Verfasst während des
redaktionellen Urlaubs von trend.infopartisan.net am 07. Mai
2015
Als Erscheinung des politischen Alltags hat sich
der so genannte „Geist des 11. Januars“, benannt nach dem Datum der
Massendemonstrationen infolge des Attentats auf die Redaktion von
Charlie Hebdo, zwar längst überlebt. Doch nun folgt eine
Reihe von intellektuellen Auseinandersetzungen rund um diese
Chiffre, die die Debatte wieder aufleben lassen. Nicht nur in den
USA, wo die vor allem von Satire und Zeichnungen geprägte
Wochenzeitung am Mittwoch, den 06.05.15 mit einem Preis
ausgezeichnet wurde, um den es zuvor beim PEN-Zentrum heftigen
Streit gegeben hatte.
Um die vierzig Buchtitel – zählt man Comicbände
mit wie den des Charlie-Zeichners Luz (Rénald Luzier),
der unter dem Namen Katharsis am 21. Mai 15 erscheint
– sind in Frankreich rund um das Thema bereits erscheinen, stehen
kurz vor dem Erscheinen oder sind bis im Frühherbst vorprogammiert.
Mehrere sind posthum erschienen Werke von getöteten Charlie-Mitarbeitern
wie das Buch des ermordeten Chefredakteurs Charb (Stéphane
Charbonnier), oder das des ebenfalls getöteten
Wirtschaftsspezialisten der Redaktion, des Linkskeynesianers Bernard
Maris. Auch Überlebende der Redaktion legen Zeugnis ab wie der
Notarzt, Kritiker des aktuellen Gesundheitssystems und Mitarbeiter
der Zeitung, Patrick Pelloux.
Am stärksten polemisch ausgerichtet ist ohne
Zweifel das Buch Qui est Charlie? („Wer ist Charlie?“)
aus der Feder des Anthropologen und eifrigen politischen
Debattenteilnehmers Emmanuel Todd. Sein Titel spielt einerseits auf
das im Januar 2015 millionenfach plakatierte Bekenntnis – Je
suis Charlie – an, andererseits aber auch auf den Namen
eines populären Kinderbuchs, Où est Charlie?, also die
französische Version des nordamerikanischen Where’s Waldo?
Respektive des britischen Where’s Wally?
Todds jüngstes Werk verleitete zu Anfang der
ersten Maiwoche 2015 die Tageszeitung Libération zu
dem merkwürdigen Titel: „Blasphemie wider den Geist des 11.
Januar“. Die linksliberale Zeitung ließ
Todd mit ihrem Chefredakteur Laurent Joffrin diskutieren, welcher
soeben selbst ein Buch unter dem Titel „Französisches Erwachen. Ein
Plädoyer für die Brüderlichkeit“ herausbrachte. In Letzterem wird im
Großen
und Ganzen die zurückliegende Mobilisierung als Beitrag zur
Erneuerung der französischen Republik abgefeiert. Dies ist
mitnichten das Anliegen von Emmanuel Todd, aus dessen Buch zugleich
anderswo in der Presse auszugsweise Vorabdrucke veröffentlicht
wurden.
Todd mischt seit zwanzig Jahren in der
französischen Politik mit. Dort unterstützte er unter anderem die –
letztendlich erfolgreichen - Präsidentschaftskandidaturen von
Jacques Chirac 1995 und François Hollande 2012, um sich aber von
beiden mehr oder minder bald enttäuscht wieder abzuwenden. Er hatte
zuvor versucht, ihnen eine Kurs nahe zu legen, den man in
Ermangelung eines besseren und treffenderen Begriffs als
sozialpopulistisch bezeichnen könnten. Todd ist ein energischer
Verfechter eines Austritts aus der EU oder jedenfalls aus dem Euro,
spricht von der Notwendigkeit einer stärkeren Souveränität gegenüber
Deutschland und einer anderen Wirtschaftspolitik, bleibt dabei
jedoch meist unkonkret.
Untermauert werden all seine Interventionen durch
seine angeblichen oder tatsächlichen anthropologischen Erkenntnisse,
die stets darauf beruhen, dass er tradierte Familienstrukturen – die
historischen Formen der Vererbung etwa, in Gestalt der Übertragung
auf einen Alleinerben oder der Erbteilung unter Nachfahren – in
französischen Regionen untersucht und aus ihnen unmittelbaren
politischen Schlussfolgerungen für das 20. oder 21. Jahrhundert
ableitet. So auch rund um Charlie Hebdo.
In seinem letzten Buch hatte er die steile These
aufgestellt, die französische Sozialdemokratie – die in ihrer
heutigen Form erst 1971 aus dem Zusammenschluss mehrerer
Kleinparteien gegründet wurde und sich erst danach einen festen
politischen Platz verschaffte, zuvor dominierte auf der Linken die
Kommunistische Partei – sei in Südwestfrankreich begründet worden,
wo eine der Vorläuferparteien ihre Verankerung hatte. Deswegen aber
verkörpere sie den Katholizismus, weil dieser früher in dieser
Region besonders verankert gewesen sei. Und während man ansonsten
glaubte, der Durchbruch der Sozialdemokratie im Südwesten sei ein
Einbruch der Linksparteien in katholische Landstriche gewesen, sei
es historisch in Wirklichkeit umgekehrt: Der Katholizismus habe auf
die Dauer die Linke eingenommen. Dadurch aber erkläre sich – so
Todd, unter ausführlichem Verweis auf François Hollandes katholische
Eltern und Vorfahren – die Versöhnung der Sozialdemokratie mit
sozialer Ungleichheit, aka das politische Paradigma des
Neoliberalismus. Todd taufte sein Konzept dazu in seinem vorigen
Buch den „Zombie-Katholizismus“. Ihn sollen Hollande
und andere wirtschaftsliberale Sozialdemokraten verkörpern.
Ähnlich differenziert rückt er dem „Geist des 11.
Januar“ zuleibe, und generell den Bekundungen von Sympathie für
Charlie Hebdo. Todd tat, was er immer tut: Er nahm Karten
von aktuellen Ereignissen zur Hand und unterlegte sie mit
historischen Graphiken über Familienstrukturen, Erbformen und
konfessionelle Verteilung. Nicht nur Todd, sondern die meisten
Beobachter hatten festgestellt, dass die Mobilisierung im Januar
diese Jahres im Allgemeinen in den Mittelklassen und intellektuell
besser ausgebildeten Schichten stärker ausfiel als in den
Unterklassen, ob mit oder ohne Migrationshintergrund. Dies war nicht
nur kein Geheimnis, sondern nach dem 11. Januar 15 auch vielerorts
zu lesen, und es schlug sich auch geographisch etwa in einer relativ
schwachen Mobilisierung im früheren Bergbaurevier im
nordostfranzösischen Nord-Pas de Calais nieder. Doch Emmanuel Todd
geht wesentlich weiter.
Er behauptet nämlich, die Regionen, die am
meisten für Charlie Hebdo auf die Straße
mobilisiert hätten, seien in Wirklichkeit jene katholisch und
konterrevolutionär geprägten Teile Frankreichs, die sich in den
Jahren nach 1789 mehrheitlich gegen die Revolution gestellt hätten.
Darin liege ein Paradoxon. Dieses wiederum lasse sich nur auflösen,
indem man folgende Wahrheit an sich heranlasse: Hier sei es in
Wirklichkeit gar nicht um Aufklärung, Religionskritik oder
Blasphemie gegangen, sondern um die Freiheit, auf der Religion der
„Anderen“ herumzuhacken. Also auf jener der ohnehin bereits sozial
schlechter gestellten muslimischen Bevölkerung. Von vorgeblich
noblen Absichten also keine Spur.
Nebenbei gesagt, stimmen einige empirische
Grundlagen für die Generalaussage Todds, über die in den vergangenen
Tagen in Frankreich einige Tinte floss, nicht wirklich. So führt er
als Beleg an, dass die Demonstrationen in Lyon – eine Stadt, die
1793 konterrevolutionär war und übrigens später auch eine Hochburg
der Kollaboration, allerdings auch der Résistance – doppelt so stark
gewesen seien wie in Marseille, gemessen an der Einwohnerzahl,
während Marseille die Französische Revolution unterstützt habe. Nur,
die Bemessungsgrundlage ist schief. In Marseille hatte es eine
Spaltung gegeben zwischen dem eher linken Spektrum, das die Manöver
der Staatsführung zugunsten einer Demonstration mit gekrönten und
ungekrönten, demokratischen und undemokratischen Staatsoberhäuptern
in Paris kritisierte, und den bürgerlichen Kräften. Am Samstag und
am Sonntag nach dem Attentat auf Charlie Hebdo (am 10.
Respektive 11.01.15) hatten dort deswegen zwei annähernd gleich
starke Demonstrationen stattgefunden. Addiert man beide zusammen,
kommt man jedoch von der Hälfte, die Todd aufzählt, auf ein Ganzes.
Im Kern durchzieht die Frage, ob Charlie
Hebdo nun eine antiklerikale Zeitung sei oder aber bevorzugt
auf der Religion „der Anderen“ ’rumhacke und also zum Hass auf eine
Minderheit aufstachele, auch die Debatte in den USA. Vor 850 Gästen
und einem vollen Saal wurde der Zeitung dort am Mittwoch, den 06.
Mai 15 im New Yorker Museum für Naturgeschichte ein Preis „für ihren
Mut“ verliehen, den Chefredakteur Gérard Biard entgegennahm, in
Anwesenheit des Charlie-Kinokritikers Jean-Baptiste
Thoret sowie von Dominique Sopo vom Verband SOS Racisme. Zuvor
hatten zunächst sieben Kritiker sich von der Einladung, die das
US-amerikanische PEN-Zentrum ausgesprochen hatte, distanziert.
Schlussendlich erhielten sie bei der Webseite The Intercept
die Unterschriften von über 200 Schriftstellerinnen und
Schriftstellern. Auch große
Namen der US-amerikanischen Literatur wie Joyce Carol Oates, Michael
Ondaatje und Russell Banks kündigten öffentlich an, der Zeremonie
fernzubleiben. Vorgeworfen wird Charlie Hebdo von
ihrer Seite, die Zeitung gebe die muslimische Minderheit in
Frankreich der Lächerlichkeit preis, und stachele dadurch zum Hass
auf.
Eine Kontroverse zu diesem Thema durchzog zuvor
auch die New York Times und anderen Debattenorgane in
den USA. Gary Trudeau, seit 1971 Zeichner der bekannten Serie
Doonesbury, hatte der französischen Zeitung „The Abuse of
Satire“ vorgeworfen, da sie auf einer ohnehin bereits
benachteiligten Minderheit herumhacke. Ihm antwortete Ross Douthat
(ein früherer Ghostwriter für einen gewissen George W. Bush..) im
Mitte-Rechts-Magazin The Atlantic, der das Argument
eines „Machtgefälles“ zu Ungunsten der Muslime nicht gelten lassen
wollte. Er berief sich darauf, Terroristen oder islamistische
Regimes seien selbst Machtstrukturen. Was, für sich genommen, auch
durchaus stimmt. Darunter mischte er allerdings äußert
zweifelhafte Argumente, indem er etwa auch auf „pakistanische
Vergewaltigergangs in britischen Straßen“
verwies und damit bei einer Form gesellschaftlicher Kriminalität
landete, die man nicht als „muslimische Machtstruktur“ bezeichnen
und auch nicht mit solchen in einen Einheitsbrei zusammenrühren
kann.
Ein Buch, das nicht direkt in Zusammenhang mit
der Debatte rund um die Chiffre „11. Januar 15“ steht, gibt der
Kritik scheinbar Nahrung. Es wurde im Allgemeinen auch durch die
Literaturkritiker, meist aus anderen Gründen als der Charlie- oder
Islam-Debatte, in der Luft zerrissen. Es handelt sich um
Malaise dans l’inculture („Unbehagen in der
Kulturlosigkeit“) des in den Karrierismus und Neokonservativismus
abgedrifteten früheren Charlie-Redakteurs Philippe
Val, welcher sich später an Nicolas Sarkozy angenähert hatte. Val
wettert darin unter anderem dutzendfach gegen das, was er unter
angeblicher „Soziologie“ – eines seiner Fetischwörter
– versteht. Val meint damit die Tatsache, dass man alle
Fehlhandlungen eines Individuums entschuldige, indem man sie stets
auf „die Gesellschaft“ schiebe.
„Soziologie“,
laut Philippe Vals Privatdefinition, sowie die „Faszination
für die fremde Kultur“ in Gestalt des Islam seien zwei
Ursachen, ja Hauptursachen für die aktuellen Probleme. Bei Val wird
die Abgrenzung vom Islam tatsächlich zur scheinbaren Obsession. So
moniert er, im vor ein bis zwei Jahren eröffneten „Museum für
Mittelmeerkulturen“ (MUCEM) in Marseille ergreife ihn ein
„Unbehagen“, das ihn deswegen packe, weil dort auch Photographien
von Kopftuch tragenden Frauen – schlichte Abbildungen eines
gesellschaftlichen Jetzt-Zustands in Ländern auf der Südseite des
Mittelmeers – zu sehen seien.
Die Zeitung Charlie Hebdo
repräsentiert Val heute allerdings keineswegs mehr, deren Redaktion
verwahrte sich vielmehr zu Jahresbeginn 2015 gegen die Idee einer
Rückkehr Vals als Chefredakteur. Der prominenteste überlebende
Zeichner der Zeitung, Luz (Renald Luzier), verkündete unterdessen in
einem Interview mit der Kulturzeitschrift Les Inrockuptibles,
er werde in Zukunft nicht ein weiteres Mal den islamischen Propheten
Mohammed zeichnen. Nicht aus inhaltlichen Gründen und auch nicht aus
Sorge um seine Sicherheit, sondern, weil er dessen „müde“
geworden sei: Es sei nichts Neues zum Thema mehr zu sagen. Luz
verwahrte sich scharf gegen eine Aussage von Val von Anfang des
Jahres 2015, der schon damals in den Raum stellte, „die
Terroristen“ hätten geistig bereits „gewonnen“.
Darin sieht Luz wiederum vorauseilenden Defätismus. Vals Aussage war
freilich auch auf das gar schröckliche Szenario gemünzt, dass seine
frühere Zeitung sich erdreisten könnte, ihn nicht zurückhaben zu
wollen...
Editorische Hinweise
Den Artikel erhielten wir vom Autor
für diese Ausgabe.