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Gerhard Bolte 
Wertgesetz und Kapital
 
Zur geschichtlichen Tendenz der abstrakten Arbeit
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Theorie erklärt wesentlich den Gang des Verhängnisses. Horkheimer

Das Prinzip des Äquivalents ist die logische Voraussetzung des Tauschs. Jeder Tausch ist ein Vergleich zweier Unterschiedener und erfordert daher einen gemeinsamen Bezugspunkt, ein tertium comparationis, welches nur der Wert der zu tauschenden Gegenstände, die darin inkorporierte Arbeit, sein kann. Der Gedanke des Äquiva­lents muß jeden Tauschakt begleiten, wenn auch anfangs nur als va­ge Vorstellung und bis zu einer gewissen Entwicklungsstufe als not­wendige Fiktion. Indem die Produzenten »ihre verschiedenartigen Produkte einander im Austausch als Werte gleichsetzen, setzen sie ihre verschiedenen Arbeiten einander als menschliche Arbeit gleich. Sie wissen das nicht, aber sie tun es.« (1) Der Wert konstituiert sich nach Marx in einem Verfahren der Abstraktion von der kon­kreten Arbeit. Historisch entspringt er aus dem Tausch.(2) Die Tauschenden setzen ihre qualitativ verschiedenen Arbeiten als Werte gleich, identifizieren sie, indem sie sie auf reine Quantität reduzie­ren. Damit abstrahieren sie von ihrer konkreten Arbeit. Als Quanta abstrakt menschlicher Arbeit werden die Produkte kommensurabel. - Daß anfangs nicht exakt gleiche Werte ausgetauscht wurden, weil es an einer objektiven Bemessungsgrundlage fehlte und die exakte Quantifizierung der Arbeitsleistung selbst abhängt vom Fortschritt der Produktivkräfte, ändert an der Sache prinzipiell nichts. Waren die Produzenten auch beschränkt in ihren Berechnungsmöglichkei­ten, so wußten sie doch, worauf es ankam. »In allen Zuständen muß­te die Arbeitszeit, welche die Produktion der Lebensmittel kostet, den Menschen interessieren, obgleich nicht gleichmäßig auf ver­schiedenen Entwicklungsstufen.«(3) Marx unterscheidet daher auch den Begriff des Werts, der als logisches Apriori jeden Tauschakt begleitet, vom quantitativen Verhältnis, worin sich die Produkte austauschen, welches sich erst nach und nach reguliert, im Maße wie die Produzenten durch Schaden klug werden.(4)

II

Sobald der Tausch die Produkte in Waren verwandelt(5), tritt der Inhalt der Wertbestimmung, die abstrakte Arbeit, in die historische Wirklichkeit, aber erst an sich. Er ist als tertium comparationis des Tauschs nur eine immanente logische Notwendigkeit - eine notwendige Fiktion der Tauschenden -, noch keine den Tausch tatsächlich regulierende ökonomische Macht.

Die Wertform der Ware und mit ihr das Wertgesetz hat das erste Stadium der Realisierung erreicht in einem noch sehr rohen Zu­stand des Tauschverkehrs, den Engels im vorderen Orient vor 5000 bis 7000 Jahren annimmt. (6) Auch Marx spricht ohne Zeitangabe vom praktischen Vorkommen der einfachen Wertform »in den ersten Anfangen, wo Arbeitsprodukte durch zufälligen und gele­gentlichen Austausch in Waren verwandelt wurden« (7). Ebenso wird die entfaltete Wertform als nicht nur systematische, sondern auch historische Durchgangsstufe in der Entwicklung des Wertgesetzes von Marx ausdrücklich erwähnt.(8) Mit Tauschverkehr und Wertge­setz ist »die erhabene Idee« geboren, worin dem homo circulationis »die ganze Welt aufgeht«: »die eines Marktes - des Weltmarkts« (9).

Solange aber der Wert noch nicht die Produktion ergriffen hat und nur in der Zirkulation heimisch ist, dort seine antediluvianische Existenz fristet, produziert er nur die Voraussetzungen seiner selbst, die Warenform und die Geldform; Hüllen, in die er später als Kapital schlüpfen kann. Auf einer nächsten Stufe verselbständigt er sich zum Handels- und Wucherkapital, den »antediluvianischen Gestalten« (10) des Kapitals, in denen es ursprünglich akkumulieren kann, bevor es sich der Produktion bemächtigt.

III

Gesetzt ist die abstrakte Arbeit als Inhalt der Wertbestimmung erst mit dem Kapital als Produktionsverhältnis. Durch die Subsumtion der Arbeit unters Kapital werden konkrete, nützliche und ab­strakte Arbeit gewaltsam zusammengeschlossen, zur abstrakten Nutzen, d. h. Mehrwert produzierenden Arbeit. »Hier also wird die Abstraktion der Kategorie 'Arbeit', 'Arbeit überhaupt', Arbeit sans phrase, der Ausgangspunkt der modernen Ökonomie, erst praktisch wahr. Die einfachste Abstraktion also, welche die moderne Ökono­mie an die Spitze stellt, und die eine uralte und für alle Gesell­schaftsformen gültige Beziehung ausdrückt, erscheint doch nur in dieser Abstraktion praktisch wahr als Kategorie der modernsten Gesellschaft.«(11) Im Maße wie die gesamte Produktion dem Wert, der abstrakten Arbeit gemäß organisiert wird, avanciert der Wert zur allumfassenden ökonomischen Macht, welche real den Markt reguliert.

Ware, Geld, entwickelter Tauschverkehr, Handels- und Wucherkapital sind historische Voraussetzungen der kapitalistischen Pro­duktionsweise; notwendige Bedingungen, aber nicht vollständiger Grund. Als Grund seiner selbst, causa sui, erscheint das Kapital erst, wenn es einmal als Produktionsverhältnis gesetzt ist. Indem sich der Wert, die abstrakte Arbeit, vom logischen Apriori des Warentauschs zum Form- und Organisationsprinzip der gesellschaftlichen Produktion entwickelt, beschreibt er einen Rückgang in den Grund.(12) Aber dieser ist kein rein logischer wie bei Hegel, sondern gebunden an äußere Voraussetzungen - an historische Ereignisse, in denen Kontingenz und Gewalt wirksam sind.

IV

Zur Trennung der Produzenten von ihren Produktions- und Lebensmitteln bedurfte es der Gewalt. Aber eine selbständige Ursache des gesellschaftlichen Antagonismus von Kapital und Lohnarbeit ist die Gewalt deshalb noch nicht; Marx weist ihr den Status des Ge­burtshelfers an.(13) Die Diskontinuität historischer Entwicklungen, die sich in kontingenter Willkür und Gewalt manifestiert, ist eben­sowenig zu hypostasieren wie die Kontinuität. Sonst erschiene das Kapital als völlig unerklärlicher Zufall, als eine Produktionsweise, die nur aus sich selbst zu verstehen ist - und gerade dies hat Marx wegen der idealistischen Implikationen vermieden. Denn die Aus­blendung der geschichtlichen Genesis des Wertgesetzes aus der öko­nomischen Wissenschaft muß in die Hypostase seiner puren Geltung münden. Die bloße Zufälligkeit des Kapitals schlägt um in seine schicksalhafte Notwendigkeit - in den Schein eines naturgegebenen, sich selbst regulierenden ökonomischen Systems, dem die bürgerli­che Nationalökonomie aufgesessen ist.

Ein dialektischer Begriff der historischen Genesis des Kapitalis­mus hat Notwendigkeit und Zufälligkeit, Kontinuität und Diskonti­nuität in der Setzung des Werts als Kapital miteinander in Beziehung zu setzen. Ein solcher Begriff ist der der Tendenz. - Die abstrakte Arbeit ist logisches Apriori des Warentauschs, mit dessen Ausbreitung sich allmählich rationalere, nicht nur auf Gewalt beruhende Beziehungen zwischen den Produzenten herstellen. Aber die den Tausch konstituierende ökonomische Rationalität ist eine bloße Beteuerung, solange sie nicht an der Basis der Ökonomie, der mate­riellen Produktion, eingeholt ist, solange nicht tatsächlich abstrakte Arbeit die Ware produziert hat. Der in Geschichte fortschreitenden Rationalisierung der Ökonomie ist also die Tendenz immanent, den Inhalt der Wertbestimmung, die abstrakte Arbeit, zu realisieren, sie als Prinzip der materiellen Produktion zu setzen. Aber diese Ten­denz wirkt in der Geschichte blind und unerkannt. Die Genesis des Kapitals läßt sich erst post festum, von der entwickelten kapitalisti­schen Produktionsweise aus, begreifen. »In der Anatomie des Men­schen ist ein Schlüssel zur Anatomie des Affen. [...] Die bürgerliche Ökonomie liefert so den Schlüssel zur antiken etc.«(14) Weil der Gegenstand des Erkennens sich zu seiner wesentlichen Struktur entwickelt haben muß, bevor er begrifflich durchdrungen werden kann, ist die Philosophie, auch wenn sie sich in Gesellschaftskritik transformiert hat, verurteilt, Eule der Minerva zu bleiben, die erst in der Dämmerung ihren Flug beginnt. Nur gibt sich die kritische Theorie nicht mit dem Grau in Grau der Begriffe zufrieden. Sie macht nicht aus der Not eine Tugend wie der Idealismus, der das Aufgehen des gesellschaftlichen Lebens im Begriff für den Zweck der Geschichte ad majorem dei gloriam ausgibt.

V

Die geschichtliche Tendenz des Werts, sein Werden zum Kapital, ist nicht wie die Hegelsche »Selbstbewegung des Begriffs«(15) eine reine Setzung materieller Wirklichkeit aus einem geistigen Prinzip. Die logische Notwendigkeit des Werts, sich zu dem zu machen, was er an sich ist, umgibt ihn mit dem Schein einer Subjektivität, die bei Lichte besehen höchst parasitär ist. Nur durch die Tätigkeit der rea­len in der Geschichte wirkenden Subjekte, der ihr Leben produzierenden Menschen, hindurch kann der Wert sich als Kapital realisieren, die Macht eines den ökonomischen Prozeß übergreifenden Subjekts, eines »produktiven Gesellschafts-Gottes«(16), usurpieren. Und nur weil die Produzenten ihre Ökonomie nicht durchschauen, nicht wissen, was sie tun; weil sie bereits einem Gesetz gehorchen, das sie einzeln und in Klassen einander konkurrierend gegenüberstellt; weil der Prozeß der Rationalisierung der Ökonomie von den 'Leidenschaften', d. h. von partikularen Interessen und in deren Gefolge von Gewalt, angetrieben wird, nicht nach dem Plan eines gesellschaftlichen Gesamtsubjekts, kann sich das Kapital als Gesellschafts-Gott konstituieren. »Es war der 'fremde Gott', der sich neben die alten Götzen Europas auf den Altar stellte und sie eines schönen Tages mit einem Schub und Bautz sämtlich über den Haufen warf. Es proklamierte die Plusmacherei als letzten und einzigen Zweck der Menschheit.«(17)

VI

Solange die Konstitution historischer Subjektivität nicht gelingt und die Geschichte weiter naturwüchsig als »Geschichte von Klassenkämpfen«(18) verläuft, bleibt es in der Tat dem Zufall überlassen, ob und wie das Wertgesetz sich jeweils durchsetzt. Aber diese Zu­fälligkeit ist bloß Kehrseite der Notwendigkeit, der Tendenz, welche die Kontingenz geschichtlicher Entwicklung ausbeutet. Der Weltgeist hat keine Eile, sagt Hegel, (19) er kann sich Zeit lassen und das Kapital nicht minder. Naturwüchsigkeit heißt nicht bloß ungeplantes, zufälliges Geschehen, sondern auch in Gesellschaft verlängerte Naturnotwendigkeit. Was die Ökonomie anlangt, so besteht diese verlängerte Naturnotwendigkeit in der Zwangsgesetzlichkeit der abstrakten Arbeit, zunächst als historische Tendenz auf Realisierung, dann auf Stufe kapitalistischer Produktion als universelle Gel­tung des Wertgesetzes und geschichtliche Tendenz kapitalistischer Akkumulation. Die historische Tendenz des Wertes ist also die des Werdens zum Subjekt des ökonomischen Prozesses. Die Umsetzung der Tendenz in die Realität aber schafft der Wert nicht aus eigener Kraft; seine Bewegung ist auf äußere Bedingungen angewiesen, deren wichtigste die ist, daß die ihre produktiven Kräfte entwic­kelnden Menschen diese in den Dienst der unerkannten Bewegung des Werts stellen, statt sich die Gesamtproduktion zu unterwerfen und nach eigenen Zwecken zu betreiben.

Durch die unfreie Arbeit der Menschen hindurch schafft sich der Wert eine Welt nach seinem eigenen Bilde, solange er nicht daran gehindert wird. Er produziert eine geschichtliche Totalität, die keine weißen Flecken auf der Landkarte zuläßt. Die lebensweltliche Idylle, die sich verspätete Liberale als Unterschlupf der Tugend sichern möchten, muß wie jede schlechte Utopie vor der Macht des Wertgesetzes schlapp machen, gegen die nur die vom fortgeschrittensten gesellschaftlichen Bewußtsein geleitete revolutionäre Praxis etwas auszurichten vermag. Würde die Menschheit ihrer selbst mächtig, so wäre es aus mit der Subjektivität des Werts, die zugleich höchste Realität und Schein ist.

VII

Solange aber der Schein Macht hat, fällt die vollendete Rationalität der Ökonomie mit ihrer vollendeten Irrationalität zusammen. »Nicht nur die Vernunft von Jahrtausenden - auch ihr Wahnsinn bricht an uns aus.«(20) Je rationaler die Ökonomie dem bornierten Partikularinteresse erscheint, umso verrückter wird sie als Ganzes; je durchtriebener die Kalkulationen der Wirtschaftssubjekte, umso undurchschaubarer die Verhältnisse. Die konzentrierten Anstren­gungen, die zum Zwecke störungsfreier Kapitalverwertung perma­nent unternommen werden und im Sinne dieses beschränkten Zwecks als rational erscheinen, pflegen unter der Perspektive wahr­haft rationaler Ökonomie, die sich die Reproduktion und Bereiche­rung des Lebens der vergesellschafteten Individuen mit dem ge­ringstmöglichen Aufwand zum Zweck setzt, ihren ganzen Wider­sinn zu offenbaren. Was ist von einer Produktionsweise zu erwar­ten, »worin der Arbeiter für die Verwertungsbedürfnisse vorhand­ner Werte, statt umgekehrt der gegenständliche Reichtum für die Entwicklungsbedürfnisse des Arbeiters da ist«(21) - von einer Pro­duktionsweise, die es nicht vermag, die Weltbevölkerung auch nur einfach zu reproduzieren, wohl aber problemlos die Mittel bereit­stellt, um sie hundertfach zu vernichten? Offenkundig ist, daß der Fortschritt der Produktivkräfte sich in seinen gesellschaftlichen Re­sultaten gegen die Lebensbedürfnisse und Entwicklungsmöglichkei­ten derer kehrt, die ihn immerzu produzieren müssen.(22) In der über ihren Inhalt unaufgeklärten Rationalisierung der Ökonomie voll­streckt sich die Dialektik der Aufklärung. (23) Die an den Verwer-tungs- und Expansionszwang des Kapitals gefesselte ökonomische Rationalität schlägt in den Wahnsinn um, der schon im liberalisti­schen Zeitalter unter der dünnen Decke von Markt, Recht und Kul­tur wuchert, bevor er sie in der monopolistischen Phase faschistisch überwuchert. Zu einer Zeit, in der der Entwicklungsstand der Pro­duktivkräfte das Ende ökonomischer Not in greifbare Nähe rückt und die kriegs- und krisengeschüttelte Produktion unter dem Wert­gesetz in ihrem eigenen Erscheinungsbild die Notwendigkeit der Revolution gebieterisch anzeigt, rufen die alten Mächte den Faschis­mus herbei zur Befestigung der Ökonomie, »des für Herrschaft prä­parierten Mangels«(24).

Als ultima ratio der Klassengesellschaft spannt der Faschismus den vom Kapitalismus produzierten Wahn für den Fortbestand der Herrschaft ein. Mit der »dekretierten Steigerung der Lebenshal­tung« formiert sich altes Elend neu als »Gegensatz von Macht und Ohnmacht«(25). Die im Kapitalismus am tiefsten gefallen sind, die ex­propriierten Kleinbürger und die arbeitslosen Proletarier, werden vielfach zur leichten Beute der Faschisten. Die ökonomische Verun­sicherung und die Erfahrung der Not hat sie gefügig gemacht, als billige Reserve dem Verwertungsprozeß weiterhin zur Verfügung zu stehen. Die gestaute Wut über ihr elendes Schicksal macht sich Luft im Haß auf alles Fremde, Differenzierte, Nonkonforme und gipfelt im Vemichtungswunsch. »Zwischen den ungestillten Be­dürfnissen der Ohnmächtigen und den unstillbaren Bedürfnissen der Mächtigen besteht eine prästabilierte Harmonie. Die Unteren dürfen nicht zu glücklich werden, sonst hören sie auf, Objekte zu sein. Die Wut aber, die durch das Elend erzeugt wird, die tiefe, in­brünstige, geheime Wut der an Leib und Seele Abhängigen betätigt sich dort, wo Gelegenheit ist, als gegen das Schwache und Abhängi­ge selbst.«(26) Ohne den Selbsthaß der Ohnmächtigen, der sie insge­heim erfüllt und ihre Bereitschaft weckt, sich selbst die Schmach nochmals anzutun, die die Gesellschaft über sie verhängt hat, hätte der Faschismus keine Chance. Mit sicherer Hand bietet er ihnen den billigsten Trost und belohnt die gemeinste Gesinnung. Denen, die mitmachen, gewährt er materielle Versorgung und das beruhigende Gefühl, einem mächtigen Kollektiv anzugehören, während er alle widerständigen Individuen und Gruppen mit terroristischer Verfol­gung, Erniedrigung und Tod bedroht. Die Gewalt der kapitalisti­schen Akkumulation vermittelt sich im Faschismus durch den politi­schen Wahn hindurch. »Wie alte Leute zuweilen so böse werden, wie sie im Grunde immer waren, nimmt die Klassenherrschaft am Ende der Epoche die Form der Volksgemeinschaft an. [...] Der Fa­schismus ist die Wahrheit der modernen Gesellschaft, die von der Theorie von Anfang an getroffen war. Er fixiert die extremen Un­terschiede, die das Wertgesetz am Ende produzierte.«(27)

VIII

Der Faschismus übernimmt die Reorganisation des von tendenziellem Verwertungsschwund befallenen Kapitalismus auf der Grundlage des autoritären Staats. Der autoritäre Staat wird zur Krücke des Kapitals, wenn die scheinbar selbstregulative und unermüdlich innovative Kraft der kapitalistischen Produktionsweise erlahmt und einem Großteil der Gesellschaft der Entzug der Mittel zur Reproduktion droht; wenn der Kapitalismus nicht mehr als naturgegeben und selbstverständlich hingenommen wird, weil andere Formen des Wirtschaftens sich objektiv aufdrängen. Der autoritäre Staat ist ein politischer Reflex ökonomischer Macht­konzentration, die er vollendet, ohne sie aufzuheben. Er greift mit staatlichen Direktiven und Subventionen in die gesamte Organisa­tion der Wirtschaft ein und liquidiert die relative Selbständigkeit der Zirkulationssphäre. Er beschneidet die Verfügungsgewalt der Eigentümer über die Produktionsmittel, garantiert aber die private Abschöpfung des Mehrwerts. Mit dem ökonomischen Laissez-faire, auf das sich die Freiheit der Bürger gegründet hat, wird auch die formelle Freiheit der Proletarier eingezogen. An die Stelle der über den Tausch vermittelten Ausbeutung tritt ein System der Zwangsarbeit. Der autoritäre Staat monopolisiert die politische Macht, indem er die Institutionen des bürgerlichen Interessenausgleichs beiseite räumt, jede selbständige politische Artikulation der unterdrückten Klassen unterbindet und insbesondere die proletarischen Organi­sationen rücksichtslos zerschlägt. Den Arbeits- und Mittellosen wird eine notdürftige Unterstützung gewährt, solange sie sich mit ihrem Schicksal abfinden; so werden sie durchs Gnadenbrot auch politisch entmündigt. Geschickt spannt der autoritäre Staat die gesamte Gesellschaft in den Dienst einer kleinen Clique, indem er das Profitinteresse der wenigen Monopolherren mit den gröbsten Notwendigkeiten der gesellschaftlichen Reproduktion gewaltsam vermittelt. Die Naturwüchsigkeit des Kapitalprozesses wird wie in seiner Frühzeit in staatliche Regie genommen, um sie künstlich zu verlängern und ihre Destruktivität zu kanalisieren, damit sie die Gesellschaft nicht unmittelbar erschlägt. Dennoch bleibt Destruktivität ihre historische Konsequenz. Wie sich die Brutalität der ursprüngli­chen Akkumulation, die das »ununterbrochene Opferfest der Arbeiterklasse«(28) in der kapitalistischen Normalität vorbereitet hat, im Rückblick als ein Vorgeschmack des Faschismus darstellt, so läßt sich das Ende des Kapitals als Abbreviatur und Konzentration na­turgeschichtlichen Grauens antizipieren. Der Kapitalismus treibt zur Ausrottung der Menschheit in dem Doppelsinne, daß die Barbarisierung der Individuen durch die Abrichtung zur Wertproduktion, die ihnen die humanen Impulse systematisch austreibt, zugleich der Vernichtung der nackten physischen Existenz von Menschenwesen vorarbeitet. Die atomare Vernichtung der durch die kapitalisti­sche Integration dissoziierten Weltgesellschaft wäre nur die letzte Konsequenz der Logik des Wertgesetzes, die als Tendenz in der Ge­schichte wirksam ist, solange sie unerkannt bleibt und die Menschheit sich ihr nicht als bewußtes Geschichtssubjekt entgegenstellt. 

IX

Die Unendlichkeit des gesellschaftlichen Bewegungsgesetzes ist die schlechte. Wie die Geltung des Wertgesetzes nicht erst im Kapitalismus anfängt, sondern als Moment seiner Genesis von den frühesten Anfängen überlieferter Geschichte an wirksam ist, (29) so verschwindet seine Macht auch nicht mit dem Ende der klassisch liberalen Phase des Kapitalismus. Vielmehr bestimmt das Wertgesetz jedes Ende als Übergang innerhalb seiner selbst und damit den weiteren Verlauf, etwa die Transformation des liberalen Kapitalismus in Monopolkapitalismus und autoritären Staat. Die jüngste Phase des Akkumulationsprozesses zeigt, daß der autoritäre Staat in den Zentren entbehrlich werden und wieder von einer liberaleren Ordnung abgelöst werden kann, nachdem er einmal im Sinne der erforderten Stabilisierung und Integration funktioniert hat. Das Wertgesetz aber bleibt in allen diesen Wandlungen der Ökonomie und den sie begleitenden politischen Wechselfällen das Identische. Auch die gewachsenen Produktivkräfte erschüttern von sich aus nicht das Wertgesetz, sondern verwandeln sich unter seinem Bann in stets bedrohlichere Destruktivkräfte (30) Statt die kapitalistische Produktionsweise und ihr Bewegungsgesetz zu sprengen, erhöhen sie nur deren gesellschaftliche Gestehungskosten. Diese lassen sich aber nicht ad infinitum steigern, ohne daß die Gesellschaft eines Tages mit der Substanz ihrer Reproduktion bezahlt; wenn es ihr nämlich nicht mehr gelingt, das stählerne Gehäuse des Kapitalismus zu zerschlagen, das die Menschheit in der naturgeschichtlichen Alternative des schleichenden oder rasenden Versinkens in der Barbarei gefangen hält. Weil durch keine naturwüchsige Entwicklung das Wertgesetz außer Kraft gesetzt wird, erweisen sich alle ökonomischen Schranken des Kapitals stets wieder als immanente. Dies eröffnet die reale Möglichkeit, daß der Kapitalismus an seiner Naturschranke zugrundegeht. »Es gibt für die Menschen wie sie heute sind nur eine radikale Neuigkeit - und das ist immer die gleiche: der Tod.« (31) Was Benjamin formuliert, ist objektiver Niederschlag der gesamtgesellschaftlichen Erfahrung, daß es innerhalb des Bestehenden nur noch um das Tempo der Katastrophe geht. Ein katastrophischer Untergang des Kapitals wird seinem Wesen durchaus gerecht; systematisch, gründlich, weltumspannend, lückenlos wird er sein und folglich tabula rasa machen, wenn der Marxsche Gedankenblitz nicht doch noch die trüben Gemüter der Zeitgenossen erleuchtet. Die Botschaft der von Marx begründeten kritischen Theorie ist deshalb so klar und kompromißlos zu resümieren, wie der Zustand es erfordert:

Das Warten auf das Neue in der Geschichte ist das Warten auf das Endspiel. Der ewig gleiche Kultus des Neuen im Wissenschafts- und Kulturbetrieb, in dem sich der prätentiöse Gestus mit zuverlässiger Blödheit und Gefügigkeit gegen Verwertungsinteressen harmonisch verbindet - dieser Kulturschaum sinkt zu seiner finalen Gestalt, zum stumpfen und eintönigen Totentanz der Gesellschaft zusam­men. Wenn der Wert einmal zum Gesetz der erscheinenden Welt geworden ist, bleibt das Kapital solange welthistorisches Prinzip, bis die Menschheit sich aus eigener Kraft ein vernünftiges gibt oder am Rockzipfel des Kapitals zur Hölle fährt.

Nachweise und Anmerkungen

1) K. Marx, Das Kapital, l. Bd., in: Marx/Engels Werke (MEW), Bd. 23, S. 88
2) K. Marx, Das Kapital, 3. Bd., in: MEW, Bd. 25, S. 187
3) K. Marx, Das Kapital, l. Bd., a. a. 0., S. 85 f.
4) »Das quantitative Verhältnis, worin sich Produkte austauschen, ist zunächst ganz zufällig. Sie nehmen sofern Warenform an, daß sie überhaupt Austausch­bare, d. h. Ausdrücke desselben Dritten sind. Der fortgesetzte Austausch und die regelmäßigere Reproduktion für den Austausch hebt diese Zufälligkeit mehr und mehr auf.« K. Marx, Das Kapital, 3. Bd., a. a. 0., S. 342. Vgl. dazu Engels' Nachtrag zum 'Kapital', in: MEW, Bd. 25, S. 908: »Wie war aber für diesen Austausch nach dem Maßstab des Arbeitsquantums dies letztere, wenn auch nur indirekt und relativ, zu berechnen für Produkte, die eine längere, in un­regelmäßigen Zwischenräumen unterbrochne, in ihrem Ertrag unsichre Arbeit er­heischten, z. B. Korn oder Vieh? Und das obendrein bei Leuten, die nicht rech­nen konnten? Offenbar nur durch einen langwierigen, oft im Dunkeln hin und her tastenden Prozeß der Annäherung im Zickzack, wobei man, wie sonst auch, erst durch den Schaden klug wurde. Aber die Notwendigkeit für jeden, im gan­zen und großen auf seine Kosten zu kommen, half immer wieder in die korrekte Richtung, und die geringe Anzahl der in den Verkehr kommenden Arten von Gegenständen, sowie die oft während Jahrhunderten stabile Art ihrer Produk­tion, erleichterte die Erreichung des Ziels. Und daß es keineswegs so lange dauerte, bis die relative Wertgröße dieser Produkte ziemlich annähernd festgestellt war, beweist allein die Tatsache, daß die Ware, bei der dies wegen der langen Produktionszeit des einzelnen Stücks am schwierigsten scheint, das Vieh, die erste ziemlich allgemein anerkannte Geldware wurde.«
5) K. Marx, Das Kapital, 3. Bd., a. a. 0., S. 187
6) F. Engels, Nachtrag, a. a. 0., S. 909
7) K. Marx, Das Kapital, l. Bd., a. a. 0., S. 80
8) Ebd.
9) K. Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW, Bd. 13, S. 128
10) K. Marx, Das Kapital, l. Bd., a. a. 0., S. 178
11) K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1974, S. 25
12) Vgl. a. a. 0., S. 166
13) K. Marx, Das Kapital, l. Bd., a. a. 0., S. 779
14) K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, a. a. 0., S. 26
15) G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Ffm. 1980, S. 65
16) H. Schweppenhäuser, Spekulative und negative Dialektik; in: 0. Negt (Hrsg.), Aktualität und Folgen der Philosophie Hegels, Ffm. 1970, S. 93
17) K. Marx, Das Kapital, l. Bd., a. a. 0., S. 782
18) K. Marx u. F. Engels, Manifest der kommunistischen Partei, in: MEW, Bd. 4 S 462
19) Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Theorie Werkausgabe, Suhrkamp Verlag, Bd. 18, Ffm. 1982, S. 55
20) Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Stuttgart 1975, S. 82
21) K. Marx, Das Kapital, l. Bd., a. a. 0„ S. 649
22) Vgl. M. Horkheimer u. Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Ffm. 1969, S. 42 f. Der Fortschritt des Wertgesetzes vom einfachen Warentausch zum Monopolkapitalismus ist in gesellschaftlicher Hinsicht der von der Stein­schleuder zur Megabombe. Vgl. Adorno, Fortschritt, in: ders. Stichworte, Ffm. 1980, S. 41
23) Vgl. Horkheimer/Adomo, Dialektik der Aufklärung, a. a. 0., S. 132 sowie S. 215: »Nicht indem sie ihm die ganze Befriedigung gewährten, haben die los­gelassenen Produktionskolosse das Individuum überwunden, sondern indem sie es als Subjekt auslöschten. Eben darin besteht ihre vollendete Rationalität, die mit ihrer Verrücktheit zusammenfällt.« Das blinde Subjekt des Wirtschaftsprozesses, der Wert als Kapital, nährt sich von der lebendigen Subjektivität der Individuen, die dabei sukzessive aufgezehrt wird. Die Individuen sinken herab zu Funktionären der Kapitalverwertung.
24) Th. W. Adorno, Reflexionen zur Klassentheorie, zit. n. ders.. Soziologische Schriften I, Ffm. 1979, S. 381
25) Horkheimer/Adomo, Dialektik der Aufklärung, a. a. 0., S. 45
26) M. Horkheimer, Die Juden und Europa, zit. n. ders., Zeitschrift für Sozial­forschung Jg. 8, 1939/40, S. 132
27) A. a.O.,S. 116
28) K. Marx, Das Kapital, l. Bd., a. a. 0., S. 511
29) Vgl. K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, a. a. 0., S. 25
30) Vgl. K. Marx u. F. Engels, Die deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, S. 60 u. 69
31)  W. Benjamin, Zentralpark; zit. n. ders.. Gesammelte Schriften Bd. I, Ffm. 1980, S. 668

 

aus: Krise und Kritik, Zur Aktualität der Marxschen Theorie;  hrsg. von Gerhard Schweppenhäuser, Lüneburg 1989, S. 23ff

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