Berlin kapitulierte um drei Uhr
nachmittags. Es ergab sich die ganze Garnison: vom sechzigjährigen
Volkssturmmann bis zum General der Artillerie Weidling.«(1)
So ist der Tag, an dem ein neues
Kapitel in der vielhundertjährigen Geschichte Berlins aufgeschlagen
wurde, dem sowjetischen Schriftsteller und damaligen
Kriegskorrespondenten Lew Slawin in Erinnerung geblieben.
Als der
Kanonendonner endlich verstummt war, stiegen die Berliner aus
Verstecken, Kellern, Bunkern und U-Bahn-Schächten ans Tageslicht -
bleich und hungrig, krank und vom Elend gezeichnet und voller Furcht
vor einer »Vergeltung der Russen«. Die, denen es an Mut und Kraft
gebrach, hatten ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt. Die meisten
Menschen besaßen nur noch das, was sie auf dem Leibe hatten oder in
Koffern und Rucksäcken bei sich trugen. Die wildesten Gerüchte —
Nachwirkungen der Goebbels-Propaganda - kursierten. »In diesem
schockartigen Zustand irrten nun gewaltige Menschenmengen über die
Straßen, die einen auf der Suche nach einer neuen Bleibe, die
andern, um in die von ihnen verlassenen Häuser zurückzukehren. Ihre
Blicke sind erloschen, und keiner kann sagen, was in ihrem Innersten
vorgeht, denn ihr Bewußtsein war so lange von dem fürchterlichen
Gift, einer Mischung von Nationalismus und Militarismus, Demagogie
und Antisemitismus, kurz,
vom Gift des Nationalsozialismus zersetzt.« Diese Beobachtung
notierte der namhafte sowjetische Historiker A. S. Jerussalimski,
der damals als Sonderkorrespondent der sowjetischen Armeezeitung
»Krasnaja Swesda« in Berlin weilte, unter dem 3. Mai 1945 in sein
Tagebuch.(2)
Zur gleichen Stunde zogen in langen Kolonnen deutsche
Kriegsgefangene, physisch und moralisch am Ende, aus der Stadt. Auf
Sammelplätzen erhielten verwundete deutsche Soldaten eine erste
medizinische Hilfe von sowjetischen Sanitätern. Menschen aus den
verschiedensten Ländern Europas, darunter viele Polen und Franzosen,
die die Faschisten zur Zwangsarbeit in die Berliner Rüstungsbetriebe
verschleppt hatten, machten sich singend und ihre Nationalfahnen
schwenkend auf den Weg in ihre befreite Heimat. Die Deutschen
schauten betreten weg.
In den ersten Friedenstagen
strömten zahlreiche sowjetische Armeeangehörige zur Reichstagsruine;
in ihr sahen die Rotarmisten das Symbol des Sieges über den
Faschismus. Auf der breiten Freitreppe und vor der von Kugeln und
Granaten durchlöcherten Fassade fotografierten sie einander. An die
rauchgeschwärzten Mauern und Wände des Sitzungssaales und der
Wandelhallen schrieben sie Namenszüge und Nummern von
Truppeneinheiten mit dem, was sie gerade zur Hand hatten: Kohle,
Bleistift, Kreide, Nägeln, Patronenhülsen. Tausende Inschriften
bedeckten die Wände bis zur Decke. (Als Ende der fünfziger Jahre
die BRD-Regierung beschloß, den Reichstag rechtswidrig zu einer
Filiale des Bundestages auszubauen, drohte diesem einzigartigen
Siegesandenken Gefahr. Unter den Westberliner Bauarbeitern fanden
sich Freunde der Sowjetunion, die Steinplatten mit den
interessantesten Inschriften heraussägten und sie Ende 1963 der
Botschaft der UdSSR in der DDR überreichten. Heute haben diese
Platten einen Ehrenplatz im Moskauer Zentralen Museum der
Streitkräfte der UdSSR.) Überall in der Stadt fanden sich die
Rotarmisten zu Meetings zusammen. Vorm Brandenburger Tor
sprach der Major Jewgeni Dolmatowski, im Zivilleben Lyriker, von
einem T-34 herab eigene Gedichte. Man sang und tanzte zu
Harmonikaklängen und trank auf den Sieg.
In den Gebieten der Hauptstadt,
die bereits seit einigen Tagen befreit waren, ging die
Normalisierung des Lebens weiter voran. Zwischen den sowjetischen
Kommandanten und den deutschen Antifaschisten, die sich zur
Mitarbeit in den Ortsbürgermeistereien und Bezirksämtern bereit
erklärt hatten, entwik-kelte sich eine vertrauensvolle
Zusammenarbeit. Sowjetische Lautsprecherwagen fuhren durch die
Straßen und gaben den Berlinern Befehle und Anordnungen der
sowjetischen Militärbehörden sowie die neuesten Nachrichten
bekannt. Der Historiker Stefan Doernberg, der 1935 in die
Sowjetunion hatte emigrieren müssen und als Internationalist während
des Krieges Politoffizier in der Roten Armee war, erinnerte sich an
solche Einsätze in Schöneweide und Johannisthal: »Außerdem führten
wir auf verschiedenen Plätzen Veranstaltungen durch, bei denen wir
Platten mit deutscher Volksmusik und mit revolutionären Liedern
abspielten. Viele Hunderte Menschen sammelten sich dann vor
unserem Lautsprecherwagen, und manch einer kam auch heran, um noch
persönlich Fragen vorzubringen. Zwar herrschte noch allerorts
Lethargie und Deprimiertheit. Aber das Eis war gebrochen. Die
Menschen schöpften, wenn auch vorsichtig, neue Zuversicht. Vor allem
aber entstanden auch die ersten Keime eines neuen Verhältnisses zur
Sowjetunion.«(3)
Über
Lautsprecherwagen vernahmen die Berliner auch die Rede des
Vorsitzenden der KPD, Wilhelm Pieck, die der Moskauer Rundfunk am
4. Mai 1945 in deutscher Sprache sendete. Sich an die Werktätigen
Berlins wendend, sagte Wilhelm Pieck:
»Berlin ist frei von der
Nazibande, sie wird und muß restlos vernichtet werden. Aber unser
deutsches Volk wird weiterleben. Es gilt jetzt eine gründliche
Reinigung vorzunehmen. Mit seiner schmählichen Vergangenheit muß
Schluß gemacht werden. Es geht um eine Neugeburt unseres Volkes, um
ein Neubeginnen in seinem ganzen Denken und Handeln. Neue Menschen,
ein neues Deutschland müssen entstehen, um in Frieden und
Freundschaft mit den anderen Völkern zu leben und im deutschen Volke
selbst Garantien gegen eine Wiederholung der Aggression von
deutscher Seite zu schaffen.«(4)
Die Kraft, die diese Aufgabe in Angriff nehmen mußte, war die
Arbeiterklasse. Nur sie konnte Antifaschisten und Demokraten zu
einem festen, dauerhaften Bündnis zusammenschließen und ein neues
Deutschland aufbauen. Es waren klassenbewußte Arbeiter, die
unverzüglich in den neuen Verwaltungsorganen, in den Wohngebieten
und Betrieben den Neuaufbau begannen. »Aktivisten der ersten Stunde«
war der ehrenvolle Name, den diese Pioniere des Neubeginns später
erhielten.
Anfang Mai 1945 machten sich
Kommunisten und Sozialdemokraten zu Fuß oder mit dem Fahrrad auf
den beschwerlichen Weg durch die zerstörte Stadt, um die Verbindung
zu ihrer Partei zu suchen. Über das
Geschehen im Arbeiterbezirk Friedrichshain berichtete Heinrich
Stark:
»Zirka achtzig der besten
Sozialisten, Kämpfer unseres Bezirkes, waren in den zwölf Jahren
des Hitlerfaschismus dem Henker zum Opfer gefallen. Und trotz
al-ledem - die Front war erst am Strausberger Platz - sammelten
sich schon wieder die Reste der illegalen Kommunistischen Partei.
Jedem war klar: Es galt zu handeln und zu kämpfen. In wenigen
Tagen und Stunden waren wieder 250 Genossen zusammen. Ein
zentraler Punkt war bald gefunden: der Schreinerhof. Kleine Zettel
an den Brunnen des Bezirks forderten die Genossen auf, sich
schnellstens zu melden ... Die Bevölkerung brauchte Nachrichten.
Uns war klar: Eine Zeitung mußte heraus. Am 1. Mai sollte sie
erscheinen; wie wir es aus der Illegalität kannten, wurden
Papier, Wachsplatten und Abziehapparate beschafft, und am 2. Mai
erschien der >Rote Osten<... An der Spitze
der Arbeiter standen erfahrene Illegale, und so atmete unsere
Zeitung und sonstige Tätigkeit den Geist der Zusammenarbeit aller
antifaschistischen Kräfte und stellte schon damals die
Schicksalsfrage des deutschen Proletariats: >Einheit der
Arbeiterbewegung^ Überall, wohin man sah, waren es Arbeiter, die
zufaßten.«(5)
Nach zwölf Jahren Faschismus mit
all seinen Schrecken feierten klassenbewußte Arbeiter wieder einen
Ersten Mai, den Kampftag der internationalen Arbeiterklasse. Wie am
Lichtenberger Roedeliusplatz, in Wartenberg, Bohnsdorf, Tempelhof
und Neukölln beteiligten sich vielerorts Berliner Arbeiter an den
Maifeiern ihrer sowjetischen Klassengenossen. In Köpenick, in
Wittenau und in der Schreinerstraße im Bezirk Friedrichshain fanden
Versammlungen und Kundgebungen statt. Kleine Umzüge unter roten
Fahnen und mit dem Gesang alter Arbeiterkampflieder gab es in
Blankenburg und am Neuköllner Hermannplatz.
Anmerkungen
1) Lew J.Slawin: Die letzten Tage des
»Dritten Reiches«, Berlin 1948, S. 42 u. 44
2) A.
S.Jerussalimski: Der Zusammenbruch und die Kapitulation. In: Neue
Zeit, Wochenschrift für Weltpolitik (Moskau), 1965, Nr. 19, S. 18.
3) Stefan
Doernberg: Befreiung 1945. Ein Augenzeugenbericht, Berlin 1985,
S.90
4) Wilhelm Pieck:
Reden und Aufsätze. Auswahl aus den Jahren 1908-1950, Bd.I, Berlin
1952, S. 424/425.
5) Heinrich
Stark: Der 1. Mai 1945, Hrg.v. Zentralsekretariat der SED, Berlin
(1947) S.23/24
Editorische
Hinweise
Text wurde
übernommen aus: Gerhard Keiderling Berlin 1945-1986, Geschichte
der Hauptstadt der DDR, Berlin 1987, S. 45-49