1995 - Eine Idee wird geboren

Auszug

Im Kampf gegen das TREND-Verbot hatte sich bei den drei Redakteuren eine Art von politischem Quasi-Konsens herausgebildet, der sie nach Wegen suchen ließ, gemeinsam radikaldemokratisch und antifaschistisch - vor allem aber in eigener Regie - journalistisch tätig zu bleiben. Ihre politische Kritik am Berliner Senat, ihrem Dienstherrn, und der mit ihm kooperierenden GEW war weniger aus den ökonomischen Bedingungen ihres Arbeitsverhältnisses abgeleitet, sondern resultierte eher aus dem eigentümlichen Bild vom deutschen Staat, das sich seit 1990 bei den „Autonomen“(6)(7) - d.h. dem parteipolitisch nicht organisierten linksradikalen Spektrum - unter dem Schlagwort „4. Reich“ und der Parole „Nie wieder Deutschland“ herausgebildet hatte. Entstanden war die politische Linie, die diesen politischen Kampfbegriffen zugrunde lag, im Niedergangsprozess des Kommunistischen Bundes Ende der 1980er Jahre(8). Deren Spezifikum bestand darin, im Begriff der Nation den klassenanalytischen Staatsbegriff verschwinden und stattdessen den Staat als ein strukturelles Sammelsurium einzelner Herrschaftsapparate wieder erscheinen zu lassen (9). Mit einem in dieser Weise verkürzt konstruierten deutschen Nationalstaat erschien nun staatliches Handeln, wodurch die Einwohner:innen der BRD nach völkischen Kriterien sortiert unterschiedlich behandelt wurden/ werden, als faschistisches Erbgut des 3. Reiches. Rassismus und Fremdenhass wurden mithilfe der Psychoanalyse als sich massenpsychologisch ausdrückende Triebabfuhr der entschlüsselten deutschen Volksseele gedacht(10).

Zu diesem Zeitpunkt verfügten linke Kräfte in der BRD bereits seit mehr als einem Jahrzehnt im Internet über Netzwerke - bestehend aus Mailboxen und Newsgruppen. Besondere Bedeutung erlangte dabei seit 1987 das CL-Netz, dessen Gründer:innen aus dem Spektrum der Jusos kamen(11). Der Datenaustausch erfolgte durch eine puristische Textübermittlung mittels grüner oder bernsteinfarbener Einheitsschriftzeichen auf schwarzen Bildschirmen ohne Bilder und andere graphische Elemente. Allerdings konnten damit selbst die wenigen gestalterischen Ansprüche der gedruckten TREND-Zeitung im Internet noch nicht umgesetzt werden. Erst das auf der Seitenbeschreibungssprache HTML basierende WordWildWeb-Konzept, dass sich seit 1994 im Internet zu verbreiten begann, schien hingegen die graphischen Ansprüche der drei TREND-Macher:innen möglich werden zu lassen. Befördert wurde die Entwicklung „bunter Reklametafeln an der Datenautobahn“ durch die zunehmende Indienstnahme des World Wide Web (WWW) seitens transnational agierender Dienstleistungsunternehmen. Dies wiederum beflügelte die Entwicklung geeigneter Software(12). So brachte 1995 Microsoft das Betriebssystem „Windows 95“ auf den Markt, worin standardmäßig eine Schnittstelle zum Internet integriert war. Im selben Jahr wurde von Microsoft „Frontpage“ als Produktionsmittel zur grafischen Webseitengestaltung ohne HTML-Kenntnisse auf den Markt gebracht.

Diese neuen Entwicklungen beflügelten Kretschmann, Langer und Schubert TREND als Onlinezeitung erscheinen zu lassen. Die virtuelle Form war für sie nicht nur eine kostengünstige Lösung zur Verbreitung von Nachrichten und Kommentaren, sondern sie bot auch die Möglichkeit eine politische Publizität zu erlangen, die mit einem lokalen Printmedium, wie es TREND zuvor gewesen war, niemals hätte erreicht werden können. Ende des Jahres stand für die Drei fest, sich ab 1996 journalistisch im Internet zu betätigen. Ihre Adressaten wurden nun für sie stadtpolitische Gruppen aus dem „autonomen“ Spektrum sowie in Betrieben oppositionell agierende Linke. Im Nachhinein lassen sich ihre damaligen journalistischen und politischen Überlegungen, mit denen im World Wide Web mit TREND an den Start ging, folgendermaßen beschreiben:

TREND sollte im WWW als strömungsübergreifende Nachrichtenplattform für das linke&radikale Spektrum dienen. Ihre bisherigen Schwerpunkte Antifaschismus und Antimilitarismus sowie Gewerkschafts- und Sozialpolitik wurden dementsprechend erweitert. Hinzu kamen soziale Bewegungen - auch im internationalen Kontext - sowie Berichte über entsprechende Ereignisse und Sachverhalte. Desweiteren wurden ausgewählte Nachrichten und Texte aus dem CL-Netz durch TREND ins WWW übertragen. Mit diesen Aktivitäten wollte TREND einen Beitrag zur Vernetzung linker&radikaler Milieus durch ein strömungsübergreifende Konzept exemplarisch veranschaulichen, wie bestehende Zusammenhänge trotz vorhandener ideologischer Differenzen aufeinander zu gehen und dieses Bemühen publizistisch umsetzen. Dazu wurde auch ein virtueller Gedächtnisspeicher aufgebaut. Er enthielt gezielt ausgewählte Texte und Dokumente der 1968er Jugend- und Studierendenbewegung, um sie für die damals aktuellen Debatten in den sozialen Bewegungen und in autonomen Spektren bereitzustellen. Dieses Archiv wurde durch eine virtuelle Bibliothek ergänzt, die Texte enthielt, die sozialemanzipatorische Praxen theoretisch unterlegten und reflektierten. Um diese Ansprüche zu unterstreichen, untertitelten die drei Gründer der Onlinezeitung das TREND-Logo mit dem Slogan „Onlinezeitung für die alltägliche Wut“. Er sollte bewusst doppelt gelesen werden können. Bei TREND sollten diejenigen eine virtuelle Veröffentlichungsplattform bekommen, für die der kapitalistische Alltag nur noch mit Wut im Bauch zu ertragen war. Denn – so die TREND-Macher:innen - als gesellschaftliches Phänomen konnte diese Wut, die zum integralen Bestandteil des kapitalistischen Alltags geworden war, ihr Ende nur durch eine selbstbestimmte kollektive Aufhebung des Kapitalismus finden. Schließlich fiel die Providerwahl ganz pragmatisch auf CompuServe(13). Denn ab Januar 1996 hatte CompuServe in einer breiten Werbekampagne mit sehr preisgünstigen Internet-Angeboten Kleinkapitalist:innen und vor allem private User umworben. Diese Angebote enthielten eine eigene Homepage in Verbindung mit einer Emailadresse auf dem „Ourworld.CompuServe“-Server.


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