Eines der älteren
centri sociali Roms, das Corto Circuito
(1) ist am 13. Oktober 2013 brutal geräumt worden,
eine Unmenge Sachen, darunter die Computer, wurden
verladen und abtransportiert, das Telefon wurde
gesperrt. Ein Teil des centro wurde
demoliert. Ein riesiges Aufgebot der Polizei
riegelte das ganze Stadtviertel ab. Niemand hatte
eine derartig schnelle und brutale Aktion
erwartet.
Das findet nun
innerhalb einer systematischen Reihe von
Liquidierungen von centri sociali statt, die
in letzter Zeit sowohl in Bologna als auch in Rom
stattfanden, zuletzt wurden in Rom die Bewohner des
Baobab (2) hinausgejagt, ein centro für
Flüchtlinge, die jetzt auf der Straße schlafen
müssen. Eine gegen die radikale Linke gerichtete
Politik der verbrannten Erde.
Die Flüchtlinge des
Baobab dürfen sich, wie das manifesto
berichtet, jetzt, nach der Verjagung, nicht einmal zu
zweit oder zu dritt in allzu großer Nähe zueinander
aufhalten: die Polizei kommt sofort heran und
scheucht sie auseinander, meist mit brutalen und
gemeinen Worten. So durften zwei Freundinnen nicht
einmal miteinander sprechen.
Das ist
Alltagsfaschismus. Hinterher hecheln die freiwilligen
Helfer, und da die Flüchtlinge von der Polizei vom
einen Platz zum anderen gejagt werden, beeilen sich
die Helfer nachzukommen, mit dem Nötigsten, was die
Flüchtlinge brauchen, Essen und Decken. Der Räumung
des Baobab folgt die des Corto Circuito.
Eiskaltes System.
Initiator des
politischen Betätigungsverbotes und der
Enteignungskation war die Staatsanwaltschaft, nicht
die Gemeinde, die allerdings, ihrem eigenen Bekunden
nach, erst im Nachhinein informiert wurde und sich
die Hände in Unschuld wäscht. Die Gemeinde ist
allerdings Eigentümer der Gebäude.
Die Aktivisten und
Militanten der Opposition halten es für extrem
unwahrscheinlich, daß in der von den Cinque Stelle
(M5S) geführten Gemeindeverwaltung davon niemand
etwas gewußt haben soll, was sich in einer großen
Anzahl von Protestmails an die M5S niederschlägt.
Diese neue Formation verhält sich aalglatt und will
sich nach allen Seiten politisch absichern. Sie
teilen vage Anerkennungen an alle Richtungen aus: die
Sicherheit der Bürger muß gewährleistet
werden, das centro sociale hat aber auch durchaus
eine wichtige soziale Funktion und wird damit gelobt.
Vielleicht will man von allen Seiten Stimmen für die
nächste Wahl! (3)
Bisher ist keine
einzige politische Stellungnahme in Form einer
ernsthaften Analyse von diesen Populisten gekommen.
Der aus dem Hintergrund agierende halbe Schattenstaat
braucht diese neuen Formationen, nachdem die PD (4)
schon sehr unglaubwürdig geworden ist.
Das ist das derzeitige
Rom, das Rom, das jahrelang unter der Führung eines
Faschisten stand, dann kam der etwas neoliberal
eingestellte, jedoch nicht linientreue
PD-Bürgermeister Ignazio Marino an die
Schalthebel der kommunalen Macht, gegen ihn entstand
aber eine Hexenjagd in der eigenen Partei und er
bekam´s mit der Justiz zu tun. Immerhin hat er
kürzlich einen Prozeß gewonnen, bei dem ihm
Zweckentfremdung öffentlicher Gelder vorgeworfen
worden war. Er hat ihn gewonnen und ist nun, dadurch
offensichtlich gestärkt, zu einem begeisterten und
beredten Gegner der Politik der Führung der PD
geworden, insbesondere was die von Renzi
durchgezogenen Volksabstimmung zur Verfassung
betrifft. Er hat ein neues Betätigungsfeld gefunden.
Nach Marinos Rücktritt
kam die Hauptstadt Italiens, wie eine Reihe anderer
Städte, unter kommissarische Verwaltung, das
heißt, es wird, manchmal wegen echter, manchmal wegen
vermeintlicher Korruption (5), sogar das
Herrschaftswerk der bürgerlichen Parteien
ausgeschaltet. An der Spitze der Verwaltung stand nun
der Vollblutpolizist Francesco
Paolo Tronca , der als commissario
straordinario (Sonderbeauftragter) vom 1.
November 2015 bis zum 22. Juni 2016 die Kontrolle
über die Stadtverwaltung hatte. Niemand von dieser
Gemeinderegierung unter Tronca hat sich für die
Belange des Baobab gekümmert, klagt ein Betreuer in
der Zeitschrift Internazionale.
Die Protestpartei, die
alles verändern will und die gegen die „Kaste“
auftritt wie keine andere, wurde nun gewählt. Das
sich nun an der Spitze der Stadtverwaltung befindende
Movimento Cinque Stelle (M5S) des Demagogen
und Populisten und Gewerkschaftsfeindes Grillo hat
zur Räumung des Baobab wie auch des Corto Circuito
nichts als nichtssagende,
technokratisch-administrative Kommentare abgelassen,
die Bewegungs-Partei, die angeblich so sehr auf eine
Veränderung der Verhältnisse hinarbeitet, entpuppt
sich mit ihrem zynischen Desinteresse als eine neue
Vertreterin der Bourgeoisie, sodaß man von einer
beginnenden cohabitation zwischen den rechten
Sozialabbauern und Kriegstreibern der
sozialdemokratischen Regierung Renzi und dem in Rom
und anderen Städten bereits an die Spitze gekommenen
M5S sprechen könnte.
Virginia Raggi,
die neue M5S-Bürgermeisterin, eine an sich charmante
und gewandte Frau, darf nicht etwa mit Ada Colau
verwechselt werden, was jemandem vielleicht noch
einfallen mag. Ada Colau, früher Hauptaktivistin der
Hilfsorganisation für Obdachlose PAH, hat sich in
ihrer neuen Funktion als Bürgermeisterin konsequent
für die Legalisierung eines der „historischen“
okúpas Barcelonas eingesetzt, der gewandten
Neo-Bürgermeisterin Raggi, die sich kürzlich
dadurch einen Namen gemacht hat, daß sie Rom als
Austragungsort der Olympischen Spiele abgelehnt hat,
was aber nicht als radikale Opposition gegen die -
von den Linken scharf bekämpften - grandi opere
(systematisch mit Korruption verbundenen
technologischen Großprojekte mit geringem
Gebrauchswert, wie die jetzt von Renzi wieder
favorisierte Brücke bei Messina, die Kalabrien und
Sizilien verbinden soll) gewertet werden darf,
sondern bloß als behutsame Bedachtnahme auf die
katastrophale budgetäre Situation Roms), dieser
populistischen Technokratin sind, wie man bereits am
Baobab gesehen hat, die centrí sociali
keineswegs ein prioritäres Anliegen. - Aber man muß
in Italien aufpassen: Schon der Stimmenentzug durch
die linken Bewegungen hat wesentlich dazu
beigetragen, daß die Rifondazione aus dem
Parlament entfernt wurde.
Die centri sociali
sind in Italien seit den Achtzigerjahren das Rückgrat
oder die logistische Grundlage der radikalen,
unabhängigen Linken, der Linken, die von keiner
Partei geschützt wird, die von keiner Partei
ausgehalten wird. Der Linken, die von eigenen Mitteln
lebt. Diese wesentliche Linke wäre aber ohne
die centri sociali nichts.
Die an die Schalthebel
der Bourgeoisie gelangten neuen Verwalter der
Interessen der Bourgeoisie, die aber vortäuschen,
auch die Interessen der „Protestlager“ zu vertreten,
wissen im Grunde genommen genau, daß die centri
sociali nicht ihre Sache sind, denn zwischen der
lokal an die Macht gelangten populistischen
Neo-„Linken“ sowie der antikommunistischen
neoliberalen Kriegs- und Sozialabbaupartei PD
(„Demokratische Partei“, was an sich ein lächerlicher
Ausdruck ist) und andererseits der unabhängigen
Bewegungslinken besteht eine Kluft, die nicht
überbrückbar ist. Daher muß sich die
institutionelle Linke gegen die antagonistische Linke
wenden.
Es gibt wenige
centri sociali in Rom, die sosehr in der
Bevölkerung verankert sind, und das im ansonsten
politisch toten und sterilen Stadtteil Cinecittà,
der sich durch anonyme Wohnblöcke, private
Familienhäuschen und Straßen für Schnellraser
auszeichnet, und durch den gänzlichen Mangel an
öffentlichen (und innovatorischen) Strukturen, wie
das Corto. Mit zahlreichen Veranstaltungen und
Fortbildungskursen, viel Gegeninformation (einem
eigenen Radio: Radio Sonar) und einer engen
Verbindung zu relevanten
Basisbewegungen/-organisationen wie an allererster
Stelle dem neuen radikalen Basisgewerkschaftsbündnis
USB (Unione Sindacale di Base), betreibt das
Corto Circuito eine Politik, die sowohl
Breitenpolitik ist als auch eine unverkürzt radikale.
Daß sie so sehr in die Breite wirken ist für den
Schattenstaat vielleicht noch mehr Anreiz gewesen als
das Set an radikalen Programmen, dieses Projekt, das
seit 26 Jahren existiert, zu liquidieren.
Und das geschieht unter
der Verwaltung der 5S, wiewohl die Order von der
Staatsanwaltschaft kam -die mit ihrem
Vernichtungsfeldzug, der eingebaut ist in eine
laufende Reihe von Liquidierungen autonomer,
besetzter und selbstverwalteter Strukturen, auf
einzelne Klagen „besorgter Bürger“ freudig reagierte.
Eine Art Schattenbürger
kann man fast schon sagen. Die braucht man. Dieser
Mechanismus, der der Aufbietung rancunebeladener
rechter Einzelpersonen für eine ordentliche Justiz-
und Politikkampagne, wird allerorten angewendet. Es
erinnert ein bißchen an Griechenland. Das sind die
Personen, die den decoro, Anstand und
Wohlverhalten, vertreten. Akzeptanz durch 5S,
justiziell-polizeiliche Vernichtungskampagne und der
römische Schleim des decoro.
Der polizeiliche
Semi-Schattenstaat schmiegt sich an die extremen
Bürgerblätter wie das Giornale an, demzufolge
nun der Bezirk vom Corto Circuito „befreit“
worden sei. Das ist die Sprache des Faschistenführers
Fini, der die Verleihung des Nobelpreises an
Dario Fo „eine Schande“ nannte, woran noch
kürzlich der Corriere della Sera erinnerte.
Die römische Rechte darf man nicht unterschätzen.
Auch bei der Casa
della Pace („Haus des Friedens“), das sich in
einem riesigen offiziell akzeptierten Komplex (dem
ehemaligen Schlachthof, ex-mattatoio)
befindet, wird der Einsatz der Schattenbürger
durchgezogen. Man hat sich über den Lärm beklagt, so
einfach ist das. Das ex-mattatoio, in dem sich
jetzt unter anderem die Città dell´Altra
Economia befindet, wo sich vom 14. bis zum 16.
Oktober eine Großveranstaltung der GegnerInnen des
von Renzi gepushten „Referendums“, des No-Lagers, mit
vielen hunderten Teilnehmern/Zuschauern
stattfand, soll durch die Hintertür ein ein wenig
getroffen werden, indem einzelne Mieter rausgemobbt
werden: Politik der Nadelstiche.
Noch infamer ist der
Versuch, eine römische Lokalstelle der heute noch
nach wie vor aktivst an der politischen Diskussion
beteiligten ANPI (Associazione Nazionale dei
Partigiani) zu räumen, wegen formeller
Insuffizienzen des Mietvertrages, die gerne politisch
ausgenützt werden. Man will sogar die
Partisanen weghaben. Bleibt nur zu erwähnen, daß
auch ihre Organisation eine radikale Gegnerin des
Renzi´schen Verfassungszerstörungsprojekts und des
damit verbundenen Abbaus der Rechte des Parlaments
ist.
Das Referendum, das 4.
Dezember stattfinden wird, nachdem es etliche Male
verschoben wurde, und über das noch ausführlich zu
berichten ist, weist übrigens mit der
Grobschlächtigkeit vieler seiner Formulierungen Züge
auf, die es mit dem „Referendum“ des Orbán gemein hat
(6).
Die Linke läßt sich
nichts gefallen. An die 2000 Leute zogen kurze Zeit
nach der Räumung protestierend zum Centro Sociale
Occupato e Autogestito (CSOA, „besetzt und in
Selbstverwaltung“) Corto Circuito, und man
sieht auf den Aufnahmen einer darauffolgenden
Protestversammlung, was für ein breiter Teil der
Bevölkerung hier vertreten ist: das ist keine
drogengeschwächte, antikommunistische, mit dem
Zionismus paktierende Subkultur, das ist eine bewußte
politische, mit dem Proletariat verbundene Kultur,
keine Subkultur. Auch die Mischung der Generationen
ergibt sich hier völlig natürlich aus der Natur der
breiten Bewegung.
Derzeit verquicken sich
in Italien drei Thematiken: das Nein zur
Verfassungsänderung und zum Abbau der
parlamentarischen Entscheidungsfindung, das Nein zum
Kahlschlag gegen die radikale Linke und, das wird in
Zukunft größere Bedeutung erlangen: das Nein zum
Populismus.
Solidaritätsaktionen
mit dem Corto Circuito und dem Baobab sollten die
anderen – bis jetzt zu wenig international
transportierten - Themen in ihre Berichterstattung
und Mobilisierung einbauen. Krieg, EU, NATO,
Neoliberalismus, das sind die bevorzugten
Betätigungsfelder Renzis, des Oberkommissars
Italiens. Wenn man, zusammen mit den AktivistInnen
des CSOA Corto Circuito, die Rückgabe der Räume und
des gestohlenen Eigentums fordert, sollte man dies in
einen etwas breiteren Rahmen stellen, und man sollte
endlich einen europäischen Kampf der Linken gegen die
Sozialdemokratie aufnehmen.
Denn Italien ist,
ebenso wie Griechenland ein Experimentfeld, ein
Laboratorium für eine eiskalte europäische
Finanzdiktatur. Im schwer zu domestizierenden Süden
soll sie ein wenig ausprobiert werden. Dem Kapital
ist alles zuzutrauen.
Was die PASOK in
Griechenland angerichtet hat, ist auch dem letzten
Trottel inzwischen klargeworden, was die PD in
Italien bezweckt, darüber breitet sich noch ein –
linker – Schleier.
Renzi ist gefährlich
wie Berlusconi, der Meinung sind mittlerweile
viele Linke in Italien. Die Mischung mit dem
Neopopulismus aber muß auch Europa aufwecken.
Kommissarische
Verwaltung, desinformatorische Kriegsführung und
plebiszitäre Pseudodemokratie von oben prägen seit
neuestem die politische Fratze Europas.
1)
„Kurzschluß“ . Circúito hat die Betonung auf
dem u.
2) Diese Bezeichnung kommt vom arabischen
bu-hibab; in Kiswahili, der Sprache des Julius
Nyerere, lautet die Bezeichnung mbuyu..
3) In einem gesonderten Bericht werden wir
die Statements einzelner PolitikerInnen mit
Quellenangabe auflisten.
4) PD ist die Abkürzung für Partito
Democratico („Demokratische Partei“): das ist
die italienische Sozialdemokratie.
(5) In vielen Fällen
auch wegen „Infiltration durch die Mafia“. Es kann
aber auch zahlreiche andere Anlässe geben (die mit
Korruption und Mafia nichts zu tun haben), bei denen
die Bestellung eines außerordentlichen
Regierungskommissars möglich ist.
(6) Angesichts der
schwer zu durchschauenden Fülle von Änderungen in der
Verfassung und im Wahlrecht ist folgende
Propagandalosung der Regierung Renzi einfach nur als
demagogisch und manipulatorisch zu bezeichnen, auf
einem Plakat heißt es: „Willst Du, daß die Gesetze
einfacher werden?“
Ähnelt nicht die
simple, emotionsgeladene Sprache, der Sprachduktus
dem der Plakate Orbáns?
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