Die sozialdemokratische
"Opposition innerhalb der Organisation" und die Diskussion der
Organisationsfrage auf dem Gründungskongreß
der USPD
Beim Ausbruch des ersten Weltkrieges wurde das Ergebnis jenes
Entwicklungsprozesses offenbar, den die Linksradikalen
unterschiedlicher Observanz von 1890 bis 1914 mit ihrer Kritik
bloßzustellen versucht hatten. Die offizielle, nach wie vor
revolutionär-marxistische Ideologie der
SPD stand in krassem Widerspruch zu deren tatsächlicher
Integration in die bestehende kapitalistische Ordnung(1).
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Der Bürokratisierungsprozeß innerhalb der
Arbeiterorganisationen war kontinuierlich fortgeschritten und
hatte wesentlich zu diesem Anpassungsvorgang beigetragen.
Während um 1890 die Tätigkeit in den proletarischen
Organisationen in der Regel ehrenamtlich war, wurde sie 1914 von
Funktionärsapparaten ausgeführt, die ihren eigenen sozialen
Gesetzlichkeiten folgten. Die SPD wurde 1914 verwaltet von 267
Redakteuren, 89 Geschäftsführern, 413 Mann kaufmännischen
Personals, 2646 Mann technischen Personals(2).
Die Zahl der Angestellten bei den Zentralverbänden der "Freien
Gewerkschaften" stieg von 269 im Jahre 1900 auf 2867 bei
Kriegsausbruch 1914, d.h. um mehr als das Zehnfache, während
sich die Mitgliederzahl lediglich um weniger als das Vierfache
vergrößerte(3).
Der
wahre Charakter der Partei- und Gewerkschaftsorganisation
manifestierte sich in der eigenmächtigen Entscheidung ihrer
verselbständigten Führerschichten für die sogenannte
"Burgfriedens"-Politik während des ersten Weltkrieges, die in
spektakulärer Weise am 4. August 1914 durch die Bewilligung der
Kriegskredite im Parlament eingeleitet wurde(4)
Die "Freien Gewerkschaften" hatten bereits in einer
Vorständekonferenz am 2. August 1914 eine ähnlich eigenmächtige,
den Willen der breiten
Mitgliederschichten gar nicht erst befragende Entscheidung für
den Burgfrieden getroffen. Die Reaktion der Mitgliederschichten
in den Arbeiterorganisationen auf die Folgen dieser Entscheide,
die man als "Instanzen-Politik" kennzeichnete, gab die
entscheidenden Impulse für die organisatorische
Verselbständigung der bisherigen linksradikalen Opposition in
der SPD während der folgenden Jahre.
Bereits am 4. August hatte sich eine kleine Minderheit der
SPD-Reichstagsabgeordneten in der Fraktionssitzung gegen die
Bewilligung der Kriegskredite ausgesprochen; sie hatten dann
aber im Parlament aus Fraktionsdisziplin dennoch zugestimmt. Wie
zu erwarten, spielten die Linksradikalen in der SPD die
fuhrende Rolle in der bald einsetzenden offenen
Oppositionsbewegung. Im September 1914 reiste Karl Liebknecht
nach Holland und Belgien und bezeugte dort den ausländischen
Genossen, daß die Opposition gegen die "Burgfriedens"-Politik
der SPD-Reichstagsmehrheit lebendig sei. Im Dezember 1914
verglich der andere langjährige Mitkämpfer Rosa Luxemburgs,
Franz Mehring, in einem Brief an englische Genossen die
gegenwärtige Situation in der SPD mit der im ersten Jahr nach
dem Sozialistengesetz; die Parole heiße jetzt wie damals: "Mit
den Führern, wenn diese wollen, ohne die Führer, wenn sie
untätig bleiben, trotz den Führern, wenn sie widerstreben!"5
- Es zeigten sich jedoch auch bald Ansätze zur Opposition in
weiteren Kreisen als denen der Linksradikalen; seit Mitte
September 1914 ließ das SPD-Organ "Vorwärts" in Berlin keinen
Zweifel an seiner Verurteilung der Kriegspolitik der Mehrheit;
ihm folgten bald Uberall im Reich lokale Publikationsorgane der
SPD'.
Die
Ursachen der Gegnerschaft gegen die "Burgfriedens"-Politik waren
bei dieser weiteren Opposition, deren Sprecher sich vor allem
aus den Reihen des früheren marxistischen Zentrums um Kautsky
rekrutierten, jedoch keineswegs identisch mit denen der
Linksradikalen. Karl Liebknecht z.B. war prinzipiell gegen den
gegenwärtigen Krieg; der einzig wirksame Kampf für den Frieden
sei der Kampf für den Sozialismus innerhalb der kriegführenden
imperialistischen Nationen. Die weitere Opposition befürwortete
den Krieg als nationalen Verteidigungskrieg, verurteilte jedoch
dessen imperialistischen Charakter und war gegen jede
Annexionsneigung. - Liebknecht hatte bereits im Dezember 1914
als erster öffentlich im Reichstag gegen die Bewilligung der
Kriegskredite gestimmt. Nachdem sich einzig Otto Rühle im März
1915 ihm angeschlossen hatte, folgte erst im Dezember (1915)
eine Gruppe von achtzehn weiteren Reichstagsabgeordneten der SPD
seinem Beispiel, als durch trügerische
Siegesmeldungen von der Westfront
die Stimmung für einen Annexionsfrleden sich bis in die Reihen
der SPD breit gemacht hatte. Anfang 1916 traten diese Kräfte aus
der alten Fraktion aus und schlössen sich als
"Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft" zuerst zu einer - wie
sie selbst formulierten - "Opposition innerhalb der
Organisation" zusammen(8).
Die wachsende Zahl der
Kriegskreditverweigerungen wurde zum Index für das Erstarken der
Opposition auch in den Mitgliederschichten. Prinzipiell zwar
unversöhnt, wurden die beiden oppositionellen Strömungen, die
"Arbeitsgemeinschaft" und der größere Teil der Linksradikalen,
der im März sich illegal auf Reicht ebene als "Spartakus"-Bund
zusammenge-schlosssen hatte, dennoch schließlich im April 1917
unter ein organisatorisches Dach zusammengetrieben. Die
organisatorische Verselbständigung war beschleunigt worden
während des Jahres 1916 durch die immer kühner auftretenden
annexionistischen Forderungen des rechten Flügels der SPD und
.durch gewaltsame Maßnahmen der Parteibüro-kratie gegen
oppositionelle Parteiblätter im Schütze der Militärbehörden (z.
B. den "Vorwärts-Raub" im Oktober 1916)(7). Auf eine
Sonderkonferenz der beiden oppositionellen Strömungen Im Januar
1917 reagierte die Parteiführung sehr empfindlich und Ubernahm
ihrerseits bald die Initiative zum Ausschluß der Opposition aus
der Partei. Mit unterschiedlichem Enthusiasmus und
verschiedenen Erwartungen schlössen sich die
"Arbeitsgemeinschaft" und der "Spartakus"-Bund Ostern in Gotha
zur "Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands"
(USPD) zusammen'.
In welchem Ausmaße und in welcher
Weise das Masse-FUhrer-Problem vom August 1914 bis April 1917 in
der gesamten Opposition aktualisiert worden war, zeigt sehr
deutlich die Diskussion der Organisationsgrundlagen auf dem
Gründungskongreß der USPD. Ein Teil der Opposition (Kautsky,
Bernstein u.a.) war ausschließlich durch die
Kriegskredit-Gegnerschaft definiert und trug zur
Organisationsfrage, die auf dem Kongreß im Mittelpunkt stand,
wenig bei. Ein größerer Teil hingegen (Haase, Ledebour u.a.),
der schließlich seine Organisationsgrundlinien im wesentlichen
durchsetzte, verwarf zwar grundsätzlich die Organisationsform
der SPD, schob jedoch die Neugestaltung der Organisation und
des Programms nach den im Kriege neu gewonnenen Erkenntnissen
bis nach Beendigung des Krieges auf. Bis dahin sollte das
Organisationsstatut der SPD (dem allerdings ihre reale
Organisation seit langem nicht mehr entsprach) die Grundlage
der Partei bilden; es wurde nachdrücklich betont: "Die
Parteigenossen sind verpflichtet, es in demokratischem Geiste
anzuwenden und besonders danach zu trachten, allen wichtigen
Entscheidungen eine demokratische Grundlage zu geben" (9). Der
Vertreter der "Arbeitsgemeinschaft" zeigte sich in seinem
Organisations-Referat besorgt darum, daß "das Beamtenelement nie
wieder ein Übergewicht erhält"(10). "In der neuen Organisation
darf das Beamtentum nicht dominieren"(11). Durch die Besoldung
von höchstens einem Drittel der führenden Funktionäre glaubte
er, dem verhängnisvollen BUrokratisierungsprozeß vorbeugen zu
können. Die Stimmung in den Kreisen der weiteren Opposition war
eindeutig gegen die Bürokratisierung in der Partei und für eine
gemäßigte Dezentralisierung; jedoch waren ihre Vertreter in
Gotha nicht bereit, hierarchische Organisationsvorstellungen,
soweit sie ihnen für die Aktionskraft der Partei unabdingbar
schienen, völlig preiszugeben. Maßnahmen wie die, daß die
Exekutive der Partei keine Ernennungsbefugnis für die Bezirks-
und Ortssekretariate haben sollte, daß man ihr den Erwerb von
Eigentumsrechten an den Presseeinrichtungen der Partei verbot,
daß den besoldeten Mitgliedern nur beratende Stimmen zuerkannt
werden sollten, waren offensichtlich aus den unmittelbaren
tagespolitischen Erfahrungen mit dem Apparat der SPD diktiert.
Die aus diesen heftigen Auseinandersetzungen mit der
Parteispitze hervorgegangene, stark ressentimentbeladene
Ablehnung(12) politischer Führerschaft war in den
Mitgliederschichten die allgemeinste und verbrei-tetste Form der
Opposition und blieb bis 1921 der konstanteste
sozialpsychologische Faktor für den Massenzulauf zu den
linksradikalen Organisationen.
Über dieses mehr reaktive
Verhalten in der Organisationsfrage gingen die Linksradikalen
mit ihren Forderungen weit hinaus. Fritz Rück(13), der von der
stärksten linksradikalen Gruppierung, dem "Spar-takus"-Bund,
gestellte Korreferent zur Organisationsfrage hatte auf einer
Konkretisierung der Forderung nach demokratischer
Organisationspraxis bestanden; so war als eine mögliche
Konkretisierung die Urabstimmung in die endgültige Redaktion der
Organisationsgrundlinien aufgenommen worden:
"Um das Schwergewicht der
politischen Aktion in die Massen zu verlegen, ist bei allen
wichtigen Entscheidungen, die die Haltung der Partei für längere
Zeit festlegen, eine Urabstimmung herbeizuführen, vorausgesetzt,
daß die technischen Möglichkeiten dazu vorhanden sind"(14).
Sowohl dieser Paragraph als auch
die Schlußbestimmung der Organi-sationsgrundlinien, die eine
"weitgehende Selbständigkeit und Aktionsfreiheit der Orte,
Kreise und Bezirke" fordert, sind Konzessionen der USP-Majorität
an die Radikalen. Rück hatte von der Aufnahme beider Punkte den
Beitritt der "Spartakus"-Gruppe zur neuen Organisation abhängig
gemacht. Er führte im einzelnen zur Organisationsfrage aus:
"Den lokalen Organisationen muß
die weitestgehende Aktionsfreiheit gewährt werden. Die
Initiative darf nicht gehemmt werden. Zu den Grundlinien betont
der Redner, daß das "Vorläufige" mehr hervorgekehrt werden muß.
Vielleicht werden wir später ganz andere Grundlagen der
Organisation haben als die Wahlkreise ... Es muß unbedingt immer
wieder betont werden, daß die Organisation nicht Selbstzweck
sein darf. Die Organisation muß deshalb noch elastischer
gestaltet werden... Es dürfen nicht mehr die Instanzen
entscheiden, den Arbeitern selbst muß Gelegenheit gegeben
werden, eine andere Taktik, eine revolutionäre TaKtik,
einzuschlagen"(15).
Diese Überlegungen scheinen auf
den ersten Blick lediglich Rosa Luxemburgs in der Vorkriegszeit
aufgestellte Spontaneitätsprämissen zu paraphrasieren(16).
Unübersehbar neu ist jedoch die Wendung des
Massenaktions-Postulats ins Föderalistische; "weitestgehende
Selbständigkeit und Aktionsfreiheit" der lokalen Organisationen
hatte Rosa Luxemburg niemals gefordert; diese Parolen sind
wörtlich von den Syndikalisten her bekannt. Obwohl Rück selbst
in seinem späteren politischen Werdegang einen ganz anderen Weg
nahm, kann man in seiner Rede tatsächlich ein frühes Zeugnis für
die linkskommunistische Ausformung der Luxemburgschen Ideen
innerhalb des "Spartakus"-Bundes selbst sehen. - Rigoroser als
die der USP-Mehrheit waren die antibüro-kratischen Maßnahmen,
die von den Radikalen vorgeschlagen wurden. Zum Teil wollte man
Uberhaupt keine besoldeten Parteiangestellten mehr; andere
wollten den Anteil der Exekutive an den Mitgliederbeiträgen auf
5 % einschränken usw.(17) ; diese Motivationen bestimmten dann
noch unmittelbar die Organisationsstatuten der KAPD und der AAUD
und koinzidierten mit den Organisationsvorstellungen der FAUD .
Erstaunlich ist schließlich in
Rücks Ausführungen die Bemerkung, daß man "später vielleicht
ganz andere Grundlagen der Organisation" haben werde als die
Wahlkreise. An Räteorganisationen kann Rück dabei fünf Monate
vor der russischen Oktoberrevolution schwerlich gedacht haben;
wie immer er sich auch die zukünftigen Grundlagen der
Organisation vorgestellt haben mag, seine Überlegung zeigt, in
welchem Maße alle bisherigen Organisationsvorstellungen in Fluß
geraten waren. In welcher Weise die Diskussion in den einzelnen
linksradikalen Gruppen verlief und wo die linkskommunistische
Tendenz in erkennbaren Gegensatz zum "Spartakus"-Bund zu treten
beginnt, muß im Folgenden untersucht werden.
Anmerkungen
1) Vgl. Wolfgang
Abendroth. Das Problem der Beziehung zwischen politischer
Theorie und politischer Praxis, loc.cit., p. 467 ff.
2) Nach Ossip Karl
Flechtheim, Die kommunistische Partei Deutschlands in der
Weimarer Republik. Offenbach 1948, p.5.
3) S. Gerhard A.
Ritter, Die Arbeiterbewegung im Wilhelminischen Reich, op.cit.
,p. 169 f.
4) Zu den
geschichtlichen Grundlagen der "Burgfriedens"-Politik vgl.
besonders: Arthur Rosenberg, Die Entstehung der Weimarer
Republik, p. 67 ff.
5)
Zitiert bei: Eugen Prager, Geschichte der USPD. Entstehung und
Entwicklung der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei
Deutschlands, Berlin 1921, p.49.
6)
S. Carl E. Schorske, German Social Democracy, op.cit., p. 295
ff.
7)
Vgl. dazu im einzelnen Eugen Prager, op.cit. ,p. 81 ff.
8)
Vgl. besonders Carl E. Schorske, op. cit., p. 312 ff.
9) S. Protokoll Uber
die Verhandlungen des Grundungs-Parteitages der USPD vom 6.-8.
April
1917 in Gotha, hrgg. von Emil Eichhorn, Berlin 1921, p.35.
10) Ibidem, p. 18.
11) Ibidem, p. 18.
12) Das Maß
erbitterter Feindschaft, das durch die Parteibürokratie bei den
Oppositionellen hiermit verursacht wurde, wird in den
zeitgenössischen Darstellungen der Vorgänge durch Mitbetroffene
stark reflektiert. Vgl. Heinrich Ströbel (Redakteur des alten
"Vorwärts"): Die deutsche Revolution, ihr Unglück und ihre
Rettung, Berlin 1922, besonders p.22 ff.; Eugen Prager
(Redakteur des USPD-Organs "Die Freiheit"), op.cit.
13) Fritz Rück
(1895-1959) kam als junger Soldat zur "Spartakus"-Gruppe;
Gründungsmitglied der KPD, seit 1924 in der Rechtsopposition
der KPD; 1929 zur SPD; 1933 Emigration in die Schweiz, dann
Korrespondent Schweizer Zeitungen in Schweden; 1950 Rückkehr in
die Bundesrepublik, Redakteur bei der IG Druck und Papier. Nach:
Hanno Drechsler, Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands.
Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung am
Ende der Weimarer Republik, Diss. phil. Marburg/Lahn 1962,
p.369.
14) S. Protokoll des
Gründungsparteitages der USPD, p. 19-23.
15) S. ibidem, p.22
f.
16) So Werner T.
Angreu, Stillborn Revolution, the Communiit bid for power in
Germany 1921-23, Prtoceton-New Jersey 1963, p. 11.
17) S.Carl
E.Schorske, op.cit. ,p.318.
Editorische Hinweise
Der Text wurde entnommen aus: Hans
Manfred Bock, Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918-1923,
Meisenheim am Glan, 1969, S. 57-62
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