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Am frühen Nachmittag des 2. Juni 1995 fuhren
Detlev Kretschmann und Karl-Heinz Schubert in die Berliner
GEW-Landesgeschäftsstelle in der Schöneberger Ahornstraße und
ließen sich dort vom Drucker die fertigen Exemplare der
TREND-Ausgabe 2/1995 (1) aushändigen. Anschließend trafen sie
sich mit Günter Langer und überklebten auf der Titelseite der
kompletten Ausgabe den Namen der GEW Kreuzberg mit einem
Aufkleber. Mit diesem Aufkleber wiesen sich die Drei nun als
Herausgeber aus, um sie anschließend unter ihrem Namen in
Kreuzberger Schulen, bei GEW-Versammlungen und im Stadtteil zu
verteilen, denn diese Ausgabe sollte eigentlich – obwohl fertig
gedruckt – nicht mehr erscheinen dürfen. Diese Zensurmaßnahme
hatte zuvor der Kreuzberger Personalrat beschlossen, in dem die
GEW die Mehrheit besaß. Zu diesem Zeitpunkt waren nämlich
landesweit Personalratswahlen angesetzt und im
GEW-Funktionärskörper war mensch der Meinung, dass diese
TREND-Ausgabe auf keinen Fall erscheinen dürfe, weil dann mit
Stimmenverlusten bei den Personalratswahlen zu rechnen sei.
Doch für eine Revision dieser autokratischem Entscheidung
durch ein Mitgliedervotum gab es keine Zeit mehr. Denn in
wenigen Tagen sollten Kreuzberger Schüler:innen aufgrund
willkürlicher polizeilicher Ermittlungen wegen „schweren
Landfriedensbruchs“ verurteilt werden. Daher hatte diese Ausgabe
nicht den landesweiten Personalratswahlkampf sondern die
Solidarität mit den Schüler:innen der 2. Hauptschule zum
Schwerpunkt.
Während ihres Unterrichtsprojekts am Marzahner Freizeit- und
Erholungszentrum am 22. November 1994 waren diese Kreuzberger
Schüler:innen und ihre Lehrerin von einer zivilen
Fahndungsgruppe der Polizeidirektion Weißensee bespitzelt
worden, als sie sich gegen Schüler:innen einer nahegelegenen
Gesamtschule zur Wehr sezten, weil sie von diesen aggressiv mit
„Heil-Hitler-“ und „Ausländer raus“-Rufen bedrohten wurden. Acht
von ihnen wurden zusammen mit ihrer Lehrerin vorübergehend
festgenommen. Wenige Tage später wurden sogar einzelne von ihnen
während der Unterrichtzeit widerrechtlich im Schulleiterzimmer
kriminalpolizeilich verhört. Durch das couragierte Einschreiten
ihres Vertrauenslehrer Karl-Heinz Schubert, konnte dieser
Willkürakt jedoch beendet werden. Kurze Zeit darauf erschien
TREND Nummer 3/1994 und berichtete umfassend über diese
skandalösen Vorfälle und die Solidarität mit den Schüler:innen
(2). Als im Januar 1995 die repressiven Ereignisse weiter
eskalierten, wurde von der Redaktion umgehend die Ausgabe 1/1995
erstellt. Sie enthielt Informationen über das Kesseltreiben
gegen die Lehrerin zur Vorbereitung eines Berufsverbots sowie
über weitere Verhöre der Schüler:innen und über Ermittlungen
gegen Schubert wegen angeblicher Mitgliedschaft in der damals
vom Staatsschutz gesuchten militanten Gruppe „Klasse gegen
Klasse“(3) .
Durch die clevere Inbesitznahme der inkriminierten TREND 2/1995
konnte diese Ausgabe nun an vielen Schulen und im Stadtteil
verbreitet werden und damit gerade noch rechtzeitig vor dem 19.
Juni 1995 zum Termin des Strafprozesses gegen die drei
ältesten von den acht in Marzahn festgenommenen Schüler:innen
mobilisieren. Am Prozesstag riefen Schüler:innen der 2.
Hauptschule vor ihrer Schule zusammen mit ihrem Vertrauenslehrer
plus Schüler:innen aus anderen Schulen zum Besuch des Prozesses
auf - dabei unterstützt von Elternsprecher:innen sowie einigen
GEW-Kolleg:innen. Es gab Transparente, Flugblätter wurden
verteilt und TREND 2/1995 an interessierte Passant:innen
ausgehändigt. In der darin abgedruckten Solidaritätserklärung
der Redaktion hieß es:
"Wir
fordern Freispruch für alle drei Angeklagten! Wir erheben
diese Forderung in Erwägung :
1. daß die Anklage aus Gründen der Staatsraison Ereignisse
mit dem Ziel konstruiert, nichtdeutsche Jugendliche wegen
ihrer Herkunft abzustrafen. Dabei stützt sich die
Beweisführung auf rassistische Argumentationsfiguren, 2. daß
die Angeklagten keine Gruppe bildeten und schon gar nicht
deswegen, um Gewalttätigkeiten zu begehen oder die
öffentliche Sicherheit zu gefährden. Vielmehr reagierten sie
auf rassistische und faschistische Provokationen als
Einzelpersonen mit ‚Verantwortungsreife‘, indem jeder für
sich diesen Provokationen entschlossen entgegentrat, ohne
dabei Gewalt anzuwenden. Waffen wurden nicht benutzt. Daher
gab es auch keine Verletzten. 3. daß eine Verurteilung
einerseits einem Freibrief für rassistische und
faschistische Provokationen gleichkäme und andererseits
dadurch Notwehrhandlungen kriminalisiert würden. Dies wäre
ein nicht hinzunehmender Angriff auf antifaschistisches
Handeln.“ (ebd.)
Für die Personalversammlung der Kreuzberger
Lehrer:innen am nächsten Tag erstellten die Redakteure
zusätzlich ein „TREND Extrablatt“, in dem ausführlich über den
Prozess berichtet wurde. Das Verfahren „wegen schweren
Landfriedensbruch“ gegen die drei Schüler:innen war zwar
eingestellt worden – allerdings mit der Auflage eine
entsprechende Stundenzahl an Freizeitarbeit abzuleisten.
Pointiert kommentierte „TREND“ diese Entscheidung:
„Die
Kreuzberger schüler hatten sich am 22.11.1994 bedroht gefühlt.
Und sie hatten individuell gehandelt. Ihnen für dieses Handeln
nun „verantwortungsreife" zuzubilligen und sie milde
abzustrafen, heißt ihnen Verantwortung zu übertragen für etwas,
wofür sie gar keine Verantwortung tragen können, nämlich für ein
Klima in dieser Stadt, daß nichtdeutschen Menschen Angst macht
und sie tagtäglich vor die sie überfordernde Aufgabe stellt,
damit persönlich umzugehen. Im Prozess und in der
Gerichtsentscheidung blieb dieser gesellschaftliche Hintergrund
ausgeblendet, die nichtdeutschen Schüler dürfen sich als Gäste
im neuen Deutschland bewähren.“(4)
Nach den Sommerferien reagierte die Kreuzberger
GEW-Bezirksleitung – mehrheitlich von Personalräten gebildet –
auf die Öffentlichkeitsarbeit der drei TREND-Redakteure
und hoffte, auf einer Mitglieder:innenversammlung, zu der sie
zum 3.September 1995 eingeladen hatte, eine Abwahl der Redaktion
durchsetzen zu können. Daraufhin erklärten Detlev Kretschmann,
Günter Langer, und Karl-Heinz Schubert in einem offenen Brief
(5), verbreitet über die GEW-Bretter in den Betriebsstellen und
Lehrer:innenzimmern Kreuzbergs, ihren Rückritt aus
der
Redaktion. Aufgrund des Desinteresses des GEW-Funktionärskörpers
sollte es eine Kreuzberger GEW-Mitglieder:innenzeitung in der
Folgezeit nicht mehr geben.
Im Kampf gegen das TREND-Verbot hatte
sich bei den drei Redakteuren eine Art von politischem
Quasi-Konsens herausgebildet, der sie nach Wegen suchen ließ,
gemeinsam radikaldemokratisch und antifaschistisch - vor allem
aber in eigener Regie - journalistisch tätig zu bleiben. Ihre
politische Kritik am Berliner Senat, ihrem Dienstherrn, und der
mit ihm kooperierenden GEW war weniger aus den ökonomischen
Bedingungen ihres Arbeitsverhältnisses abgeleitet, sondern
resultierte eher aus dem eigentümlichen Bild vom deutschen
Staat, das sich seit 1990 bei den „Autonomen“(6)(7) - d.h. dem
parteipolitisch nicht organisierten linksradikalen Spektrum -
unter dem Schlagwort „4. Reich“ und der Parole „Nie wieder
Deutschland“ herausgebildet hatte. Entstanden war die politische
Linie, die diesen Kampfbegriffen zugrunde lag, im
Niedergangsprozess des Kommunistischen Bundes Ende der 1980er
Jahre(8). Deren Spezifikum bestand darin, im Begriff der Nation
den klassenanalytischen Staatsbegriff verschwinden und
den Staat als ein strukturelles Sammelsurium
einzelner Herrschaftsapparate wieder erscheinen zu lassen (9).
Mit einem in dieser Weise verkürzt konstruierten deutschen
Nationalstaat erschien nun staatliches Handeln, wodurch die
Einwohner:innen der BRD nach völkischen Kriterien sortiert
unterschiedlich behandelt wurden/ werden, als faschistisches
Erbgut des 3. Reiches. Rassismus und Fremdenhass wurden mithilfe
der Psychoanalyse als eine sich massenpsychologisch ausdrückende
Triebabfuhr der entschlüsselten deutschen Volksseele
gedacht(10).
Zu diesem Zeitpunkt verfügten linke
Kräfte in der BRD bereits seit mehr als einem Jahrzehnt im
Internet über Netzwerke - bestehend aus Mailboxen und
Newsgruppen. Besondere Bedeutung erlangte dabei seit 1987 das
CL-Netz, dessen Gründer:innen aus dem Spektrum der Jusos
kamen(11). Der Datenaustausch erfolgte - anders ging es nicht - durch eine puristische
Textübermittlung mittels grüner oder bernsteinfarbener
Einheitsschriftzeichen auf schwarzen Bildschirmen ohne Bilder
und andere graphische Elemente. Allerdings konnten damit selbst
die wenigen gestalterischen Ansprüche der gedruckten
TREND-Zeitung im Internet noch nicht umgesetzt werden. Erst das
auf der Seitenbeschreibungssprache HTML basierende
WordWildWeb-Konzept, das sich seit 1994 im Internet zu
verbreiten begann, schien hingegen die graphischen Ansprüche der
drei TREND-Macher:innen möglich werden zu lassen. Befördert
wurde die Entwicklung von „bunten Reklametafeln an der
Datenautobahn“ durch die zunehmende Indienstnahme des World Wide
Web (WWW) seitens transnational agierender
Dienstleistungsunternehmen. Dies wiederum trieb die Entwicklung
geeigneter Software voran (12). So brachte 1995 Microsoft das
Betriebssystem „Windows 95“ auf den Markt, worin standardmäßig
eine Schnittstelle zum Internet integriert war. Im selben Jahr
wurde von Microsoft „Frontpage“ als Produktionsmittel zur
grafischen Webseitengestaltung ohne HTML-Kenntnisse auf den
Markt gebracht.
Diese neuen Entwicklungen beflügelten
Kretschmann, Langer und Schubert TREND als Onlinezeitung
erscheinen zu lassen. Die virtuelle Form war für sie nicht nur
eine kostengünstige Lösung zur Verbreitung von Nachrichten und
Kommentaren, sondern sie bot auch die Möglichkeit eine
politische Publizität zu erlangen, die mit einem lokalen
Printmedium, wie es TREND zuvor gewesen war, niemals hätte
erreicht werden können. Ende des Jahres stand für die Drei
schlussendlich fest,
sich ab 1996 journalistisch im Internet zu betätigen. Ihre
Adressaten wurden nun für sie stadtpolitische Gruppen aus dem
„autonomen“ Spektrum sowie in Betrieben gewerkschaftsoppositionell
und kapitalkritisch agierende Kolleg:innen. Im Nachhinein lassen sich ihre damaligen journalistischen
und politischen Überlegungen, mit denen sie im World Wide Web
mit TREND an den Start gingen, konkreter beschreiben:
-
TREND sollte im WWW als
strömungsübergreifende Nachrichtenplattform für das
linke&radikale Spektrum dienen. Ihre bisherigen Schwerpunkte
Antifaschismus und Antimilitarismus sowie Gewerkschafts- und
Sozialpolitik wurden dementsprechend erweitert. Hinzu kamen
soziale Bewegungen - auch im internationalen Kontext - sowie
Berichte über entsprechende Ereignisse und Sachverhalte.
Desweiteren wurden ausgewählte Nachrichten und Texte aus dem
CL-Netz durch TREND ins WWW übertragen. Mit diesen Aktivitäten
wollte TREND eine Vernetzung linker&radikaler Milieus durch ein
strömungsübergreifende Konzept anbahnen, um zu zeigen wie
bestehende Zusammenhänge trotz vorhandener ideologischer
Differenzen aufeinander zugehen und dieses Bemühen publizistisch
umsetzen könnten. Dazu wurde auch ein virtueller
Gedächtnisspeicher aufgebaut. Er enthielt gezielt ausgewählte
Texte und Dokumente der 1968er Jugend- und Studierendenbewegung,
um sie für die damals aktuellen Debatten in den sozialen
Bewegungen und in autonomen Spektren bereitzustellen. Dieses
Archiv wurde durch eine virtuelle Bibliothek ergänzt, die Texte
enthielt, die sozialemanzipatorische Praxen theoretisch
unterlegten und reflektierten.
Um diese Arbeitsvorhaben entsprechend zu labeln, untertitelten die drei
Gründer der Onlinezeitung das TREND-Logo mit dem Slogan
„Onlinezeitung für die alltägliche Wut“. Er konnte auf zweifache
Weise verstanden werden. Zum einen sollten bei TREND diejenigen
eine virtuelle Veröffentlichungsplattform bekommen, für die der
kapitalistische Alltag nur noch mit Wut im Bauch zu ertragen
war. Wut war für die TREND-Macher:innen ein gesellschaftliches
Phänomen und integraler Bestandteil des kapitalistischen
Alltags. Daher sollte zum andern mit der Onlinezeitung die
Perspektive einer selbstbestimmten kollektiven Aufhebung des
Kapitalismus vermittelt werden.
Schließlich fiel die Providerwahl ganz
pragmatisch auf CompuServe(13). Denn ab Januar 1996 hatte
CompuServe in einer breiten Werbekampagne mit sehr
preisgünstigen Internet-Angeboten Kleinkapitalist:innen und vor
allem private User:innen umworben. Diese Angebote enthielten
eine eigene Homepage mit Webspace in Verbindung mit einer Emailadresse auf
dem „Ourworld.CompuServe“-Server. |