontanen Abwehrkämpfe der Arbeiter das System im ganzen in Frage stellen, wird im Klassenkampf das Bild der Gegengesellschaft aufblitzen. In diesem Augenblick wird die auf Praxis gerichtete Universität zur praktisch umwälzenden, zur Gegenuniversität."/8/

Wenn auch die Studenten in ihren KU-Arbeitskreisen, die an der FU, der TU, der PH, der KiHo und der HfbK stattfanden, nahezu unter sich blieben, so vermittelte sich doch darüber vielen Studenten die Vorstellung, die durch die KU längerfristig mit Einzelpersonen aus der Arbeiterklasse entstandenen Kontakte zu einer politischen Massenbewegung in der Stadt ausweiten zu können. Maßgeblich an der strategischen Ausformulierung dieser Perspektive war der von den bürgerlichen Medien zur Leitfigur der Studentenproteste hochstilisierte SDS-Funktionär Rudi Dutschke beteiligt. Er popularisierte in der Studentenbewegung zentrale politische Aussagen der Kritischen Theorie vermischt mit Elementen linkskommunistischer Strategien (Räte): Repressiv getrennt stehen Arbeiter und Studenten in den Metropolen des Spätkapitalismus nebeneinander. Den Intellektuellen fällt daher die Aufgabe zu, durch die Dialektik von Aufklärung und Aktion sich und die Arbeiterklasse aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien und durch die Propaganda über die Befreiungsbewegungen in den Ländern der Dritten Welt die Machbarkeit revolutionärer Umwälzungen aufzuzeigen./9/

In diesem Sinne organisierte der SDS im Februar 1968 einen Vietnam-Kongreß. An ihm nahmen rund 2.000 Menschen überwiegend aus dem studentischen Milieu, darunter mehrere ausländische Delegationen und Teilnehmer (Italien, Frankreich, USA, Griechenland, Türkei, Südafrika, Großbritannien, Iran) teil. Unterstützt wurde dieser Kongreß von den Falken und einzelnen linken Sozialdemokraten und Gewerkschaftern, sowie bürgerlichen "Prominenten" wie Sartre, Pasolini, Visconti, Bloch, Hildesheimer, Marcuse usw./10/ Auf der anschließenden Demo beteiligten sich gut 15.000 Menschen, die erstmals nach 20 Jahren militanten Anti-Kommunismus Westberlin mit einem Meer von roten Fahnen, Rosa Luxemburg- und Che Guevara-Plakaten überzogen.

Wunschvorstellungen, wie sie etwa Bernd Rabehl, führendes SDS-Mitglied, in einer Broschüre zum 50. Jahrestag der Oktoberrevolution ausgedrückt hatte, schienen Wirklichkeit zu werden: "Im Jahre 1967 stehen wir im Weltmaßstab vor dem Anschwellen einer neuen revolutionären Periode."/11/ So stand dieser Kongreß auch folglich unter dem Motto: Die Pflicht jedes Revolutionärs ist es, die Revolution zu machen! Und Ernest Mandel von der trotzkistischen IV.Internationale gab den Kongreßteilnehmern in seinem Referat auf den Weg: "Unsere Pflicht ist es, nicht passiver Beobachter dieses historischen Prozesses zu sein, sondern uns darin einzuschalten und zu sichern, daß die Arbeiterklasse und die revolutionäre Studentenschaft Westeuropas, die immerhin den Marxismus geschaffen hat, wiederum den ihr gebührenden Platz im revolutionären Kampf der Welt einnimmt."/12/

Anmerkungen:

/1/ zitiert nach SCHMIDT, Rudi, a.a.O., S.93; F.LAMM (1911-1977) kam aus der SAP und hatte sich nach 1945 in den Westzonen für deren Vereinigung mit der SPD eingesetzt. Von 1950-1959 gab er die Zeitschrift "funken" heraus, die sich an die marxistischen Kräfte in der SPD richtete. Nach Ausschluß des SDS aus der SPD unterstützte Lamm ausschließlich den SDS. Er selber wurde 1963 aus der SPD ausgeschlossen. Nach Auflösung des SDS arbeitete er im SB.

/2/ Unter Entrismus wird hier die Taktik der IV. Internationale - nochmals bestätigt auf dem VII. Weltkongreß 1963 - verstanden, in Zeiten geringer Klassenauseinandersetzungen verdeckt in bestehenden als verbürokratisiert eingestuften Arbeiterorganisationen (Gewerkschaften, sozialdemokratische und "stalinistische" kommunistische Parteien) zu arbeiten. "In der Regel wird deshalb ein Trotzkist seiner Gewerkschaft angehören und hier eine aktive Rolle spielen, wie reaktionär auch die Gewerkschaftsbürokratie sein mag. Ebenso wird er den großen Massenorganisationen angehören, ob sie einen nationalen, kulturellen oder politischen Charakter besitzen. Soweit es möglich ist, wird er die Ideen und das Programm des Trotzkismus bei den Mitgliedern dieser Organisationen vorbringen und sich bemühen, sie für seine Ideen zu gewinnen." Aus: Die Dialektik der Weltrevolution unserer Epoche, Resolution des VII. Weltkongreß der IV.Internationale 1963, abgedruckt in: Die Internationale, Sondernummer 1/73, Hrg.: GIM, Westberlin 1973

/3/ siehe dazu: FICHTER, Tilman, LÖNNENDONKER, Siegward, Kleine Geschichte des SDS, Westberlin 1977, S.72ff

/4/ LIEBEL, Manfred, Die Rolle der Intellektuellen in der Bundesrepublik, in: neue kritik 18, Ffm 1963

/5/ Der Luchterhandverlag brachte 1965 eine differenzierte Untersuchung der Hochschule einer SDS-Autorengruppe heraus, die mit einem Vorwort von Habermas versehen war (Nitsch/Gerhardt/Offe/Preuß: Hochschule in der Demokratie). In dieser Untersuchung wurde die eklatante Disfunktionalität der Universitäten hinsichtlich der Ausnutzung des vorhandenen "Begabungs- und Bildungspotentials" für die Reproduktionsbedingungen der Gesellschaft herausgearbeitet. Hieraus erhellt sich, daß der später in der Unirevolte benutzten und von der bürgerlichen Presse kolportierten Aktionsparole vom 1000jährigen Muff unter den Talaren tatsächlich konzeptionelle Reformüberlegungen zugrundelagen. Ebenso erschließt sich hierüber auch der Stellenwert der 69/70 begonnenen sozialdemokratischen Hochschulreform als Anpassung an gesamtgesellschaftliche Erfordernisse und als Mittel der Austrocknung bzw. Integration des universitären Protestpotentials.

/6/ zitiert nach BERGMANN, DUTSCHKE, LEFEVRE, RABEHL, Rebellion der Studenten, Reinbek 1968, S.21

/7/ DEPPE, Frank, STEINHAUS, Kurt: Politische Praxis und Schulung im SDS, in: neue kritik 38/39, Ffm 1966; siehe dazu auch: Fichter/Lönnendoncker, a.a.O.,S.114f

/8/ KRITISCHE UNIVERSITÄT der studenten, arbeiter & schüler, Programm und Verzeichnis der Studienveranstaltungen im WS 67/68, Hrg.: AStA der FU, Politische Abteilung, Westberlin 1967, S.41

/9/ siehe dazu: DUTSCHKE, Rudi, Repressiv getrennt, in: FU-Spiegel 62, Hrg.: AStA der FUB, Westberlin 1968, und: DUTSCHKE, Rudi, Die geschichtlichen Bedingungen für den Internationalen Emazipationskampf, Rede auf dem Vietnamkongreß Westberlin am 17./18.2.1968, in: Der Kampf des vietnamesischen Volkes und die Globalstrategie des Imperialismus, internationaler Vietnam-Kongreß-Westberlin, Hrg.:SDS Westberlin und Internationales Nachrichten- und Forschungs-Institut (INFI), Westberlin 1968, S.117-119

/10/ Die SEW trat nicht als Mitveranstalter auf, unterstützte jedoch Kongreß und Demo, indem sie ihre Mitglieder dazu aufrief.

/11/ RABEHL, Bernd, Vorwort zu: Oktoberrevolution, Westberlin 1967, S.V.

/12/ zitiert nach: Der Kampf des vietnamesischen Volkes und die Globalstrategie des Imperialismus, internationaler Vietnam-Kongreß-Westberlin, Hrg.:SDS Westberlin und Internationales Nachrichten- und Forschungs-Institut (INFI), Westberlin 1968, S.134