Revolutionäre Monokulturen
„Lasst hundert Blumen blühen!“

von Martin Gohlke

11/2018

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Ob die Jugendlichen, die Anfang Februar 2015 eine maoistische Organisation namens „Jugendwiderstand Berlin“ gegründet haben, diesen Satz von Mao Zedong kennen? Das wäre gut, denn es würde den auf ihrer Homepage konstatierten „Tatendrang und proletarischen Optimismus“, von dem sich der Jugendverband zur Zeit beseelt sieht, vor Dogmatismus im gewünschten Linienkampf schützen. Denn Maos Satz steht für Vielfalt. Eigentlich.

Die großen technologischen Ziele der chinesischen Landreform 1955 konnten nur erreicht werden, indem die Kluft zwischen der Kommunistischen Partei und der wissenschaftlichen Intelligenz überwunden wurde. 1956 rief Mao in einer vierstündigen Rede „Über die richtige Behandlung von Widersprüchen im Volk“ – die wohl alsbald zur Grundschulungsliteratur im Berliner Jugendwiderstand gehören wird – zu offener Kritik auf. Mao war sich bewusst, dass die Techniker und Wissenschaftler ihre Produktivkraft nur dann entfalten würden, wenn er ihnen geistigen Spielraum zugesteht. In der KP stieß er damit auf offene Ohren, denn der Öffnungskurs der KPdSU nach dem XX. Parteitag hatte sich auch in China rumgesprochen. Maos Metapher „Lasst hundert Blumen blühen, lasst hundert (Denk)schulen miteinander wetteifern“ war vielversprechend. Nach zögerlichem Beginn entwickelte sich die Kampagne zu einer Massenbewegung, die sich auch inhaltlich verselbstständigte und alsbald das Machtmonopol der KP in Frage stellte. Dabei polemisierte man gegen die Arroganz der bürokratischen Parteifunktionäre und hinterfragte die Übernahme des sowjetischen Modells. Sogar den Ruf nach einer Absetzung von Mao Zedong soll es gegeben haben.

Das war zu viel für Mao, so hatte er das nicht gemeint. Verschiedene Historiker vertreten die
Auffassung, dass Mao die Blumenkampagne nur initiiert hatte, um Kritiker ausfindig und mundtot zu machen; eine These, die sich jedoch auf keine schwergewichtigen Quellen stützen kann. Tatsache ist, dass die Kampagne nach nur fünf Wochen im Juni 1957 von Mao abrupt abgebrochen wurde. Einige Geschichtsschreiber machen es sich nun bequem und begründen die folgenden katastrophalen chinesischen Entwicklungen mit angeblichen Charakterdefiziten Maos. Was auch immer Maos Antriebe gewesen waren und wie wirkungsmächtig seine Person eingeschätzt werden mag, die kommenden Jahre widersprachen dem Geist der Hundert-Blumen-Kampagne diametral: In einer neuen Kampagne gegen die „Rechtsabweichler“ wurden Hunderttausende aus ihrem Beruf vertrieben; erst 1978 kam es zu ihrer Rehabilitierung. Allein in Maos Heimatprovinz Hunan sollen 100.000 Schriftsteller, Künstler und Akademiker angeprangert worden sein, 10.000 in Umerziehungslager interniert und 1.000 zu Tode gekommen sein.

Es ist auffällig, dass in der Hundert-Blumen-Kampagne die Bauern und die kaum vorhandene
Arbeiterschaft eine Nebenrolle gespielt hatten. Sie hätten durchaus die Möglichkeit gehabt, sich zu Wort zu melden. Ihre Abstinenz kann mit den Fesseln des Konfuzianismus erklärt werden, der eine Sklavenmentalität hinterlassen hatte, worunter der autoritär vermittelte Führungsanspruch der KP nicht als eine bedrohliche Freiheitsbeschränkung empfunden wurde. Zum eigentlichen Subjekt des Geschehens wurden die Bauern jedoch in der 1958 bis 1961 andauernden Kampagne „Großer Sprung nach vorn“.

Diese Kampagne steht im westlichen Geschichtsbewusstsein als Musterbeispiel für totalitäre
Herrschaft; oft ist diese Titulierung dem ideologischen Interesse unterworfen, die Verwerfungen im Kapitalismus zu relativieren. Aber deswegen muss die Interpretation ja nicht falsch sein: Eine 2008 herausgegebene, weithin anerkannte Studie eines Forschers der KP Chinas schätzt die Zahl der Toten, die der große Sprung gekostet hat, auf 36 Millionen. Eine andere, nicht weniger anerkannte Untersuchung kommt auf 45 Millionen Tote. Die Zahl ist unvorstellbar und lässt den Beobachter mit einem Blick auf eine Grafik von Wikipedia zur Bevölkerungsentwicklung zweifeln, denn dort ist für die Jahre des großen Sprungs nur eine leichte Delle zu erkennen. Für 1960 und 1961 ist ein Bevölkerungsrückgang von gut einem halben bzw. einem knappen Prozent ausgewiesen, was bei einer Gesamtbevölkerung von über 600 Millionen in absoluten Zahlen zwar erheblich, aber weit unter den 2008 erforschten Ziffern liegt.

Aber auch wenn bezüglich der Zahlen noch Klärungsbedarf bestehen sollte, so stellte der „Große Sprung nach vorn“ unzweifelhaft eine Katastrophe dar. Mao wollte das bäuerliche Riesenreich mit aller Gewalt industrialisieren. Innerhalb von 15 Jahren sollte Großbritannien überholt werden. „Drei Jahre harte Arbeit und Entbehrungen, dann tausend Jahre Wohlstand“, propagierte die Partei. Es gab keine sinnvolle Planung, alles geschah auf einmal: Vorbereitung und Bau der Staudamm- und Bewässerungsprojekte waren kaum zu unterscheiden. Viele Bauten, die abgeschlossen werden konnten, gingen schnell wieder zu Bruch. In Erwartung der Kollektivierung der Landwirtschaft schlachteten viele Bauern ihre Tiere, infolgedessen kollabierte der Viehbestand. Die Reissetzlinge wurden in zehnfacher Dichte angebracht, worauf die Saat erstickte und die Ernte Richtung Null tendierte. In den Dörfern wurden öffentliche und private Gebäude abgerissen, um mit dem Tierdung aus den Lehmziegelwänden die Felder zu düngen. In den Städten wurden Renommierprojekte hochgezogen, die selten fertig gestellt wurden, manchmal reichte es gerade für die Grundsteinlegung. Um die Stahlproduktion anzutreiben, sollte jede Volkskommune eigene Hochöfen errichten – das waren äußerst primitive Bauten, für deren Befeuerung allein in einer kleinen chinesischen Region mehr als 140.000 Tonnen landwirtschaftliche Geräte zerstört wurden. Oft war
der erzeugte Stahl von miserabler Qualität; zuweilen konnte nur ein Drittel der Produktion für die Weiterverarbeitung verwertet werden.

Die Hungersnot begann bereits 1958. Die Leute streiften übers Land auf der Suche nach Essbarem. In vielen Fällen meldeten die Kader die mageren Ernten nicht nach oben, da sie Repressalien befürchteten. Manchmal wehrten sich die Bauern, das Militär machte kurzen Prozess; insgesamt sollen in der Zeit des Großen Sprungs über zwei Millionen Menschen direkt ermordet worden sein. Bei den hungernden und verzweifelten Massen schwand die Arbeitskraft und Disziplin. Die Abwärtsspirale war im vollem Gang, Naturkatastrophen verschärften die Entwicklung. Der ganze Irrsinn dauerte drei Jahre, erst dann wurden die Vorgaben des Großen Sprungs offiziell zurückgenommen.

Staatspräsident Liu Shaoqui zeigte sich bei Besuchen auf dem Land schockiert und gestand freimütig: „Das Zentrum ist der Hauptschuldige, wir Führer sind verantwortlich.“ Er und andere halfen Mao, das Gesicht zu wahren, und übernahmen die Verantwortung. Mao selbst soll beleidigt gewesen sein, anscheinend fühlte er seine Instruktionen nicht richtig verstanden und nicht richtig umgesetzt. Von Kampagnen hatte er aber noch nicht genug. 1966 hetzte er die Menschen in der Kulturrevolution gegeneinander auf.

Würden die Berliner Jugendlichen, die gerade ihre maoistische Jugendorganisation gegründet haben, diese Darlegung teilen? Das ist natürlich eine rhetorische Frage, denn dann wären sie längste Zeit Maoisten gewesen. Sie werden ihren eigenen Blick auf die historischen Gegebenheiten pflegen, dabei werden ihnen Begriffe wie Notwendigkeit, Übertreibung und bedauernswerte Fehler schnell über die Lippen kommen. Möglicherweise haben sie über die Blumenbewegung und den „Großen Sprung nach vorn“ noch gar nicht so viel gehört, ganz im Gegensatz zur Kulturrevolution, die sie ohne jede Mühe enthusiastisch zu verteidigen werden wissen. Ist damit ihre scheinbar radikale Auflehnung gegen das falsche Ganze entwertet? Ein Blick auf das Bild von ihrem Gründungskongress (zu besichtigen auf der unten angegebenen Homepage) mag bei der Antwort helfen...

Literatur:

Jugendwiderstand Berlin, Februar 2015: http://jugendwiderstand.blogspot.de/2015/02/grundungserklarung-des-jugendwiderstand.html

Mao Zedong, Über die richtige Behandlung der Widersprüche im Volk, Peking 1971.
„Lang lebe das Volk!“ 60. Jahrestag der Gründung der VR China, in: DIE ZEIT, 01. Oktober 2009, http://www.zeit.de/2009/41/Mao

Maos blutige Ernte, in: DIE ZEIT, 24. April 2012. http://www.zeit.de/2012/17/Riesenreich-China

Hundert-Blumen-Bewegung, in: Wikipedia. Abgerufen am 17.02.2015.

Großer Sprung nach vorn, in: Wikipedia. Abgerufen am 17.02.2015.

VR China, 4.4.: Tabelle zur Bevölkerungsentwicklung der VR China, in: Wikipedia. Abgerufen am 17.02.2015.

Editorische Hinweise

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe. Obgleich er sich auf die Gründungsphase der Gruppe "Jugendwiderstand" bezieht, wirft er grundsätzliche Fragen nach Inhalt und Bedeutung des "Maoismus" als politisches Konzept für den Klassenkampf in den Metropolen auf, die nicht nur an den "Jugendwiderstand" zu richten wären, sondern auch an die anderen Gruppen und Projekte, die in der BRD ein Comeback des "Maoismus" vorantreiben.

Ich denke, es wäre ratsam zwischen "Maoismus" und "Mao-Tsetung-Ideen" zu unterscheiden. Der "Maoismus" - besonders in seiner politischen Auslegung als  allgemeine Theorie des Klassenkampfes - entwickelt in Perus Bergen (Gonzales) - ist als strategische Orientierung für den Klassenkampf in den imperialistischen Metropolen völlig "neben der Kappe". Die "Mao-Tsetung-Ideen" hingegen können auf dem Gebiet des dialektischen Materialismus heute noch als Weiterentwicklung gelesen werden, wenn sie nicht dogmatisch verkürzt und von Maos Untersuchungsbegriff abgetrennt werden.  kamue