Von dem deutschen Maler Max Liebermann
(1871-1935) stammt das berühmte Zitat, das sich zu seiner
Zeit auf den Aufstieg der Nazibewegung bezog: „Ich kann
gar nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte.“
Auch wenn die Situation
anders gelagert ist, möchte man das Zitat gerne auf die
Pariser Attentate vom Abend des Freitag, 13. November 2015
sowie auf ihre erwarteten und erwartbaren Auswirkungen
beziehen. Zunächst einmal natürlich wegen der Opfer: 132
Tote waren (nach dem Ableben von drei zunächst
Schwerverletzten) am Montag früh zu verzeichnen, und 350
Verletzte. Es hätte, betrachtet man die angegriffenen
Örtlichkeiten – vom Fußballstadion
bis zum Restaurant und Café – buchstäblich fast jede und
jeden treffen können.
So war es auch gemeint.
Ein Bekennerschreiben des so genannten ,Islamischen Staats’
(IS), das am Sonnabend publik wurde, enthält eine doppelte
Dimension. Einerseits werden die angegriffenen Gaststätten
und Amüsier-Örtlichkeiten als Sündenpfuhl und Orte der
Verderbnis für die Jugend beschrieben. Zum Anderen wird
behauptet, es handele sich um Racheakte für Frankreichs
militärisches Eingreifen in Syrien. Seit dem 27. September
2015 bombardierte Frankreich erstmals Stellungen des IS
auch in Syrien; bis dahin hatte Frankreich zwar an der 2014
gegründeten internationalen Anti-IS-Koalition teilgenommen,
jedoch nur im Iraq Luftangriffe geflogen (weil die
iraqischen/irakischen Behörden solche anforderten, während
das syrische Regime sich gegen die Anwesenheit westlicher
Truppen in seinem Luftraum aussprach – dagegen seit dem 30.
September 15 selbst russische Luftangriffe anforderte). In
der Nacht vom Sonntag zum Montag flog Frankreich nun
verstärkte Luftangriffe auf die Provinzhauptstadt Raqqa in
Nordost-Syrien, die vom IS kontrolliert wird – aber auch
eine Zivilbevölkerung zählt... Es ist damit zu rechnen,
dass die aktuelle Situation zu einer verstärkten Annäherung
des offiziellen Frankreich an das Folterregime Bascher
Al-Assads führen wird, wie es etwa der konservative Ex-Außenminister
(und frühre Premierminister) Alain Juppé am Wochenende
forderte.
Die üblichen
Verschwörungstheorien – auch wenn sie bei jedem Mal noch
übler werden – müssen natürlich auch wieder dabei sein.
Manche Irren und geistig Verwirrten mögen sich am Datum
(13. September) aufhalten, andere hängen sich daran auf,
dass der angegriffene Konzertsaal Le Bataclan (dort, wo es
die meisten Toten gab) „ausgerechnet“ am 11. September 15
verkauft worden sei. Am übelstens ist klar die
Verschwörungstheorie, die seit Montag früh auf
Mailinglisten kursiert und durch das Netzwerk Egalité &
réconciliation (E&R, ungefähr „Gleichheit und Aussöhnung“,
gemeint ist die nationale Versöhnung) des
Berufs-Antisemiten Alain Soral in die Welt gesetzt wurde.
Demnach wurde „die jüdische Gemeinschaft vor den Attentaten
vorgewarnt“. Die Behauptung bezieht sich auf ein Interview,
das der rechtszionistische Aktivist Jonathan-Simon Sellem –
politisch eher ein übler Zeitgenosse – am Freitag, einige
Stunden vor den Attentaten, in englischer Sprache gegeben
hatte. Darin spricht er von Vorwarnungen an die
französischen Juden vor Attentaten, die es für den
laufenden Tag gegeben habe, an welchem er selbst dennoch
ins Flugzeug gestiegen sei. Die Aussage, dass es solche
Warnungen gegeben hat, ist plausibel und unterfüttert
zugleich keinerlei Verschwörungstheorie. Dass etwas in der
Luft lag, darüber waren die Ermittlungsbehörden aller
Wahrscheinlichkeit nach informiert. Am Freitag Nachmittag,
wenige Stunden vor den Terrorattacken, musste etwa die
deutsche Fußballnationalmannschaft
ihr Hotel in Paris aufgrund eines Bombenalarms räumen, und
am selben Nachmittag wurde der Lyoner Bahnhof (in Paris)
wiederum wegen eines Bombenalarms evakuiert. Allgemeine
Informationen über bevorstehende Terrorangriffe dürften
sich also wohl im Besitz der Behörden befunden haben. Nur
waren sie nicht in der Lage, dies zu verhindern. Auch dies
ist weder ein Wunder noch ein Geheimnis: Selbst ein
diktatorischer Staat wie NS-Deutschland konnte bekanntlich
Attentate auf seinen „Führer“ nicht in Gänze verhindern. Es
gibt einfach keine Möglichkeit zur lückenlosen Verhinderung
solcher Angriffe, sofern nicht detallierte Angaben zu Ort
und Zeitpunkt eines geplanten Verbrechens vorliegen. Die
Jihadisten, die am vergangenen Freitag mordeten, gingen
jedoch einfach nach dem Trial-and-Error-Prinzip vor;
schossen aus fahrenden Autos auf Ziele, die wohl nicht
vorher genau definiert worden waren (Terrassen von Cafés
und Restaurants), und einer von ihnen versuchte vergeblich,
Einlass ins Fußball-Nationalstadion
zu bekommen. Was ihm nicht gelang, woraufhin mehrere
Selbstmordattentäter sich auf einem Trottoir vor einem Café
in Hörweite des Stadions in die Luft jagten.
Alle politischen und gesellschaftlichen
Folgen sind noch nicht absehbar.
Die erste Reaktion der
Gesellschaft war ein Schock, der die Leute 24 Stunden lang
zu Hause bleiben ließ. Am Freitag
Abend selbst hatte die Pariser Polizeipräfektur zunächst
die Menschen dazu aufgefordert, „außer
bei dringlicher Notwendigkeit“ dort zu bleiben, wo sie sich
gerade befanden. Zu dem Zeitpunkt waren mehrere der Täter
mutmaßlich noch im Pariser
Stadtgebiet flüchtig: am Wochenende wurde dann ein
Fluchtauto, mit drei Kalschnikows im Kofferraum, in der
Pariser Vorstadt Montreuil aufgefunden.
Im Laufe des Samstag
waren Teile des Pariser Zentrums, insbesondere das 10. und
das 11. Arrondissement, erstaunlich menschenleer. Auch die
Métrozüge waren für einen Samstag Abend bemerkenswert und
ungewohnt leer. In der Nähe des Konzertsaals Le Bataclan,
wo der mörderischste unter den Angriffen stattgefunden
hatte, drängten sich Dutzende von Kamerateams mit
Übertragungswagen (niederländische, belgische,
deutsche...), während die Örtlichkeiten weiträumig
abgesperrt waren und ansonsten kaum Menschen auf der Straße
waren. Auch die Straßenterrassen
waren weitgehend leer, und an den (milden) Temperaturen lag
es nicht. Doch im Laufe des Sonntag waren die Menschen
wieder auf der Straße. An
Spontankundgebungen auf der Place de la République, bei den
angegriffenen Gaststätten im 11. Pariser Bezirk und
anderswo nahmen Tausende Menschen teil. Auf der Place de la
République kam es am Sonntag Abend kurzzeitig zu einer
Massenpanik, weil irgendwelche Schlaumeier glaubten,
Sylvesterkracher anzünden zu müssen (ihr Geräusch klingt
ähnlich wie Schüsse aus der Ferne).
Inhaltlich waren diese Aktivitäten von viel
Emotion und Solidarität geprägt, jedoch politisch eher
hilflos. Das Pariser Stadtwappen (ein auf den Wellen
treibendes Schiff) und der dazu gehörige Wahlspruch
„Fluctuat nec mergitur“ – also in Latein: „Es treibt, doch
geht nicht unter“ – wurden ebenso für den Versuch, eine
kollektive Solidarität zu begründen und zu symbolisieren,
herangezogen wie der Hashtag #PrayForParis. Die meisten
Menschen gaben ihrer Trauer oder Solidarität jedoch eher
individuellen Ausdruck, mit Kerzen, Blumen, Gedichten...
Ausnahmezustand & Klimakonferenz
Diese Spontankundgebungen
für Trauer und Gedenken konnten ansonsten ungehindert
stattfinden, auch wenn aufgrund des seit Samstag Null Uhr
verhängtn Nostands theoretisch ein allgemeines
Versammlungsverbot unter freiem Himmel herrscht. Für andere
Arten von Kundgebungen oder Demonstrationen wird dies
sicherlich nicht gelten. Gar zu gelegen dürfte es der
Regierung kommen, dass dadurch auch ein Großteil
der zwischen dem 28./29. November und dem 12. Dezember
geplanten Protestaktivitäten „von unten“ rund um den
Klimagipfel COP21 zwangsweise ausfallen dürften. Schon VOR
den Pariser Attentaten hatte die Regierung eine
Wiedereinführung von Grenzkontrollen und Grenzschließungen
angekündigt – am Freitag früh, wenige Stunden vor den
Attentaten, wurde die Zahl von 30.000 dafür an den Grenzen
mobilisierten Polizisten bekannt gegeben – und hatte
zahlreichen Aktivist/inn/en aus dem globalen Süden bereits
in den letzten Wochen Visa verweigert. Es war allgemein
erwartet worden, dass Zehntausende an Demonstrationen,
einem Gegengipfel und anderen Aktivitäten (wie Debatten),
eine kleinere Zahl wohl auch militanten Aktiönchen
teilnehmen dürften. Dies Alles ist nun bedroht. Nachdem am
Wochenende zunächst über einen Ausfall der internationalen
Klimakonferenz spekuliert worden war, kündigte
Premierminister Manuel Valls am Montag Vormittag an, diese
würde abgehalten, doch „in abgespecktem Format“. Nur die
Verhandlungen unter den Staatschefs sollen demnach
stattfinden, nicht die zahlreichen „Begleitaktivitäten“,
unter dem (bis dahin laut offizieller Planung in den Gipfel
integrierten) Foren mit NGOs und zivilgesellschaftlicher
Beteiligung. Wie praktisch für die Regierung, wenn
solcherart öffentlich geäußerte
Kritik ausbleibt, und die Staatschef unter sich bleiben,
wenn sie faktisch über die Zukunft unseres Planeten (oder
jedenfalls einige wichtige Aspekte von deren Ausgestaltung)
entscheiden...
Die Verhängung des
Notstands basiert auf einem Gesetz vom 03. April 1955, das
also während des Algerienkriegs verabschiedet worden war.
Es sollte damals sowohl erlauben, die „Heimatfront“ im
Kolonialkrieg zu stabilisieren, also auch in den
darauffolgenden Jahren Rechtsputsche aus dem Militär (von
dem Teile gegen den schließlich
beschlossenen Rückzug aus Algerien meuterten) abwehren
helfen. In jüngerer Vergangenheit wurde von den
Notstandsgesetzen 1984 in der französischen de facto
Noch-Kolonie Neukaledonien im Westpazifik, und im November
2005 anlässlich der Revolten in einigen französischen
Trabantenstädten (banlieues) in Kraft gesetzt.
Nun wird, erstmals seit Jahrzehnten, wieder
auf dem gesamten Staatsgebiet oder beinahe (europäisches
Festlandfrankreich plus Korsika, also ohne die
Überseegebiete) wieder von dem Notstandsgesetz Gebrauch
gemacht. Auf seiner Grundlage kann der Notstand durch
Beschluss der Exekutive für eine Periode von bis zu zwölf
Tagen verhängt werden, ab dem Ablauf der zwölftätigen Dauer
ist eine gesetzliche Basis durch Verabschiedung eines
speziellen Sondergesetzes erforderlich.
Am Sonntag Abend wurde
bekannt, dass Präsident François Hollande vom Notstand
gleich für drei Monate Gebrauch machen möchte. Darüber
werden die Parlamentarier/innen beider Kammern
(Nationalversammlung und Senat) zu befinden haben, die an
diesem Montag zum „Kongress“ – ungefähr vergleichbar mit
einer deutschen Bundesversammlung aus Bundestag und
Bundesrat; „Kongresse“ werden normalerweise fûr
verfassungsändernde Beschlüsse einberufen - in Versailles
einberufen wurden. Es ist aber wohl nicht damit zu rechnen,
dass sie in konträrem Sinne entscheiden werden. Im Herbst
2005 war der Notstand für einige spezielle Zonen in de
Banlieues ab dem 08. November jenes Jahres für die Dauer
von drei Monaten verhängt, doch am 05. Januar 2006 wieder
außer Kraft gesetzt worden.
Die Notstandsgesetzgebung
(also das Gesetz zum ,état d’urgence’, das noch eine Stufe
unter dem Staatsnotstand/Belagerungszustand oder ,état de
siège’ liegt, welch Letzterer die Verhängung von
Kriegsrecht beinhalten kann) erlaubt es der Regierung, auf
einen Katalog von einem Dutzend Vollmachten
zurückzugreifen. Dazu gehört das Verbot von Versammlungen
unter freiem Himmel, die Verhängung von Ausgangssperren in
bestimmten Zonen und/oder zu bestimmten Zeiten, oder die
Schließung von kulturellen und
anderen Veranstaltungsräumen. Nicht Gebrauch macht die
Regierung hingegen derzeit (auch nicht 2005) von einem
anderen Passus, welcher die Einfuhr einer Pressezensur
erlauben würde – in den Zeiten von Internet wäre sie
allerdings möglicherweise schwerer durchzuführen als 1955
oder 1984.
Ebenfalls möglich ist auf
Grundlage des Gesetzes von 1955 die Internierung von
Personen, die mutmaßliche
Gefährder „für die öffentliche Sicherheit“ darstellen –
auch ohne vorherige strafrechtliche Verurteilung. Die
konservative Rechte fordert nun die vorübergehende
Internierung von 4.000 „Jihad-Sympathisanten“, die in
Dateien mit den Namen „radikalisierter“ Personen
eingespeichert sind (am Montag früh präzisierte Sarkozy, er
verlange eher Hausarrest und den Einsatz von elektronischen
Armbändern/elektronischen Fußfesseln
für diesen Personenkreis). Premierminister Manuel Valls
erklärte, die Forderung „zu prüfen“.
„Natürlich“
ist ebenfalls damit zu rechnen, dass Rassismus und
Abwehrwünsche gegen Migranten und Geflüchtete ebenfalls
durch die aktuelle Debatte befeuert werden. Nahrung erhält
sie sicherlich auch durch das Gerücht, wonach der syrische
Reisepass eines der Attentäter in der Nähe des Fußballnationalstadions
aufgefunden worden sei. Die britische Presse und Experten
erklärten ihn im Laufe des Wochenendes zu einer möglichen
Fälschung. Dies ist derzeit noch unklar, fest dürfte
hingegen stehen, dass der so genannte Islamische Staat den
Pass (ob echt oder unecht) aus absichtlicher Provokation
dort hinterlegt haben könnte. Anfang September 2015 hatte
der IS versucht, im Zuge der aktuellen Migrationswelle den
Menschen aus Syrien die Flucht nach Europa zu untersagen –
eine solche Auswanderung in einen nicht-islamischen
Sündenhort sei Verrat und „eine schwere Sünde“.
Selbstverständlich ist
damit zu rechnen, dass der IS dadurch, objektiv oder auch
absolut gewollt, den antidemokratischen Kräften, Rassisten
und Faschisten anderswo in Europa quasi in die Hände
arbeitet. Die neue, national-reaktionäre Regierung in Polen
– frisch gewählt – hat bereits angekündigt, die
bescheidenen Pläne für die EU-weite Umverteilung von
Geflüchteten für ihr Land auszusetzen, unter Berufung auf
die Pariser Attentate und Terrorgefahr.
Am Samstag wurden bei
ersten spontanen (und polizeilich geduldeten)
Solidaritätskundgebungen im nordfranzösischen Lille und in
Metz/Lothringen rechtsextreme Aktivisten u.a. von der
„identitären“ Bewegung gesichtet, die jedoch durch die
Menge ebenfalls spontan verjagt wurden. Nicht überall, so
ist zu befürchten, steht die Massenstimmung ihnen
allerdings derart eindeutig entgegen. Und während im Januar
2015, nach den Attentaten auf die Zeitungsredaktion von
,Charlie Hebdo’ und eine koscheren Supermarkt an der
Pariser Porte de Vincennes, eher eine Konsens- und
Schulterschlussstimmung unter den etablierten politischen
Kräften herrschte (mit einem Sonderstatus für den Front
National, den man nur halb mitspielen ließ),
ist derzeit eher Übersteigerung und Übertrumpfen im
politischen Diskurs angesagt. Sowohl die Konservativen
unter ihrem Parteichef, Ex-Präsident Nicolas Sarkozy, als
auch die parlamentarisch orientierten Neofaschisten unter
Marine Le Pen schossen sich schon ab den ersten Stunden
nach den Attentaten auf die amtierende Regierung ein: zu
laxe Sicherheitspolitik, zu viele Migranten ins Land
gelassen. Mit weiteren Radikalisierungen im politischen
Diskurs ist wahrscheinlich zu rechnen...
Editorische
Hinweise
Den Text erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.
Wir halten unsere Leser/innen selbstverständlich über
Neuentwicklungen auf dem Laufenden.
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