Die Odyssee der Helena Maleno
Karawane des Todes: "Rede mit mir,
damit ich weitergehen kann"


von LUIS DE VEGA, Sonderkorrespondent
aus Dajla/El Ajún (Westsahara)
11/05

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Die Tapferkeit und Hartnäckigkeit einer Frau namens Helena Maleno, ausgerüstet mit einem Handy an Bord eines Kombiwagens, verliehen als einzige in der Welt dem Schrecken Ausdruck, der sich vor ihren Augen abspielte: illegale Immigranten wurden auf marokkanischen Befehl in Bussen in die Wüste verfrachtet und dort ihrem Schicksal überlassen.

Hier ihre Geschichte.


Es ist die Geschichte eines Schutzengels, einer zarten, aber starken, sehr starken Frau, einer Frau ohnegleichen (?) - die Geschichte eines Engagements, das zufällig beginnt als Helena Maleno, "die Chefin", am 22. September 2002 von ihrem Heimatort El Ejido (Provinz Almería/Spanien) nach Tanger (Marokko) kommt. "He, echt aus El Ejido", betont sie bissig. Sie kam für drei Monate, mit einem Koffer, einer Videokamera und einer Handtasche. Nach allem, was im Gebiet der Treibhäuser passiert war*, wollte sie sehen, "wie sich die Grenze des neuen Europa immer mehr nach Süden verschiebt". Die Video Aufnahme wurde mehr. Die Sache verwickelte sich, und sie ließ sich hineinziehen [im Span. Wortspiel mit liarse, was sowohl "kompliziert werden", "sich verwickeln" als auch "sich einlassen", "hineinziehen lassen" bedeutet, d.Ü.]. Und im Laufe der Monate verwandelte sich Tanger und das Geschehen in dessen Umgebung in ein Spinngewebe, von dem sie nicht mehr loskommt. Auch nicht um nach El Ejido zurückzukehren, so "rein" es auch sein mag.

Für uns, die wir durch unsere Arbeit mit der illegalen Auswanderung der Menschen südlich der Sahara in Berührung kamen, ist "die Chefin" eine Empfehlung, viel mehr als der Kontakt von SOS Rassismus in Marokko. Den Wald von Bel Younech in der Nähe des Grenzzauns von Ceuta zu betreten und sie nicht zu kennen, war Grund zum Argwohn für die Bewohner dieses Camps. Zu ihr hatten und haben die Immigranten am meisten Vertrauen und werden es auch in Zukunft haben. Dort gab es neben den Razzien der Sicherheitskräfte Besuche von Journalisten, von Menschenrechtsorganisationen, Turisten auf abseitigen Pfaden und Mafiosi, gierig danach, Passagen nach jenseits der Grenze auszuhandeln. Niemand war lieber gesehen als sie. Alle Emigranten kannten sie. Und sie kannte alle - oder fast alle, ihr Unglück, ihre Illusionen, ihre wahren Namen und Herkunftsländer ...

Deshalb ist Maleno die Schlüsselperson gewesen, die alle Hebel in Bewegung gesetzt hat, damit die Aussetzung Hunderter Schwarzafrikaner in der Wüste seitens der marokkanischen Behörden nicht in einer Tragödie von nicht vertretbaren Ausmaßen endete. Sie war es, die als erste Alarm auslöste, als wir alle ständig nur die Grenzzäune von Ceuta und Melilla im Blick hatten, in Erwartung eines neuen Ansturms von Immigranten.

Kettenverhaftungen

Es war Sonnabend, 1. Oktober. "Sie rufen mich aus Rabat an. Es gibt Verhaftungen. 24 (von ihnen) sind Asylsuchende. Verhaftungen in Casablanca gehen weiter. Auf den Straßen, in den Cafés, in den Häusern ... Man nimmt sogar Leute mit Studentenvisa, mit noch gültigen Einreisestempeln in ihren Pässen mit ... Etwas ist passiert", meint sie. Sie hat ein Notizbuch in den Händen, in dem sie alles vermerkt. Das Handy und dieses Heft stellen eine Verlängerung ihrer knochigen Hände dar.

Wenige Stunden vor all diesen Razzien hatte sich im Camp Beliones ein halbes Hundert Schwarzafrikaner den Behörden ergeben. Das war am Morgen des Freitag, dem 30. September. Sie werfen das Handtuch nach dem Ansturm, bei dem es mehr als 200 gelang, nach Ceuta zu gelangen, aber es hat auch fünf von ihnen das Leben gekostet. Dieser Korrespondent [offenbar der Autor selbst, d.Ü.], der Zeuge war, wie sich die Gruppe ergab, bekam aus dem Munde des Chefs der Gendarmerie von Tanger, der die Operation leitete, bestätigt, daß alle aus dem Königreich der Alawiten (Marokko) an der algerischen Grenze bei der Stadt Oudja, etwa 150 km von Melilla, ausgewiesen werden würden. Alle aus Rabat, Casablanca, Beliones ... glaubten, daß sie wie immer in Richtung Oudja fahren würden.

"Die Chefin", die sich über alles was vorgefallen ist informiert hat, zieht über den Sturm auf Ceuta ihre eigenen Schlüsse und macht eine Rechnung auf. "Wir hatten 132 verloren, unter ihnen 18 Verletzte, die ausgewiesen wurden, nachdem sie Ceuta betreten hatten. Sie wurden in die Gendarmeriekaserne von Tetuán gebracht." Sie hatten sich verflüchtigt, denn sie waren nicht mehr da und mußten vermutlich denselben Weg nach Oudja genommen haben.

Tatsächlich beginnen verschiedene Gruppen von Verhafteten aus allen Ecken Marokkos in diese Stadt zu fahren. Über ihre Mobiltelefone halten sie ihren Schutzengel Maleno ständig auf dem Laufenden; diese sieht mit Erstaunen, wie die Busse vorbeifahren und die nach Süden führende Straße parallel zur algerischen Grenze einschlagen. Die Schwarzafrikaner versuchen Angaben darüber zu liefern, wohin sie fahren: Errachidía, Budenib, El Auina Suatar ..., die nackte, rauhe Wüste, schon wird die fast ungekennzeichnete Grenzlinie zum algerischen Nachbarn überschritten.

"Alle fangen an, mich anzurufen", erklärt sie und greift zum Telefon. Sie sind in vielen Gruppen unterwegs. Sie glaubt, daß diejenigen, die über den Grenzzaun von Ceuta zurückgeschickt wurden, als erste im Wüstengebiet ankamen, danach die aus Rabat und Casablanca, [dann] die sich in Bel Younech ergeben haben... In ihren Notizen ist alles vermerkt. Sie weiß, woher jeder Anruf kam. Im Geist stellt sie die Buskonvois zusammen, wer in jedem fuhr, woher sie kamen... Und niemand nahm Notiz von Maleno, als sich die Tragödie inmitten der Steinwüste der Hammada vorbereitete. Mit den Grenzzäunen im Rücken, die weiter die Aufmerksamkeit aller auf sich zogen. "Jede von mir gesammelte Information haben wir sofort an alle meine Internet-Kontakte und an die Website von Indymedia-Estrecho weitergegeben."

Dank der Handys ...

Man schrie sich die Seele aus dem Leib über Handy. Man insistierte immer wieder: "Ihr müßt es weitererzählen. Ruft eure Chefs in Madrid an. Schreibt über das, was da vor sich geht. Helft uns, damit die UNO reagiert, die internationale Gemeinschaft. Berichtet darüber, daß Leute sterben, die von den Marokkanern in der Wüste ausgesetzt wurden." In Tanger ist eine Schottin die erste, die 150 Euros beiträgt, um die im freien Fall befindliche Telefonrechnung der "Chefin" aufzufangen. Sie übernehmen auch die von denen, die aus der Wüste anrufen. Danach sollten weitere kleine (Spenden) kommen, unerläßlich, um mit der Suche nach den Schwarzafrikanern weitermachen zu können, um ihnen das Leben zu retten.

In ihrem Heft notierte sie schaurige Zeugenaussagen. Hier eine von Hamidu, der bereits per Flugzeug nach Senegal repatriiert worden ist: "Die Lichter, das ist Algerien. Wir sind die ganze Nacht auf die Lichter zugegangen. Es gab Verletzte. Wir haben uns in der Wüste verlaufen. Alle die nicht im algerischen Lager ankommen, sterben. Sie haben uns dort zu essen und zu trinken gegeben und uns nicht mißhandelt. Sie haben uns den Weg zurück nach Marokko gezeigt. Ich habe sieben Tote gesehen. Zwei waren englischsprachige Frauen. Denen es gelingt, aus der Wüste herauszukommen, die schicken die Marokkaner erneut in die Wüste." Hamidu fuhr fort, seine Beschützerin anzurufen. "Sucht die Leute mit Hubschraubern. Bittet die UNO, daß sie sie auflesen, auch auf algerischer Seite."

Obwohl sie die "Chefin" kennen, verhinderte doch das offizielle Schweigen, in vollem Umfang mit dem herauszukommen, von dem wir wußten, dass es wahr war, was wir aber nicht mit unseren eigenen Augen bezeugen konnten. Von Rabat aus würde man es nicht nur dementieren, sondern sie würden, wie sie es gewöhnlich tun, die Arbeit der Journalisten zunichte machen. Der Hochkommissar für Flüchtlinge der Vereinten Nationen in Rabat und Genf schwieg mit besorgniserregender Ruhe. Jetzt, beim Schreiben dieser Reportage, kann man sich eines gewissen Schuldgefühls nicht erwehren, weil es einem nicht gelungen ist, früher von der Tragödie zu berichten.

Alles war vorüber, als eine Gruppe der Ärzte ohne Grenzen am Freitag, 7. Oktober in El Auina Suatar eintraf. Obwohl sich ein bestürzendes Schauspiel bot, hätte es doch noch viel schlimmer sein können, wenn die Schwarzafrikaner nicht die Möglichkeit gehabt hätten, schon Tage zuvor Alarm auszulösen. Am gleichen Tag machte sich Marokko durch seine offizielle Nachrichtenagentur Map über diese Handy-Batterien lustig, die in der Wüste von Hand zu Hand gingen und die, wie sie meinten, nie leer wurden. Aber diese Batterien verhinderten, daß die Entscheidung, die Immigranten mitten im Nichts auszusetzen, dazu führte, daß von ihnen nur Leichen übrigblieben.

Die Aussage eines anderen Senegalesen: "Gestern haben wir einen Toten begraben. Einen mit gebrochenen Beinen haben wir auf den Schultern getragen. Wenn sie uns umbringen, ist es besser, sie bringen uns in unsere Heimatländer." Die "Chefin" erhielt Anrufe rund um die Uhr, 24 Stunden am Tag. "Rede mit mir. Erzähle mir was, damit ich weitergehen kann, etwas vom Wald, als wir zusammen waren."

Weg durch die Hölle

Schließlich, am Sonnabend, dem 8. Oktober beschaffen sie sich das Notwendige, um in einem gemieteten Renault Kangoo von Tanger abzufahren ? die "Chefin", der Jesuit Pep Buades, der Olivenbauer und Freiwillige der Vereinigung Elín, Francisco Carrasco und die Beobachterin von Women Links Worldwide, Sandra Escauriaza. Sie kannten sich untereinander nicht, noch hatten sie sich je auf ein derartiges Abenteuer eingelassen. In dem Kombiwagen befanden sich 500 Essensrationen, die von den Schwestern von Calcutta mit Hilfe von Einwohnern Tangers vorbereitet worden waren: ein Stück Brot, eine Büchse Sardinen, ein Saftgetränk und eine Flasche Wasser. Es ist eine bescheidene Expedition, fast ohne Ressourcen, die hinter der der Ärzte ohne Grenzen zurücksteht. Aber sie führen einen Schatz mit sich: die Kontakte und die Information, die die "Chefin" unaufhörlich bekommt. So bringen sie unermüdlich Kilometer um Kilometer hinter sich, während weiter Nachrichten von den Immigranten eintreffen, die inzwischen gerettet und im Begriff sind, nach der Ortschaft Buarfa gebracht zu werden.

Unterwegs aber, am Sonntagmorgen gegen vier Uhr, begegnen sie bei Errachidía einem ersten Konvoi von Bussen. Er fährt in südwestlicher Richtung, in Richtung Uarzazat, einer und noch einer. Da beschließen sie, einem von ihnen zu folgen, denn sie argwöhnen, daß die Behörden eine neue Verschleppungsoperation der Schwarzafrikaner in Gang gesetzt haben. Anscheinend war die makabre Entdeckung Hunderter von ihnen in der Umgebung von El Auina Suatar und die in der ganzen Welt übertragenen Bilder, wie sie wie lebende Tote in der Wüste umherirren, für die Ideologen einer derartiger Barbarei nicht Abschreckung genug.

Die vier im Kangoo entscheiden, daß das Durchkämmen der Wüste auf der Suche nach Überlebenden oder Leichen jetzt nicht die Priorität hat, sondern vielmehr herauszufinden, wohin sich die Busse bewegen und weitere Massenaussetzungen zu verhindern. "Haltet durch, so gut ihr könnt.
Wir folgen den anderen, damit sie nicht mit ihnen das gleiche machen", wiederholten sie immer wieder zu denen, die sie um Hilfe anflehten.

Die schlimmsten Vorahnungen bestätigen sich am Sonntagmorgen, als sie von einem neuen Konvoi, der sich von Tanger in Bewegung gesetzt hat, anfangen Anrufe zu erhalten. Diese gehören nicht zu den vor Tagen in der Wüste Ausgesetzten, sondern in den zwei Bussen fahren Frauen, darunter einige Schwangere, und Kleinkinder. Auch sie fahren alle in Richtung Süden. Im Laufe der Stunden beginnen die Absichten der Marokkaner klarzuwerden. Ziel ist diesmal die Westsahara, die seit dreißig Jahren von Marokko besetzt gehalten wird. Die Expedition der "Chefin" riskiert einiges.
Eine Kontrolle folgt der anderen, und nur mit äußerster Mühe können sie den Bussen und ihrer Polizei-Eskorte folgen, die "nicht sehr aufmerksam zu sein schienen, denn wir überholten sie und ließen sie hinter uns, ohne daß sie eine Ahnung zu haben schienen", berichtet Buades.

Sie taten alles um die Polizeiposten zu überlisten, die immer mehr zunahmen, je näher die Konfliktzone zwischen Marokko und der Frente Polisario kam. "Einmal gab ich mich als Kranke aus, ein anderes Mal durften wir passieren, weil sie dachten, daß wir in den Taschen mit Essen Segel zum Drachen-Surfen hätten ..."

Sie merkten, daß die Behörden nicht recht wußten, was sie tun sollten. Die Konvois fuhren bald in eine Richtung, bald in eine andere. "Es war beeindruckend, als wir bei der Einfahrt nach Dajla an einem Kontrollpunkt hielten und sie zum ersten Mal aus der Nähe sehen konnten.
Wir waren so nahe, daß sie uns aus den Fenstern zuriefen. Sandra weinte. Und der marokkanische Gouverneur dementierte, was wir mit unseren eigenen Augen sahen", berichtet Buades.

Auf der ganzen Strecke wechselten sie sich am Steuer ab, während die anderen die Anrufe der Schwarzafrikaner oder die der ersten Medien beantworteten, die sich mit ihnen in Verbindung setzten. Diese waren die einzigen, die in diesem Moment eine direkte Information über diese katastrophale Handhabung des Problems der illegalen Einwanderung hatten. "Seit unserer Abfahrt von Tanger, waren wir 48 Stunden ununterbrochen im Auto", äußerten sie. Sie rechnen nach, der Kilometerzählerstand ist beängstigend. Als sie am Mittwochabend in einer Hotelunterkunft in Dajla, in der Nähe der Grenze zu Mauretanien, für ABC Bilanz ziehen, haben sie mehr als 6000 Kilometer hinter sich gebracht - in vier Tagen.

Der Kombi der Rettung

Die Taschen, die die Nonnen vorbereitet hatten, konnten nie an ihren Bestimmungsort gelangen, weil sie nie direkten Zugang zu den Immigranten hatten, die von den Sicherheitskräften in den Kasernen verschiedener Städte eifersüchtig bewacht wurden. Aber durch das Zurücklegen dieser Tausende von Kilometern und die wertvolle Information, die von dem Wagen in die ganze Welt ihren Ausgang nahm, halfen sie die Absichten der marokkanischen Behörden herauszubekommen.

Helena Maleno und ihre Begleiter ? bereits ohne Sandra ? setzen am vergangenen Mittwoch nachts ihren Weg von Dajla in Richtung Esmara fort, etwa 800 km nach Norden. Die Ermüdung vermag nichts gegen ihre Absichten, herauszufinden, was mit einer Gruppe von Schwarzafrikanern passiert, die hinter dieser saharauischen Stadt in Richtung Algerien ausgesetzt worden sein könnten. Der Lieferwagen kommt jedoch nie in Esmara an, weil ein Unfall 70 km vor El Aiún der Reise ein Ende setzt. Helena und Francisco werden übel zugerichtet, wenn auch ohne schwere Verletzungen, und nachdem sie in El Aiún behandelt worden sind, nehmen sie ein Flugzeug nach Las Palmas. Der unverletzte Jesuit begleitet sie. Und während diese Seiten gedruckt werden, denkt die zarte, aber starke Frau, der Schutzengel der "Illegalen", schon wieder daran, nach Tanger zurückzukehren.


[* Wahrscheinlich Anspielung auf die pogromähnlichen Übergriffe von Einheimischen gegen marokkanische Landarbeiter in El Ejido im Febr. 2000; d. Ü.]

Editorische Anmerkungen

Der Artikel erschien im Original in der Spanischen Zeitung ABC  und wurde bei http://estrecho.indymedia.org/newswire/display/16325/index.php gespiegelt, so dann von"kh" ins Deutsche übersetzt und bei Indymedia am 21.10.05 veröffentlicht.