Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

Paris:  Antisemitisch unterlegter Mord an Mireille Knoll

5-6/2018

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Die alte Dame hatte den Holocaust überlebt. Als Kind blieb sie während der berüchtigten „Judenrazzia vom Wintervelodrom“ versteckt. So bezeichnet man die Massenfestnahme von 13.000 Juden im Raum Paris im Juli 1942, deren Opfer – über das französische Durchgangslager Drancy – in die Vernichtungslager Nazideutschlands abtransportiert und fast alle ermordet wurden. Am vorletzten Freitag Abend (23. März 18) wurde sie in Paris umgebracht.

Der Körper von Mireille Knoll, Jahrgang 1932, wies Spuren von elf Messerstichen auf. Ihre Leiche wurde in teilweise verkohltem Zustand aufgefunden: An vier verschiedenen Stellen in ihrer Wohnung war Feuer gelegt, der Hahn am Gasherd war geöffnet worden. Die Autopsie hat ergeben, dass nicht das Feuer oder eine Rauchvergiftung, sondern die zuvor erlittenen Stichverletzungen oder der damit verbundene Sturz den Tod der weißhaarigen Dame herbeiführten.

Diese hatte ihren Mördern keinen Widerstand geleistet. Mirielle Knoll war - alters- und gesundheitsbedingt – nicht mehr in der Lage, allein aufzustehen, falls sie stürzte, und litt an der Parkinson-Krankheit. Ihr Tod im elften Pariser Arrondissement, einem innerständischen Bezirk mit einem traditionell relativ starken jüdischen Bevölkerungsanteil, rief in breiten Kreisen Entsetzen hervor. Im selben Bezirk war im April 2017 die damals 65jährige orthodoxe Jüdin Sarah Halimi durch einen ihrer Nachbarn ermordet worden. Im Unterschied zu ihr war Knoll eine nicht praktizierende Jüdin. Auch an ihrem Mord war einer ihrer Nachbarn, der zudem früher in ihrer Wohnung ein- und ausging, beteiligt.

Infolge der unverzüglich aufgenommenen polizeilichen Ermittlungen wurden zwei Männer schnell des Mordes überführt, die nun in Untersuchungshaft auf ihren Prozess warten. Es handelt sich um den 27jährigen Yacine Mihoub sowie den 21jährigen Obdachlosen Alex Carrimbacus. Beide lernten sich zuvor in Haft kennen.

Ein unmittelbar politisch-ideologisches, etwa islamistisches Tatmotiv scheidet laut Auffassung der Ermittler aus. Die beiden Täter waren nicht nur unterschiedlicher Herkunft, beide praktizierten auch keine Religion. Mihoub gilt als schwerer Alkoholiker und soll laut Angaben eines der Söhne des Opfers – Alain Knoll, der ihm am Nachmittag vor der Mordtat noch in der Wohnung seiner Mutter begegnet war – eine Portoweinflasche zu drei Vierteln allein ausgetrunken haben. Dem Sohn war es sehr unwohl in der Gegenwart dieses Nachbarn, den Mireille Knoll seit seinen Kindheitstagen kannte. Er verließ ihre Wohnung erst, als die Haushaltshilfe der Mutter bei ihr eintraf, so dass sie nicht allein blieb. Mihoub kehrte jedoch offensichtlich später dorthin zurück, zusammen mit dem gesellschaftlichen Außenseiter Carrimbacus.

Beide teilten jedoch ein Tatmotiv, das unmittelbar materielle Natur ist, jedoch erkennbar auf einem antisemitischen Motiv gründete. Denn beide waren überzeugt, dass bei Mireille Knoll Geld zu finden sein müsse, eben weil sie Jüdin war. Dies war nicht der Fall, die alte Dame lebte in einer städtischen Sozialwohnung und von einer nicht übermäßig üppigen Rente. Die Ermittler nahmen deswegen umgehend ein antisemitisches Motiv als taterschwerendes „Mordmerkmal“ in die Akten auf.

Dies unterscheidet ihr Vorgehen von dem im Falle Sarah Halimi, bei dem die polizeilichen Ermittler und die Staatsanwaltschaft zunächst mehrere Monate lang zögerten, bevor der zuständige Staatsanwalt auch dort – Ende Februar dieses Jahres – dieses Tatmerkmal doch noch in die vorbereitete Anklageschrift aufnahm. Der Mörder von Sarah Halimi, der aus einer westafrikanischen Familie stammende Kobili Traoré, hatte in der Tatnacht zunächst andere im Mietshaus lebende Familien sowie eigene Familienmitglieder terrorisiert. Der Vater einer ebenfalls, wie er, aus Mali stammenden Einwandererfamilie ein Stockwerk weiter oben hatte sich deswegen in seiner Wohnung verbarrikadiert und gegen drei Uhr früh die Polizei um Hilfe gerufen. Traoré war daraufhin in die Wohnung von Sarah Halimi eingedrungen. Er gilt als Täter mit schweren Persönlichkeitsstörungen, seine psychischen Probleme wurden durch den Konsum von zehn bis fünfzehn Haschischzigaretten pro Tag noch verschärft. Nach der Tat war er vorübergehend in die Psychiatrie eingewiesen worden, er gilt jedoch als schuldfähig. Laut eigenen Aussagen bei der Polizei verleitete ihn der Anblick jüdischer Religionssymbole in der Wohnung seines Opfers dazu, an die Präsenz „teuflischer Zeichen“ zu glauben. Deswegen wurde, mit Verspätung, doch noch ein antijüdisches Motiv als taterschwerender Umstand festgehalten.

Mihoub zeigt ebenfalls ein gestörtes Persönlichkeitsbild auf. Er war unter anderem beschuldigt worden, die zwölfjährige Tochter der Haushaltshilfe von Mireille Knoll sexuell missbraucht zu haben. Auch hatte er telefonisch angedroht, ein Geschäft (der Kette Monoprix), in dem er zeitweilig arbeitete und wo ihm gekündigt worden war, „in die Luft zu jagen“. Innenminister Gérard Collomb geht infolge der bisherigen Ermittlungsergebnisse davon aus, eine religiös-politische Prägung sei auszuschließen, vielmehr liege ein genereller krimineller Hintergrund vor, und sein Name tauche in „22 bis 24 Strafverfahren“ unterschiedlicher Natur auf. Allgemeine Verrohung, die sich im Laufe seiner zurückliegenden Gefängnisaufenthalte wohl nicht verringert hat, dürfte eine erhebliche Rolle spiele.

Das an den jüdischen Charakter des Opfers gekoppelte finanzielle Motiv – „Juden haben Geld“ – macht die Tötung Mireille Knoll an dem Foltermord an dem jungen jüdischen Telefonverkäufer Ilan Halimi vergleichbar. Er war im Januar 2006 in Paris entführt, im Heizungskeller einer Hochhaussiedlung in der Trabantenstadt Bagneux festgehalten und misshandelt worden. Dem Tode nahe wurde er nach drei Wochen freigelassen, mit einem Auto ausgesetzt und sterbend in der Nähe einer Bahnlinie aufgefunden. Eine 18köpfige kriminelle Organisation, deren Anführer Youssouf Fofana ihr selbst die Bezeichnung „Gang der Barbaren“ verlieh, wurde daraufhin ausgehoben, ihre Mitglieder wurden verhaftet und zum Teil langjährigen Haftstrafen verhaftet. Fofana hatte einen allgemeinen kriminellen Hintergrund, bei seiner Person lag jedoch zusätzlich eine gewisse Faszination für Jihadisten vor. Die Mitglieder seiner Bande waren allerdings unterschiedlicher nationaler und religiöser Herkunft (portugiesischer, kabylischer, …); zwischen ihnen bestand sicherlich kein einigendes ideologisches Band.

Gemeinsam war ihnen, ebenso wie offensichtlich den Mördern von Mireille Knoll, eine erkennbare Entmenschlichung ihrer Opfer.

Die politische Verarbeitung des Mordes an Frau Knoll, den alle Medien des Landes breit rezipierten, unterscheidet sich von der im Falle Sarah Halimi. Letzterer wurde in der innenpolitischen Debatte zunächst kaum aufgegriffen, wohl, weil erstens das antisemitische Tatmotiv offiziell noch umstritten blieb und weil er zweitens mitten in die Hochphase des französischen Präsidentschaftswahlkampfs fiel. Jüdische Organisationen und prominente Anwälte forderten hingegen, ein antisemitisches Motiv mit in die zu erhebende Anklage aufzunehmen, was nach einigen Monaten nun doch noch erfolgte.

Nach dem Mord an Mireille Knoll wurden dagegen schnell deutliche Worte ausgesprochen. Innenminister Gérard Collom erklärte anlässlich einer Parlamentsaussprache: „Juden haben heute Angst in Frankreich“, und Staatspräsident Emmanuel Macron nahm – ohne vorherigen Ankündigung in der Öffentlichkeit – persönlich an der Beerdigung des Opfers teil. Von ganz links bis ganz rechts wurde die Emotion geteilt.

An einem Gedenkmarsch am Abend des vorigen Mittwoch (28. März 18) nahmen in Paris, laut Angaben des jüdischen Dachverbands CRIF, rund 30.000 Menschen teil. Der französisch-jüdische Philosoph Alain Finkielkraut, dessen Stellungnahmen in jüngerer Zeit eher durch (reaktionär eingefärbten) Pessimismus und Kulturkonservativismus geprägt waren, hob sehr lobend hervor, anders als nach dem Mord an Ilan Halimi hätten daran sowohl Juden als auch Nichtjuden in größerer Zahl teilgenommen. Allerdings hatten tatsächlich auch 2006 Nichtjuden infolge des Foltermords demonstriert – auch der Autor dieser Zeilen war damals dabei.

Während die Leitung des Dachverbands CRIF nur an die etablierten Parteien im staatstragenden Spektrum appellierte und sowohl die Linke – jenseits (bzw. dieseits) der vormaligen Regierungssozialdemokratie – als auch die extreme Rechte für unerwünscht erklärte, kamen letztendlich Vertreter beider Richtungen ebenfalls zu dem Gedenkmarsch. Bürgerliche Medien vermeldeten daraufhin, sowohl der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon als auch Marine Le Pen seien daraufhin vertrieben worden. Die Wirklichkeit ist komplexer. Mélenchon wurde von mehreren Dutzend Angehörigen der rechtsradikalen „Jüdischen Verteidigungsliga“ LDJ – französischer Ableger der in den USA und Israel als rechtsterroristisch verbotenen Kach-Bewegung – verbal attackiert. Er verließ daraufhin den Gedenkmarsch mit den Worten: „Heute geht es nicht um mich, sondern um Mireille Knoll. Man muss es philosophisch nehmen.“ Marine Le Pen dagegen wurde von einfachen Teilnehmern mit Rufen wie „Nazis, Faschisten“ verbal angegriffen. Ihr ging jedoch ein Ordnerdienst der LDJ – im Gegenteil – helfend zur Seite, vor allem der Front National-Regionalparlamentarier Jean-Richard Sulzer stand mit ihr im Kontakt. Nach einer Stunde reihte sich Marine Le Pen nochmals kurzfristig ein.

Die breit gestreute Unterstützung für den Gedenkmarsch ebenso wie die schnelle Reaktion der Ermittlungskräfte, unter Einschluss des antisemitischen Motivs, bilden neue Elemente in der Situation nach dem Mord an Mireille Knoll. Ob sie die Beunruhigung jüdischer Menschen in Frankreich abzuschwächen vermögen, wird die nähere Zukunft erweisen müssen.

NACHTRAG: Jüdische Personen wurden in den letzten Jahren mehrere Dutzend mal Opfer von Gewalttaten im Land. Sei es aus kriminellen Motiven im Zusammenhang mit unterstelltem Reichtum, wie auch jetzt. Dies war auch beim Überfall auf ein jüdisches Ehepaar zu Hause, Ende 2014 in der Pariser Vorstadt Créteil, der Fall. Sei es aus jihadistischer Ideologie, wie bei einem Teil der Opfer der Terroristen Mohamed Merah 2012 in Toulouse oder Amedy Coulibaly im Januar 2015 in Paris. Sei es aufgrund rechtsextremer Täterschaft wie  bei den jüngsten Drohungen gegen die 1941 geborene Holocaust-Überlebende Lucienne Nayet in Südwestfrankreich. Diese waren mit einem gelben Stern versehen: Nayet wurde vorgeworfen, in Schulen „Rassenmischung" zu predigen - aufgrund antirassistischer Vorträge - und einen „schäumenden und genozidalen, semitischen Hass auf die weiße Rasse" zu verkörpern.

Laut Ausführungen des Historikers Marc Knobel in Le Monde verließen in den vergangenen zehn Jahren insgesamt 60.000 jüdische Personen - das wäre rund ein Zehntel der jüdischen Wohnbevölkerung - Frankreich. Die Motive dafür sind sicherlich gemischt, auch allgemeine Perspektivlosigkeit zählt mit dazu. Die Zunahme antisemitischer Aggressionen, denen im politischen Raum in den letzten zehn Jahren der vorübergehende Erfolg der Hassprediger Dieudonné und Alain Soral entsprach, spielt jedoch eine wichtige Rolle.

Editorischer Hinweis

Diesen Artikel erhielten wir von B. Schmid für diese Ausgabe. Eine leicht gekürzte Fassung erschien am Donnerstag, den 05. April d.J. in der Berliner Wochenzeitung Jungle World. Ein weiterer, unterschiedlicher Artikel des Verfassers zum Thema erschien am 12. April 18 in der Jüdischen Allgemeinen Wochenzeitung