Donnerwetter, so ein Glück,
sagen Mama und Papa, als sie ihr Mietwohnhaus in
Berlin–Schöneberg unzerstört wiedersehen. Hier hat die Familie
vor der Evakuierung gewohnt. Aber deren Wohnung in der dritten
Etage links ist inzwischen besetzt, die Ziebers dürfen in die
zweite Etage rechts. Aber noch heulen herzzerreißend und
furchterregend die Sirenen. Nacht für Nacht, manchmal auch
tagsüber. Sie müssen im Keller bleiben. Provisorisch sind
Bettgestelle aufgebaut, manchmal liegen nur Matratzen da. Brot
auf Zuteilung, gleich für mehrere Tage. Wenn irgendwo Bomben
heulend und krachend in Häuser schlagen und die Erde bebt,
dröhnt und stöhnt, dann bleibt das Herz stehen vor Angst. Jede
Sekunde kann es auch das eigene Miethaus erwischen, jede Minute
... Papa muß nun doch noch an die Front, zum Volkssturm, wie er
sagt. Nach drei Tagen ist er wieder da. Dort, wo er sich melden
sollte, seien schon die Russen. Wie froh die Kinder sind ...
Henry hört, wie er Mama von Menschen berichtet, die an Laternen
aufgehängt wurden, an ihnen ein Schild mit der Aufschrift: Ich
bin ein Verräter. Es ist alles so schrecklich und gruselig.
Eines Nachts nimmt Papa seinen Größten mit aufs Dach des Hauses.
Der Ängstliche sieht die langen bläulich-weißen Strahlen der
Scheinwerfer, die den Himmel nach Flugzeugen abtasten. Dann
schrillen wieder die Sirenen. Henry schaut tapfer und zitternd.
Papa läßt ihn wieder frei und Mama schimpft unten im Keller.
Nach vielen, vielen Tagen stehen an der Kellertür Soldaten,
später erfährt Henry, es waren Mongolen. Sie wollen irgendetwas.
Man holt Mama, sie sei doch Russin. Die Soldaten wollen nur
etwas Tee, doch zuvor muß sie einen Schluck nehmen. Das ist
selbstverständlich, sagt Mama, sie müssen vorsichtig sein, sind
natürlich mißtrauisch. Es muß der neunte Mai gewesen sein, Henry
streift sich nach dem Aufstehen soeben lange Strümpfe über, da
sagt seine Mutter ganz leise, als würde sie es noch nicht
glauben, den folgenschweren Satz: „Ab heute ist Frieden.“ Sie
drückt ihren Ältesten und hat Tränen in den Augen ...
Elektrischen Strom gibt es vorläufig nicht. Papa stellt ein
Fahrrad in den Flur und auf den Kopf, drückt den Dynamo an die
Reifen, legt Leitungen in die Küche und in die Wohnstube, und
Henry darf die Pedalen schwingen. Die Lämpchen glimmen auf. Die
Kinder sind stolz auf Papas Erfindungsgeist. Und froh und
neugierig machen Henry, Sophia und Axel die Erzählungen von Mama
über ihr Rußland: über die Datsche ihrer Tante, über die Blumen,
über Tanten, über deren Kuchen, über das viele Spielzeug von
Mama, das man auf einem Foto sehen kann. Ihre Heimat darf den
Kindern nun näher kommen, sie wird so vertraut werden, daß die
Kinder sich wünschen, bald nach Moskau zu ziehen, so träumen sie
von einer glücklichen Zukunft, die ihnen die warmherzigen Worte
ihrer Mutter eingibt. Das gräbt sich in Henrys Bewußtsein so
fest ein, daß er in der Schule die Sowjetunion als „schon immer
gut“ verteidigen wird gegen die Behauptung, sie hätte erst
einmal eine Revolution machen müssen, bevor sie ganz prima
wurde.
Bei Ziebers herrscht kurz darauf trotz der Freude über den
Frieden schmerzliche Trauer. Berno, der zweijährige Bruder, hat
Lungenentzündung, und, er schafft es nicht. Unser Bruder! Mama
ist kraftlos auf den Fußboden gesunken im Hausflur und schluchzt
und schluchzt herzzerreißend, die Kinder zittern und heulen.
Damit nicht genug: Arnold, der jüngste, hat Keuchhusten. Er wird
an den Beinen nach oben gehalten, wird mit Fett (Margarine
oder?) eingerieben. Wie durch ein Wunder – er wird gerettet.
Langsam erobern die Kinder der Ziebers wieder die Straße. Aber
vor die Haustüre treten darf nur, wer eine weiße Armbinde trägt.
Henry hat keine, will aber wissen, wie weit er sich hinauswagen
darf. Also schneidet er sich zwei Streifen weißes Papier
zurecht, befestigt sie an beiden Oberarmen. Tür auf und mal
sehen, was da passiert. Er dreht seine Arme aber nach hinten.
Auf der anderen Straßenseite hockt in einer Hausruine ein
Soldat. Henry sieht den Lauf einer Waffe, der sich nach oben
bewegt, direkt auf Henry. Der kriegt Schiß. Da streckt er seine
zwei Arme mit den Binden vor. Der Lauf senkt sich wieder. Der
Junge holt tief Luft, er ist fast stolz auf seine Mutprobe und
daß er die geforderten Binden vorzeigen konnte. Mit paar
Freunden zieht er zur nächsten Straßenecke. Dort war mal eine
Panzersperre. Die sollte den „Feind“ aufhalten. Doch die Kinder
sehen nur einen zerschossenen und niedergewalzten Trümmerhaufen.
Knorke, wie die Russen das gemacht haben, bestätigen sie sich
gegenseitig. In den Ruinen stinkt es. Brandgeruch. An einer
Pumpe holen sich die Leute Wasser. Ein russisches Pferdefuhrwerk
hält, Soldaten verteilen Schwarzbrot. „Chleb“ heißt das Brot,
sagt die Mutter. Sie ist so stolz auf ihre Landsleute, auf ihr
großes Land. Und wieder muß sie davon berichten, von blühenden
Bäumen im Garten ihrer Tante bei Moskau, von einem Bild voller
Schönheit, wo das Edle und Gute zu Hause sind. Die Kinder
glauben fest an ihre Erzählungen, besonders der Henry, der ewige
Träumer. Und so setzt sich fest in seinem Inneren ein Bedürfnis
nach Harmonie, nach Menschlichkeit, Schutzschild und Richtschnur
für Visionen zugleich ...
2010: Harry Popow - „In die
Stille gerettet“. Persönliche Lebensbilder. Engelsdorfer
Verlag, Leipzig, 2010, 308 Seiten, 16 Euro, ISBN
978-3-86268-060-3
2015: Harry Popow: „Platons
Erben in Aufruhr. Rezensionen, Essays, Tagebuch- und
Blognotizen, Briefe“, Verlag: epubli GmbH, Berlin, 316 Seiten,
www.epubli.de , ISBN 978-3-7375-3823-7, Preis: 16,28 Euro)
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