Der Bahnhof in Guangzhou. Hunderte von
Menschen sitzen scheinbar untätig davor. Bei genauerem Hinsehen
zeigt sich, dass dieser Bahnhofsplatz seine eigene Mikroökonomie
hat: Auf der einen Seite Schuhputzer, Zeitungsverkäufer, Getränke-
und EsswarenhändlerInnen, Kundenfänger für Hotels, Zuhälter,
Schwarzmarkthändler für Zugtickets, gedacht für all jene, die
sich die Prozedur des Anstehens in der endlosen Schlange vor dem
Ticketschalter ersparen möchten. Sie kommen aus den armen Provinzen
Chinas, aus Hunan, Guizhou, Anhui, Szechuan und anderen Orten
Zentral- und Westchinas, und suchen hier im reichen Südchina ihre
Chance. Während sie auf eine Arbeitsstelle hoffen, steigen die neu
Angekommenen schon mal in den Kleinkapitalismus des Bahnhofplatzes
ein. Auf der anderen Seite sind die potenziellen KundInnen,
ArbeiterInnen, die in den neu erbauten Industrie- und
Dienstleistungsstädten eine saisonale oder befristete Arbeit
gefunden haben. Sie warten auf einen Zug, der sie in dieselben armen
Provinzen zurückbringt, aus denen die HändlerInnen vor dem
Bahnhofsplatz kommen.
Guangzhou ist das Eingangstor zu einer Gegend, von der im
neukapitalistischen China viele träumen. Hinter ihnen liegt eine
Existenz im chinesischen Sozialismus, als Angestellte in einem
Unternehmen in Staatsbesitz oder als Bauern. Vor ihnen liegt eine
Existenz im «Sozialismus unter chinesischen Vorzeichen». Die
Staatsbetriebe zahlen einen durchschnittlichen Lohn zwischen 300 und
800 Renminbi, ungefähr 50 bis 130 Franken, dafür werden die Kosten
für die Wohnung, Heizung, Wasser und Altersrente weitgehend vom
Staat übernommen. Die Existenz ist gesichert, aber der Lohn scheint
vielen perspektivenlos und ohne Entwicklungsmöglichkeiten, sie
bevorzugen ein Leben im rauen Wind des liberalisierten Marktes. Das
beginnt für Zhan Ji auf dem Bahnhofsplatz. Er verkauft Zeitungen
und verdient pro Exemplar sechs Rappen, damit kommt er auf etwa 150
Franken pro Monat. Dafür muss er für sein Zimmer 40 Franken
bezahlen, und er hat auch keine Betriebskantine mehr, wo er billig
oder gratis essen kann. Als erster Schritt in eine andere
wirtschaftliche Zukunft erscheint es ihm dennoch lohnenswert.
Finanziell «lohnt» es sich auch für
die Textilarbeiterinnen, die etwa gleich viel verdienen, dazu freie
Kost und Logis haben. Dafür kann es vorkommen, dass sie 360 Tage
pro Jahr arbeiten. Nur am chinesischen Neujahr, dem höchsten
chinesischen Feiertag, können sie für drei Tage in ihre Heimat
fahren und noch zwei Tage für Hin- und Rückreise anhängen. Sie
sitzen neun oder mehr Stunden pro Tag an ihren Maschinen. Reden ist
verboten. Kein Radio, keine Musik läuft. Sie nähen Kleider, die in
den Läden Japans, Europas oder Nordamerikas über den Verkaufstisch
gehen. Den Feierabend verbringen sie in der Kantine und in den
Schlafsälen. Abwechslung gibt es keine, die Fabriken sind in ein ödes
Niemandsland gebaut, das nächste Gebäude ist eine andere Fabrik.
Eine Vergnügungsstätte würde auch nicht rentieren, denn das Geld
soll ja gespart werden, um die Familie zu Hause zu unterstützen.
Einige entrinnen der feierabendlichen Ödnis, indem sie eine
Zusatzschicht einlegen und noch etwas dazu verdienen.
Schotten dicht
Während die Einzelnen noch zwischen alter und neuer
Existenzform wählen können, ist diese Frage für die Makroökonomie
Chinas entschieden. Seit der letzten Jahrestagung des Nationalen
Volkskongresses im März steht die Anerkennung der Privatwirtschaft
und die Verewigung der Theorie von Deng Xiaoping, das heisst die
privatwirtschaftliche Öffnung, auch in der Verfassung. Nur der
letzte Schritt steht noch aus, der Beitritt Chinas zur World Trade
Organisation WTO. An diesem Schritt wird seit dreizehn Jahren
gebastelt, mal sind die Verhandlungen in einer heissen Phase, dann
stagnieren sie wieder. Der Besuch des Premiers Zhu Rongji im April
in den USA hätte den krönenden Abschluss bilden sollen. Es hat
nicht gereicht. Obwohl Rongji grosszügige Konzessionen an die
US-amerikanischen Partner machte, Zollsenkungen und eine Öffnung
des Telekommunikations- und Bankensektors akzeptierte, verletzten
die US-Diplomaten alle diplomatischen Gepflogenheiten, als sie seine
Verhandlungsangebote veröffentlichten, ohne ihm den Erfolg eines
Beitritts zu gönnen. Nach dem Beschuss der chinesischen Botschaft
in Belgrad während des Kriegs gegen Jugoslawien war das Thema für
einige Monate vom Tisch. Jetzt wird am Rande von Treffen zwischen
der USA oder der EU und China wieder darüber gesprochen.
Weshalb will sich China der weltweiten
Diktatur des Marktes unterwerfen? Auch ohne WTO liberalisiert China den
Aussenhandel. Die wichtigere und einschneidende Reform der
Staatsbetriebe ist zudem bei weitem noch nicht erledigt. Aber Zhu Rongji
möchte die von ihm vorangetriebenen wirtschaftlichen Reformen gleichsam
versiegeln. Er möchte sicherstellen, dass sie bei anderem politischem
Wind nicht so leicht wieder gekippt werden können. Zudem hat die
chinesische Regierung begründete Angst, dass der seit 1993 anhaltende
wirtschaftliche Boom Chinas, der vor allem auf Export und ausländische
Investitionen in China gestützt war, ausläuft. Bis zum vergangenen
Jahr stammten achtzig Prozent der ausländischen Investitionen in China
von anderen asiatischen Staaten. Mehr europäische und nordamerikanische
Investoren, welche den Ausfall durch die Asienkrise kompensieren sollen,
lassen sich dagegen nur anlocken, wenn das «Investitionsklima
verbessert» wird, das heisst unter anderem Gebühren abgebaut und
transparentere administrative Entscheidungsprozesse eingeführt werden.
Die billigen Arbeitskräfte reichen auf die Dauer nicht aus, um ausländische
Investoren anzulocken. Ein WTO-Beitritt würde dem internationalen
Kapital garantieren, dass sich China den internationalen Regeln
unterwirft.
Der Beitritt zur WTO würde zudem einen fünfzigjährigen Zyklus von
Abschottung und Öffnung symbolisch effektvoll beenden. Er käme der
weltweiten Anerkennung gleich, dass China seine Wirtschaft in eine
Marktwirtschaft umgebaut hat und im Kreis der wirtschaftlich
Erfolgreichen als gleichberechtigt anerkannt wird. China möchte neben
den USA zur zweiten Supermacht werden, und dazu gehört selbstverständlich
die Mitgliedschaft in allen wichtigen internationalen Organisationen.
Auch innerhalb Chinas bleiben Zhu Rongjis Pläne – er hat den
WTO-Beitritt zu einem seiner wichtigsten Regierungsziele gemacht –
nicht ohne Widerspruch. Gewisse Konzessionen gegenüber den
amerikanischen Verhandlungspartnern musste er unter dem Druck seiner
Regierungskollegen wieder zurücknehmen und die Verantwortung für das
WTO-Dossier wurde Zhu Rongji weggenommen. Der grundsätzliche Widerstand
gegen einen WTO-Beitritt kommt von Regierungsbürokraten, Managern von
Banken und von grossen Staatsfirmen – sie alle fürchten um
Beschneidung ihrer bisher staatlich gesicherten Pfründen und
Positionen, wenn die Wirtschaft nicht mehr vom Staat kontrolliert wird.
Zunehmend äussert sich auch der Unmut unter Bauern und ArbeiterInnen.
Bauern fürchten, dass ihnen billige Importe (etwa von Weizen, Früchten,
Fleisch und Geflügel aus den USA) die Existenzgrundlagen zerstören.
ArbeiterInnen drohen Massenentlassungen, und weitere Schliessungen der
grossen staatlichen Wirtschaftskonglomerate stünden bevor, wenn der
chinesische Markt von Waren aus der ganzen Welt überschwemmt würde.
Wirtschaftsanalysten und Gewerkschaftsaktivisten sind sich einig, dass
sich die Arbeitslosenrate durch einen WTO-Beitritt verdoppeln könnte.
Kaum Alternativen
Han Dongfang, nach Hongkong exilierter Dissident der
Tiananmen-Proteste und Aktivist für unabhängige Gewerkschaften, sieht
die grundlegende Fragwürdigkeit der WTO sehr wohl: «Die WTO ist eine
pure Organisation der Wirtschaft und übernimmt als solche keinerlei
soziale Verantwortung. Zudem sollte die chinesische Regierung vor einem
allfälligen Beitritt dringend ein System sozialer Sicherheit schaffen.
Überhaupt, China täte besser daran, statt über WTO über soziale
Sicherheit zu reden.» Aber auch er sieht keine Alternative zu einer ökonomischen
Liberalisierung, wie sie ein WTO-Beitritt erfordert, und steht somit
einem solchen Beitritt nicht nur negativ gegenüber: «Die WTO ist wie
Wasser von einem Fluss. Es kann Felder bewässern und Menschen ernähren
aber es kann auch zu einem tödlichen Strom werden. China braucht eine
Kraft von aussen, um die verkrusteten Strukturen aufzubrechen. Die Frage
bleibt nur, ob China wirklich bereit dazu ist.»
Gegen die verkrusteten Strukturen, die keine unabhängigen
Gewerkschaften erlauben, die die Basis für (auch ökologisch)
ineffizientes Wirtschaften und Korruption bilden, kämpft Han Dongfang
an. Es geht längst nicht mehr um die Frage, ob Kapitalismus und
Marktwirtschaft eingeführt werden sollen oder nicht, sondern nur noch,
ob dies eingebettet sein soll in ein Regelsystem nach internationalen
Normen oder in ein abgeschottetes Regelsystem einer Staatspartei. Han
Dongfang sieht wie viele andere KritikerInnen des gegenwärtigen Regimes
keine politische Kraft, welche die Strukturen von innen her verändern könnte.
Ein WTO-Beitritt könnte innenpolitisch tief greifende Folgen haben, die
zwar zwiespältig sind, aber möglicherweise doch befreiend wirken könnten:
Noch immer ist jedeR ArbeiterIn eines Staatsbetriebs in China auch
Mitglied einer Work Unit, einer so genannten Dan Wei. Diese Dan Wei,
genau genommen ihr Vorsteher, meist ein Parteisekretär, entscheidet darüber,
wer wo wohnt, wer wie reist, welche Erziehung wessen Kinder erhalten
oder sogar ob und wann jemand heiratet. Dieses System ermöglicht eine
weit reichende Kontrolle der Bevölkerung in allen Lebenslagen.
Angestellte nichtstaatlicher Unternehmen entgehen diesem Kontrollsystem,
sie gehören keiner Dan Wei mehr an. Diese Entmachtung der alten Dan Wei
würde durch einen WTO-Beitritt noch beschleunigt. Mehr ChinesInnen als
bisher würden im Rahmen von nichtstaatlichen Einheiten arbeiten und könnten
entsprechend frei über weite Teile ihres Privatlebens entscheiden.
Umgekehrt allerdings entbindet eine Auflösung der Dan Wei den Staat
auch von seiner sozialen Verantwortung – eine zwiespältige Befreiung
deshalb. Die Regierung bemüht sich derzeit nur um einen Ersatz für die
Überwachung durch die Arbeitseinheiten. Die Vermutung liegt nahe, dass
die in den letzten Monaten verstärkte Repression gegen Dissidenten die
im Arbeits- und Zivilleben abnehmende Kontrolle ausgleicht. Denn die
Angst ist gross, dass sich der bisher isolierte Dissens mit dem Unmut
der randständig gemachten Bauern und ArbeiterInnen verbindet.
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