Seit
den Septemberstreiks 1969 war die Zahl der >wilden<
Streiks in der Bundesrepublik nie so groß wie im
Frühjahr und Sommer 1973. Ich will hier nicht eine
möglichst vollständige Zahl von Streiks auflisten, wie
es etwa der »express« (8/73) versucht. Denn eine
Aufzählung, die etwa nach den Rubriken »Betrieb, Zahl
der Streikenden, Streikgegenstand und -erfolg,
Streikdauer« unterteilt, sagt so gut wie nichts über die
wirkliche Entstehungsgeschichte von Streiks, über ihre
Inhalte und ihre Erfahrungsbedeutung für die streikenden
Kollegen aus. Streiks sind nur die Spitze des Eisberges
— wer nur diese Spitze wahrnimmt, kann nicht viel von
der gegenwärtigen Bewegung der Arbeiter verstehen.Ich
will im Folgenden einige Streiks zwischen Februar und
August 1973 genauer darstellen (das Manuskript wurde
kurz nach dem Ende des Ford-Streiks abgeschlossen). Ich
habe mich für diese Darstellungsform entschieden, weil
es so bei der Kürze des Textes noch am ehesten möglich
ist, die Vielfalt der politischen Erfahrungen, die in
diesen Kämpfen gemacht wurden, zu skizzieren;
Erfahrungen, die sich keineswegs auf das simple Schema
»Metalltarifrunde plus Preissteigerungen gleich Kampf
für Teuerungszulagen« reduzieren lassen.
1. Der Streik bei Hoesch in Dortmund
8. 2.73 bis 10. 2. 73
Hintergrund des Hoesch-Streiks ist die
Metalltarifrunde 72/73: die Arbeiter hatten - wenige
Monate nachdem sie der SPD zu einem großen Wahlsieg
verholfen hatten — mit dem 8,5%-Abschluß eine eindeutige
Lohnkürzung hinnehmen müssen; und das, obwohl bei der
zweiten Urabstimmung in der Eisen-und Stahlindustrie
Nordrhein-Westfalens 66,6% gegen das Ergebnis und für
Streik gestimmt hatten. Direkt nach der Tarifrunde
beginnen, wie in den meisten Betrieben, die
Verhandlungen um die innerbetriebliche Lohnzulage. Das
Ergebnis bei Hoesch (20000 Beschäftigte) soll so
aussehen: gestaffelt nach einem komplizierten
Punktsystem sollen zwischen i und 21 Pf g. gezahlt
werden; die Arbeiter in den unteren Lohngruppen hätten
danach zwischen i und 3 Pfg. bekommen, nur ganz wenige
21 Pfg. Das war eine offene Provokation: zum ersten Mal
hatte in einer Tarifrunde der Druck der Basis
ausgereicht, um über die linken Fraktionen innerhalb des
Gewerkschaftsapparats die egalitäre lineare
Lohnforderung - gleich mehr Lohn
für alle — durchzusetzen; durch diese
innerbetriebliche Zulage sollte das lineare Ergebnis
nachträglich wieder in ein spalterisches prozentuales
verwandelt werden. Als das Ergebnis in der Nachtschicht
am 8. Februar bekannt wird, bricht in der
Fein-eisenstraße der Streik los (diese Abteilung besteht
zum allergrößten Teil aus Angelernten, von denen die
meisten Ausländer sind. Beides ist untypisch für Hoesch:
die Zahl der Facharbeiter ist dort sehr groß, Ausländer
gibt es nur sehr wenige). Zwei Stunden später trifft
sich der Vorstand der Vertrauensleute, und die klare
Frage heißt: laufen lassen oder abwürgen; man
entscheidet sich — nur widerwillig, denn die
Vertrauensleute halten den Zeitpunkt für zu früh — für
den Streik. Jetzt tragen die Vertrauensleute (die bei
Hoesch in jahrelanger Bildungs-, Informations- und
Apparatarbeit im Betrieb eine feste
linksgewerkschaftliche Position erobert und eine
Gegenöffentlichkeit, geschaffen haben) wesentlich zur
Ausweitung des Streiks bei: das läuft über ihr
Kommunikationsnetz. Bald wird in allen drei
Hoesch-Werken in Dortmund gestreikt. Die Forderung
heißt: 14 Pfg. für alle! Diese 14 Pfg. sind die
Differenz zwischen gewerkschaftlicher Ausgangsforderung
(60 Pfg.) in der Tarif-runde und dem Abschluß (46 Pfg.).
Eine Streikleitung entsteht nicht, stattdessen gibt es
in der alten Kantine die ständige Streikversammlung, auf
der immer 500 bis 1000 Kollegen anwesend sind. Des
Mikrofons dort bedienen sich fast nur die
Vertrauensleute. Die Kollegen zeigen kein Interesse an
einer Streikleitung: für sie gibt es nichts zu
verhandeln, sie wollen die 14 Pfg. und warten in der
Alten Kantine auf die Kapitulation der Geschäftsleitung.
Aus der Versammlung heraus — z. T. über Mikrofon, z. T.
aber auch so — werden die .anstehenden Aufgaben
erledigt: Trupps von Kollegen ziehen los, wenn irgendwo
Streikbrecher am Werk sind oder Gerüchte auftauchen, daß
in einem der beiden anderen Werke wieder gearbeitet
würde. Drei Tage hält der Streik so durch, die Kollegen
rechnen mit einem ebenso glatten und schnellen Sieg wie
69, als sie nach zwei Tagen Streik — dem ersten der
Septemberstreiks - ihre Forderungen voll durchsetzten.
Der.Gegner aber war diesmal vorbereitet und härter — da
andere Betriebe — anders als 69 — nicht nachzogen,
gelang es der Geschäftsleitung, mit Flugblättern,
Drohbriefen und der Verhandlungsverweigerung, die
Selbstsicherheit der Kollegen zu erschüttern. Nachdem
IG-Metall-Chef Loderer in einem Rundfunkinterview (die
linearen Lohnforderungen seien Schuld an der
Unzufriedenheit der Kollegen!) schließlich jegliche
Unterstützung durch die Gewerkschaft kategorisch
abgelehnt und die Streikenden faktisch zu
Gewerkschaftsfeinden erklärt hatte, beschloß der
Vorstand der Vertrauensleute nach einer »internen
Auswertung« des Interviews, den Streik abzubrechen; in
der Streikversamm-
lung wurde dieser Beschluß nur noch lapidar
verkündet. Die Kollegen pfiffen, waren völlig verwirrt;
Minuten später waren die Mikrofone abgestellt. — Als
eine Woche später 8 Kollegen (fast nur Betriebsräte und
Vertrauensleute) als Rädelsführer entlassen werden
sollten, wäre es beinahe wieder zum Streik gekommen; die
Geschäftsleitung nahm die Kündigungen zurück. — Das
Ergebnis der innerbetrieblichen Zulage schließlich: 5
Pfg. linear für alle; das entspricht in der Lohnsumme
dem ursprünglichen Angebot.
Wichtig bei diesem Streik ist die Rolle der
Vertrauensleute: ihre jahrelange Arbeit half wesentlich
mit, das Klima zu schaffen, in dem ein Streik erst
möglich wurde. Dennoch zeigte sich im Streik — besonders
weil er diesmal im Fahrplan der Vertrauensleute noch
nicht vorgesehen war —, daß der Vorstand der
Vertrauensleute ein funktionales Verhältnis zu den
Massen der Kollegen hat. Das zeigte sich z. B. in der
Tatsache, daß ernsthaft darüber nachgedacht wurde, ob
der Ausbruch des Streiks in einer Abteilung, die von der
linken Gewerkschaftsarbeit her bislang ein weißer Fleck
in der Landkarte war, nicht vielleicht eine rechte
Provokation sei; und das zeigte sich auch darin, daß im
entscheidenden Moment die Loyalität dieser Leute dem
Gewerkschaftsapparat gegenüber, in dem sie sich ja keine
erkämpften Positionen verscherzen wollen, größer ist als
gegenüber den Kollegen. Das ist nicht das spezielle
Problem der Vertrauensleute bei Hoesch, sondern das
jeglicher linksgewerkschaftlicher Institutionenarb'eit,
die zugleich Motor und Fessel der Kämpfe der Arbeiter
ist. Dieser Satz ist nicht mißzuver-stehen als
prinzipieller Einwand gegen jegliche Arbeit in den von
der Gewerkschaft vorgesehenen Institutionen; solche
Arbeit ist wichtig und notwendig — sie wird nur nie in
der Lage sein, Tempo und Inhalt der Kämpfe der Arbeiter
aus ihren eigenen Bewegungsgesetzen heraus bestimmen zu
können. Die Arbeiter werden radikaler sein.
2. Der Streik bei Hülsbeck und Fürst in Velbert
30.1.73 bis 13.2.73
Je größer der bestreikte Betrieb, je größer die Zahl
der Streikenden, desto besser — das gilt den meisten,
die den Kämpfen der Arbeiter freundlich gesinnt sind,
für sicher. Daß auch ein Streik nur weniger Arbeiter
große Bedeutung haben kann, zeigt das Beispiel des
Streiks bei >Hülsbeck und Fürst< (Huf) in Velbert, einem
kleinen Autozulieferbetrieb am südlichen Rand des
Ruhrgebiets. Hier geschah, was in vielen kleinen
Betrieben nach den Tarifrunden üblich ist: ein Teil der
übertariflichen Zulage sollte auf die Lohnerhöhung
angerechnet werden; 140
Akkordarbeiter, die die körperlich schwerste Arbeit
machen, sollten daher nur 6% statt 8,5% bekommen. Am 30.
Januar legen diese 140 Arbeiter, die auf drei Schichten
verteilt sind, die Arbeit nieder; sie ziehen in das
Gewerkschaftshaus »Flora«, das für die ganze Dauer des
Streiks als Streiklokal dient. Sofort wird ein
Streikkomitee gewählt, das sich nur zu einem geringen
Teil aus Vertrauensleuten zusammensetzt; die
Diskussionen vor der Wahl sind ungemein solidarisch,
keinem Kollegen wird es verübelt, wenn er Angst davor
hat, sich zu exponieren. Das Streikkomitee nennt sich
»Ausschuß der Akkordarbeiter«. Die Forderung: volle
8,5%!
Die Geschäftsleitung antwortet sofort hart: sie droht
den Streikenden, die das Werksgelände betreten, mit
einer Anzeige wegen Hausfriedensbruch; sie droht, alle
Streikenden bei der Krankenkasse abzumelden; einem
Schwerbeschädigten Kollegen, der streikt, wird fristlos
gekündigt.
Das Entscheidende an diesem Streik, der volle 14 Tage
dauerte, ist, daß die Streikenden sehr bald beschlossen,
sich nach außen, an die Öffentlichkeit zu wenden: ohne
sich ausdrücklich gegen die Gewerkschaft zu
artikulieren, kamen sie doch nie auf die Idee, ihr die
Sache zu überlassen. Öffentlichkeit — das war in diesem
Streik weit mehr als die Informierung der bürgerlichen
Presse, das- war vielmehr ein aktives Nachaußentragen
des Streiks. Die Kollegen wandten sich, weil sie Hilfe
brauchten, an alle, von denen Unterstützung zu erwarten
war — und sie taten es auch, weil sie wußten, daß diese
Sache alle angeht, daß ihr Problem auch das der anderen
ist: weil sie wußten, daß die anderen auch ihre Hilfe
brauchten.
So fuhren sie in die Bochumer Universität, um dort
die Studenten zur aktiven Solidarität aufzufordern
(etliche »Bündnispartner« wollten sich freilich nicht
beim Essen stören lassen und meinten wörtlich: »Geht
doch arbeiten!«). Sie schrieben gemeinsam mit Schülern
und Studenten Flugblätter (unter einem vom >Ausschuß der
Akkordarbeiten gezeichneten Flugblatt stand die Parole:
»Für die Solidarität von ausländischen und deutschen
Arbeitern und fortschrittlichen Schülern und
Studenten!«). Sie bezogen jeden Außenstehenden, der sich
beteiligen wollte, aktiv in die Organisierung des
Streiks ein. Die Streikenden organisierten mehrere
Demonstrationen durch die Innenstadt von Velbert, auf
denen sie zur Solidarität aufriefen. In mehreren
Betrieben in Velbert gab esvkurze Solidaritätsstreiks,
in vielen Betrieben (nicht nur in Velbert) wurde Geld
zur Unterstützung der Streikenden gesammelt. 40
griechische und jugoslawische Arbeiterinnen von Huf, die
nicht direkt betroffen waren, denen aber ein halbes Jahr
später eine Lohminderung drohte, traten ebenfalls in den
Streik und hielten bis zum Ende durch. Als am 8. Februar
der Streik bei Hoesch losbricht, fahren Huf-Kollegen
sofort nach Dortmund und solidarisieren sich auf der
Streikversammlung mit den Hoesch-Kollegen. Die
Geschäftsleitung schickt Meister mit Drohbriefen zu den
Frauen der Streikenden: die knallen ihnen die Tür vor
der Nase zu.
Als die Geschäftsleitung zu härteren Mitteln greift
(Androhung der fristlosen Entlassung) und die örtlichen
IG-Metall-Organe sich immer offener gegen den Streik
stellen, wird der Streik am 13. Februar abgebrochen
(7,5% werden durchgesetzt). Der Streik bricht aber nicht
einfach zusammen, sondern die Arbeiter und Arbeiterinnen
stimmen ab: 65 gegen 30 Stimmen. Ein Kollege drückt in
der letzten Versammlung die große Niedergeschlagenheit
der Streikenden aus: man habe aufgegeben, man sei des
gespendeten Geldes (35 ooo DM) nicht würdig — man solle
mit dem Geld lieber einen »Solidaritätsfond für wild
Streikende in der Bundesrepublik« einrichten. — Seit dem
Streik gibt es bei Huf eine selbständige Arbeitergruppe,
die sich regelmäßig trifft und die Zeitung
»Huf-Arbeiter« herausgibt.
3. Der Streik bei Mannesmann in Duisburg-Huckingen
28.2.73 bis 9.3.73
Hier ging es nicht in erster Linie darum, durch einen
Streik nachträglich das miese Ergebnis der Tarifrunde zu
korrigieren. Hintergrund dieses Streiks ist vielmehr die
Rationalisierungsund Lohnpolitik des Unternehmens in den
letzten Jahren. Jahrelang verhandelte der Betriebsrat
darüber, die 300 verschiedenen Akkordlöhne auf einen
Festlohn abzubauen. Als dies 1969 zuerst im
Profilwalzwerk (PWW) eingeführt wurde, wurden kurz
darauf gerade in dieser Abteilung 40 Arbeitsplätze
wegrationalisiert; das hatte eine erneute Einstufung der
Grundlöhne zur Folge. Ergebnis: der Betrieb sparte
jährlich 940000 DM Lohnkosten ein — während die
Produktion von 60000 t auf 90000 t gesteigert wurde.
Zweimal kam es deswegen in den letzten Jahren zu kurzen
Streiks im PWW. Ende 72 zeichnete sich schließlich das
Ergebnis der Verhandlungen des Betriebsrats ab:
Arbeitsbereichslöhne sollten gezahlt werden; das hätte
eine Steigerung der Lohnkosten um 300000 DM bedeutet
(der Betriebsrat hatte 500000 DM, gefordert). Ende
Februar 73 machte die Geschäftsleitung plötzlich einen
Rückzieher: es war nur noch von 100000 DM die Rede.
Die Kollegen, von einem ihrer Betriebsräte sehr gut
informiert, legten am 28.2. die Arbeit nieder: 380
Walzwerker. 10 Tage dauerte dieser erfolgreiche Streik.
Gekennzeichnet ist er davon, daß es den Kollegen ohne
Streikleitung und gegen den offenen Widerstand der hier
reaktionären Vertrauenskörperleitung gelungen ist, alle
Spaltungs- und Zerschlagungsmanöver der Geschäftsleitung
abzuwehren. Sofort bei Beginn des Streiks besetzten die
Kollegen das Verwaltungsgebäude: das blieb so bis zum
Ende des Streiks und diente als
Kommunikationsmittelpunkt. Als die Geschäftsleitung mit
der Drohung, sie werde unter Druck nicht verhandeln,
abblitzt, kommt ihr erster Schlag: mit einer Schicht aus
Streikbrechern, Inspektoren, Meistern und Assistenten
will die Geschäftsleitung die Produktion im PWW wieder
aufnehmen. 5 Minuten vor Produktionsaufnahme besetzen 42
Kollegen die Rollgänge der Walzstraße. Die
Geschäftsleitung antwortet prompt: am nächsten Tag wird
gegen die 42 eine einstweilige Verfügung erlassen, sie
dürfen bei Androhung einer Geldstrafe von 3000 DM das
Werk nicht mehr betreten. Die Kollegen reagieren mit
einer Informationsversammlung vor dem Werkstor; in
verschiedenen anderen Abteilungen finden
Solidaritätsstreiks statt, viele Kollegen spenden Geld.
Flugblätter der Geschäftsleitung werden verbrannt. Und
auch die IG-Metall schaltete sich an Ort und Stelle ein:
Vorstandsmitglied Rudi Judith reiste an, verhandelte mit
der Geschäftsleitung und ließ dann ein von ihm
unterzeichnetes Flugblatt verteilen, in dem zur
Wiederaufnahme der Arbeit aufgefordert wurde! Ganze 10
Flugblätter konnten die Funktionäre verteilen, dann
wurden sie von den wütenden Arbeitern zum Teufel gejagt.
Eine wichtige Erfahrung des Streiks war außerdem, daß
die ausländischen Arbeiter, fast nur Türken, voll
mitgemacht haben. Ein Beispiel: ein Vorgesetzter will
die Namen von 10 Türken haben, die das
Verwaltungsgebäude mit besetzt halten. Alle i o nennen
den gleichen Namen: Ata-Türk! Am 10. Streiktag gibt die
Geschäftsleitung nach: die Neueinstufungen bringen jetzt
eine Lohnerhöhung von 300 ooo DM; alle Beschäftigten
erhalten jetzt pro Stunde zwischen 25 und 35 Pfg. mehr,
die Prämienöffnung nach oben wird um 5 % abgesichert;
keine Repressalien dürfen ausgeübt werden und die
einstweiligen Verfügungen werden als gegenstandslos
betrachtet. — Für die Vertrauensleute, die den Streik
bekämpft hatten, wurde von Arbeitern ein Warntransparent
aufgehängt: »Mehr Sicherheit für unsere Vertrauensleute
- Denn Streikbrecher kommen an den Galgen.« Als wenig
später die Vertrauensleutewahlen stattfinden, wird der
gesamte reaktionäre Vorstand der Vertrauensleute nicht
wiedergewählt.
4. Der Streik bei Karmann in Osnabrück 4.5.73 bis
8.5.73
Die Streiks bei Hoesch und Mannesmann wurden im
wesentlichen von traditionell kampferfahrenen und in der
Regel qualifizierten Arbeitern geführt. Anders der
Streik im Karosseriewerk Karmann in Osnabrück (5000
Beschäftigte): hier wurde der Streik von den Ausländern
getragen (850 Portugiesen und 950 Spanier). Das war— mit
Ausnahme des Streiks der Italiener bei BMW/München im
Frühjahr 72 - der erste Streik in der Bundesrepublik, in
dem Ausländer massenhaft und weithin ohne Unterstützung
der deutschen Kollegen um ihre Interessen als Ausländer
gekämpft haben.
Es ging um den Urlaub. Der Betriebsrat verhandelte
darüber, das Ergebnis: das Werk wird für 3 Wochen
geschlossen, der Rest des Urlaubs (1 oder 2 Wochen) kann
irgendwann später genommen werden. Die Ausländer sind
der Meinung: 3 Wochen Urlaub am Stück sind zu wenig, es
geht ja noch An-und Abreise ab und man ist ja das ganze
Jahr von der Familie getrennt. Die Ausländer, die zum
größten Teil im Fahrzeugbau arbeiten, treten am 4. 5. in
den Streik. Stunden später ziehen sie in andere Hallen,
wo fast nur Deutsche arbeiten; die meisten schließen
sich an diesem ersten Streiktag dem Zug an, nur einigen
muß das Werkzeug weggenommen werden. Später, nach dem
Wochenende, haben die Drohungen der Geschäftsleitung
Erfolg: die Deutschen beteiligen sich nicht mehr am
Streik. Das ist der erste Erfolg der Geschäftsleitung
gegen die Streikenden. Die zweite Schwierigkeit liegt
bei den Streikenden selber: sie sind sich über ihre
Forderungen nicht einig. Die einen fordern lediglich den
tariflich zustehenden Urlaub am Stück, die anderen
fordern 5 Wochen bezahlten Urlaub. Vertrauensleute und
Betriebsrat verhandeln mit der Geschäftsleitung; sie
arbeiten nicht gegen die Streikenden, sie versäumen es
aber, die Kollegen ständig über den Stand der
Verhandlungen zu informieren. Ein Streikkomitee gibt es
nicht. Schließlich gelingt es der Geschäftsleitung am
Dienstag, sich mit einem spalterischen Angebot
durchzusetzen: sie schlägt eine individuelle
Urlaubsregelung vor. Jeder Werksangehörige kann den ihm
zustehenden Tarifurlaub an einem Stück nehmen —
irgendwann zwischen Juni und Dezember; wer wann fährt,
soll später festgelegt werden. Zusätzlich sollen
weitere 300 Spanier und 200 Portugiesen eingestellt
werden, um die freien Arbeitsplätze auch während des
Urlaubs besetzen zu können. Die Streiktage müssen
nachgearbeitet werden. Obwohl dieser Streik Schwächen
hatte, deutete sich in ihm dennoch eine neue Qualität
des Kampfes an, die zu einer wirksamen Waffe werden
wird. In vielen Streiks (z. B. Hoesch) übernehmen
traditionelle Arbeiterkader, die fest im
Gewerkschaftsapparat verankert sind, die Führung: das
gibt dem Streik eine gewisse Organisiertheit, gibt ihm
eine zentralisierte Effektivität; der Nachteil aber ist,
daß die Kollegen dann häufig zu Statisten ihres eigenen
Streiks werden, daß sie den Streik nicht
selbst in der Hand haben, daß die wirklichen
Interessen der Kollegen gegen die formalisierte
Effizienz der Streikkader, die die Interessen der
Kollegen immer gleich in Zahlenforderungen übersetzen
können, keine Chance haben. In diesem Streik blieb
dagegen das Heft weitgehend bei den ausländischen
Arbeitern: sie wählten keine formelle Streikleitung und
noch während des Streiks ging die Diskussion über die
Forderung weiter. Und was außerdem noch passierte,
deutete die »Frankfurter Rundschau« kopfschüttelnd an:
»Die meisten deutschen Arbeitnehmer, so wird berichtet,
hätten den zeitweilig recht turbulenten Ausstand, der
auch singend, tanzend und händeklatschend gefeiert
wurde, eher mißmutig zugesehen.«
5. Der Streik bei Klöckner in Bremen 25.6.73 bis
27. 6.73
Der Streik bei Klöckner (10000 Beschäftigte) ist ein
eindringliches Beispiel dafür, daß die Politik
traditioneller Arbeiterkader, die die betrieblichen
Positionen (Betriebsrat und Vertrauensleutekörper) fest
in der Hand haben und von dort aus versuchen, aktiv die
Interessen der Kollegen zu vertreten, zu einer Fessel
der Arbeiterkämpfe werden können. Klöckner ist ein
kampferfahrener Betrieb; viele wilde Streiks hat es dort
gegeben, in den Septemberstreiks setzten die
Klöckner-Kollegen ihre Forderungen voll durch. Im
Betriebsrat und im Vertrauensleutekörper geben die
Linken (im wesentlichen DKP und die Gruppe
>Arbeiterpolitik<) den Ton an.
Seit Monaten verhandelte der Betriebsrat über den
neuen Lohnrahmentarifvertrag, der speziell für Klöckner
gilt und mehrere Jahre Laufdauer hat. Das Ergebnis: zwei
Drittel der Kollegen bekamen ganze 2 bis 4 Pfg. mehr! Im
Betrieb wurde - besonders angesichts des starken
Anstiegs der Arbeitsintensität im ersten Halbjahr 73 -
über eine Teuerungszulage diskutiert. Der Betriebsrat
nahm die Diskussion auf und verhandelte darüber mit der
Geschäftsleitung; seine Forderung: 30 Pfg. mehr pro
Stunde (das entspricht 45 DM brutto im Monat). Hier, wie
auch bei den Verhandlungen über den neuen
Lohnrahmentarifvertrag, war eines kennzeichnend: die
Linken im betrieblichen Interessenvertretungsapparat
versuchen, aktiv die Interessen der Kollegen zu
vertreten. Aber sie tun es weniger mit, als für die
Kollegen. Sie fungieren als Interessenverwalter. Sie
nehmen zwar die Forderung der Basis nach einer
Teuerungszulage auf, sie organisieren aber keinen
massenhaften Diskussionsprozeß. Sie stellen eigenmächtig
Forderungen auf, die Kollegen werden hinterher
informiert. Obwohl sehr 3 viele Kollegen 60 Pfg.
forderten, blieben sie bei den 30 Pfg.
Die Arbeiter wollten zwar für eine Teuerungszulage
kämpfen, sie wurden aber in den Streik hineingetrieben;
die linken Kader hatten den Streik beschlossen, die
Kollegen erfuhren davon, als die Streikposten bei
Schichtanfang vor dem Tor standen. Zwar machten die
meisten Kollegen mit, aber sie fühlten sich als
Streikstatisten. Das ist gemeint, wenn viele Kollegen
sagten: »Das ist ein Streik der Kommunisten.«
In dieser Situation hatten die
Einschüchterungsversuche der Geschäftsleitung Erfolg.
Ein Vertrauensmann wird entlassen, Drohbriefe werden an
die Kollegen verschickt, Falschmeldungen über
Arbeitsaufnahme werden in Rundfunk und Fernsehen
lanciert, ein Hochofen wird von Meistern und
Vorarbeitern wieder in Betrieb genommen. Die
Geschäftsleitung fordert massenhafte Polizeikräfte an,
die sich in der Nähe des Werks postieren und eine
Schicht, die zum Streik in den Betrieb will, wieder
zurückschickt. In der Nachtschicht vom 27. 6. werden die
ankommenden Busse unter Polizeischutz ins Werk
dirigiert; dort angekommen, werden die Kollegen von
leitenden Angestellten und Meistern empfangen. Da gehen
sie an die Arbeit, der Streik ist zusammengebrochen.
6. Der Streik bei Hella in Lippstadt 16.7.73 bis
19.7.73
Das Hella-Werk ist ein Zulieferbetrieb für VW und
Ford, der zweitgrößte Elektrozulieferbetrieb der
deutschen Automobilindustrie. Der Betrieb ist mit
Abstand der größte des ländlichen Gebiets (Sauerland).
5000 arbeiten bei Hella, davon 3000 Ausländer; es gibt
in Lippstadt zwei räumlich voneinander getrennte
Betriebe. Die Löhne sind außerordentlich niedrig, ein
Ausländer bekommt etwa 600 DM auf die Hand. Der
Hella-Streik war ein Streik der Ausländer. Am 16. Juli
erfahren die Ausländer, daß die 800 deutschen
Facharbeiter eine Teuerungszulage von 15 Pfg. bekommen.
In der Pause legen die ersten Ausländer die Arbeit
nieder: junge Spanier aus der Plastikspritzerei. Es
bildet sich ein Zug durchs Werk, der immer größer wird.
Die Forderung: 50 Pfg. Teuerungszulage (auch für die
Deutschen). Viele Diskussionen gibt es mit den
Deutschen, am Streik machen sie aber nicht mit. Als die
Geschäftsleitung am nächsten Tag auch für die Ausländer
15 Pfg. anbietet, geht der Streik weiter: 50 Pfg.! Die
Geschäftsleitung fordert Polizei an, es kommt zu den
militantesten Auseinandersetzungen zwischen Streikenden
und Polizei seit langem. Die Polizei versucht, den
Streikenden das Werk als Organisationsbasis des Streiks
wegzunehmen (besonders ein Wohnheim, das auf
Werksgelände lag, war dazu geeignet), sie
versucht auch eine Solidarisierung der beiden Werke
zu verhindern. Als diese Manöver keinen Erfolg haben,
werden neue Register gezogen: der Generalsekretär des
spanischen Arbeitsattaches wird aus Bonn angekarrt; er
verhandelt mit Betriebsrat und dem Streikkomitee (dessen
Besetzung täglich wechselt). Es gelingt ihm nicht, einen
Keil zwischen die Streikenden und ihr Streikkomitee zu
treiben. Es folgt eine Versammlung in der Kantine, 3000
Leute sind da. Die Betriebsräte-kommen erst gar nicht
zum Reden. Da betritt der spanische Herr aus Bonn das
Rednerpult. Er - der Vertreter des faschistischen
Spanien, -droht offen mit Repressionen; jeder weiß, daß
hier von mehr als Entlassung die Rede ist. Und dann
kommt das Zuckerbrot, das Angebot der Geschäftsleitung:
Lohngruppe 2 bis 6 bekommen 40 Pfg., Lohngruppe 7 bis i
o nur 30 Pfg. Dazu Bezahlung von zwei Streiktagen. Mit
einem gellenden Pfeifkonzert wird das Angebot abgelehnt.
Wenig später unterbreitet er ein neues Angebot der
Geschäftsleitung: 40 Pfg. für alle und Bezahlung von
drei der vier Streiktage. Eine knappe Mehrheit nimmt
dieses Angebot an. Auch die deutschen Kollegen, die
keinen Finger für den Streik gekrümmt haben, bekommen
das Geld; es. soll einige von ihnen gegeben haben, die
den Ausländern aggressiv vorhielten, sie bekämen jetzt
einen Tag nicht bezahlt, obwohl sie doch garnicht
gestreikt hätten!
7. Der Streik bei Pierburg in Neuß 13.8.73 bis
17.8.73
Auch Pierburg ist ein Zulieferbetrieb der
Automobilindustrie (Vergaser); der Betrieb gehört zur
Solex-Gruppe. 1500 Ausländerinnen arbeiten hier; schon
gegen Pfingsten hatten 400 von ihnen — erfolglos —
gestreikt. Die Forderungen waren damals: Abschaffung der
Leichtlohngruppe II, i Mark mehr
für alle, ein bezahlter Hausfrauentag im Monat,
automatische Erhöhung des Fahrgeldzuschusses
entsprechend den ständig steigenden Fahrgeldpreisen.
Bei Pierburg gibt es einen sehr aktiven Betriebsrat,
der bei der letzten Betriebsratswahl vom
Vertrauensleutekörper in den Betriebsrat übergewechselt
ist. Regelmäßig werden in diesem Betrieb
Informationsflugblätter verteilt, und zwar in allen
Sprachen; auch die Betriebsversammlungen werden in allen
Sprachen abgehalten. Das Problem dieses Betriebsrates
besteht darin, daß nur Männer darin vertreten sind — die
radikalsten Forderungen und Interessen aber von den
Ausländerinnen vertreten werden.
Die Geschäftsleitung hatte für den Zeitraum vom i.
August bis i, Januar eine einmalige Teuerungszulage von
200 DM gezahlt; das macht pro Stunde 23 Pfg. aus. Am
Montag, den 13. August beginnen die Ausländerinnen mit
dem Streik. Sie fordern eine Teuerungszulage: i Mark
mehr für alle! Vor dem Tor ist Polizei aufgezogen,
angeblich um Arbeitswillige zu schützen; sie schlägt auf
die Streikenden los. Seitdem sind Presse und Fernsehen
ständig da.
In den nächsten beiden Tagen streiken nicht alle
Ausländerinnen. Die Streikenden bilden ständig eine
Gruppe vor dem Tor oder auf dem Hof. Sie fordern ihre
arbeitenden Kolleginnen zur Solidarität auf. Zwischen
sie und die Arbeitenden schiebt sich ständig eine
»psychische Mauer«: 5 Typen der Geschäftsleitung stehen
dazwischen. Jede einzelne »Uberläuferin« wird stürmisch
begrüßt, es werden immer mehr, am Donnerstag streikten
fast alle Frauen. Die Geschäftsleitung weigerte sich,
weder mit dem Betriebsrat noch mit der Streikleitung,
die am ersten Streiktag gewählt wurde und nur aus
Männern bestand, zu verhandeln.
Bisher hatten sich die deutschen Facharbeiter nicht
am Streik beteiligt. Am Mittwoch stellten sie der
Geschäftsleitung ein Ultimatum: entweder es wird
verhandelt- oder wir gehen auch zu den Streikenden raus.
So streikten am Donnerstag auch die deutschen
Facharbeiter. Ihre Motivation zu streiken war
unterschiedlich und seltsam; einmal wollten sie endlich
ihre Ruhe wiederhaben, die Geschäftsleitung sollte doch
also mal verhandeln; zum ändern waren sie wütend
darüber, daß sich die Geschäftsleitung so arrogant
verhielt. Nachdem jetzt die Deutschen auch streikten,
war die Barriere zwischen denen draußen und denen
drinnen durchbrochen, die Fabrik war wie besetzt. Es bot
sich jetzt ein seltsames Bild der Streikenden: hier die
Frauen - da die deutschen Männer. Die Frauen bildeten
Diskussionsgruppen, klatschten rhythmisch zu 'den
Parolen, eine Gruppe von älteren Türkinnen strickte,
viele sangen, die jüngeren Mädchen liefen hin und her
über den Hof. Den Deutschen war das alles nicht so ganz
geheuer, sie saßen in der Ecke, tranken Bier und guckten
vor sich hin. Ein deutscher Kollege meinte zu dieser
lebendigen Szene: »Warum können die nicht so streiken
wie wir? Bier trinken und Karten spielen!« Am
Freitagabend wurde das Verhandlungsergebnis
bekanntgegeben: für Lohngruppe 2 gibt es 65 Pfg. mehr,
für Lohngruppe 3 bis 10 45 Pfg. mehr (unter Anrechnung
der 23 Pfg. von den 200 DM). Und zweitens: die
Lohngruppe 2 wird ab 1. Januar 74 abgeschafft (diese
Forderung war vom Betriebsrat aufgestellt worden).
Daraufhin wurde der Streik beendet.
8. Der Streik bei Ford in Köln 24. 8.
75 bis 30. 8. 73
An den Bändern und Maschinen des Ford-Werkes in
Köln-Niehl stehen seit Jahren fast nur Türken; Deutsche
sind in der Regel entweder Meister und Vorarbeiter oder
Facharbeiter. In keinem anderen Automobilwerk der
Bundesrepublik ist die Dreckarbeit so eindeutig den
Ausländern zugeschoben.
300 Türken, die zu spät aus dem Urlaub zurückgekommen
waren, waren entlassen worden. Ihre Kollegen waren
wütend: zum einen wurde ihnen die Arbeit der Entlassenen
mit aufgehalst, zum ändern fühlten sie sich mit den
Entlassenen solidarisch, sie wußten, daß 3 Wochen Urlaub
zu wenig sind, um die Familien an der Türkei zu
besuchen. Als am 24. August auch noch Zeitnehmer in der
Endmontage auftauchten, hatten sie genug: innerhalb
weniger Minuten ruhte in der gesamten Endmontage die
Arbeit. Sofort bildete sich ein Zug, der durch alle
Produktionsabteilungen ging; bald waren es 5000
Kollegen. Unterwegs begann die Diskussion über die
Forderungen: aus 70 Pfg. wurde sehr schnell die »i Mark
für alle«, die anderen Forderungen: Rücknahme der
Entlassungen, 6 Wochen bezahlter Urlaub, Verringerung
des Arbeitstempos. Der Zug ging zum Verwaltungsgebäude,
Angehörige der Geschäftsleitung und des Betriebsrats
waren dort. Als ein Betriebsrat den Streikenden das
Megafon nicht geben will, geht es kaputt. Zu
Verhandlungen kommt es nicht.
Am Samstag (Sonderschicht) wird wieder voll
gearbeitet— aber nicht weil der Streik zusammengebrochen
ist, sondern weil die Türken sagen: »Samstag ist
Sonderschicht, die wird auch bei Bezahlung der
Streiktage nicht bezahlt. Wir brauchen aber Geld für zu
Hause. Also: ein Tag Arbeit, fünf Tage Streik.« Bald
nach Schichtbeginn fängt am Montagmorgen der Streik
wieder an: fast gleichzeitig in allen wichtigen
Produktionsabteilungen. Wieder bildet sich ein Zug. Er
nimmt auch etliche deutsche Arbeiter mit; die meisten
Deutschen verhalten sich freilich abwartend, viele haben
richtig Angst. Ein Streikkomitee wird gewählt, erst aus
9, dann aus 13 Leuten, Deutschen und Türken. Dieses
Streikkomitee hatte die Aufgabe, die verschiedenen
Streikaktivitäten zu koordinieren, es war
Kommumkationsmittelpunkt des Streiks. Diese Wahl war
kein formaler Akt, sondern bewußter Ausdruck dessen, daß
die Türken ihren gewählten Interessenvertretern
(Betriebsrat und Vertrauensleutekörper) mit Mißtrauen
und Ablehnung gegenüberstanden (das hatte sich in vielen
betrieblichen Auseinandersetzungen herausgebildet). Die
Türken wußten von Anfang an, daß dieser Streik allein
ihre Sache war, daß sie von nirgends Hilfe zu erwarten
hatten. Und sie hielten diese Position auch
durch: als es z. B. am Mittwoch zu Verhandlungen
zwischen Betriebsrat und Streikkomitee kam, waren die
Türken dazu nur unter der Bedingung bereit, daß zwei
Betriebsräte sich während der Verhandlungen bei ihnen
als Geiseln aufhielten. So schützten sie ihr
Streikkomitee.
Der Streik war durchgängig von der Aktivität und
Entschlossenheit der Türken getragen: immer wieder
gingen Züge von 5000 und mehr Türken durchs Werk; es
wurde peinlich darauf geachtet, daß alle zur
(Streik-)schicht kamen und auch während der Zeit das
Werk nicht verließen (wer trotzdem mal raus wollte,
mußte seinen Werksausweis beim Streikkomitee
deponieren). Als die Geschäftsleitung die Tore sperren
ließ, um die Kollegen auszusperren, verschafften sich
die Türken sofort wieder Zugang zum Werk. Als der
Ortsbevollmächtigte der IG-Metall über Lautsprecher zur
Arbeit aufforderte, wurde er vom Werksgelände gejagt.
Jede Nacht blieben hunderte Türken im Werk, schliefen
gemeinsam in der Endmontage; morgens wurde Geld
gesammelt und einige zogen los, türkisches Frühstück zu
besorgen. Oft saßen hunderte von Türken zusammen, in der
Mitte ein freier Kreis: Musik wurde gemacht, einige
tanzten im Kreis, einer erzählte Witze und Geschichten
über Megafon, ein anderer verlas ein Gedicht, das er
über den Streik gemacht hatte.
Das größte Problem des Streiks war das Verhältnis
zwischen Türken und Deutschen: während sich am Anfang
die Deutschen noch abwartend verhielten, begannen sie
später, sich allmählich mit dem Streik zu
solidarisieren. Aber wo immer sich deutsche Kollegen
aktiv am Streik beteiligen wollten, machten sie negative
Erfahrungen: der Streik rollte im Tempo der Türken, ohne
daß diese das wollten, über die keimhaften Aktivitäten
der Deutschen hinweg. Ein Beispiel: 20 Deutsche, die
sich einem Demonstrationszug anschlossen, wollten, daß
der Zug auch in ihre (Facharbeiter-)abteilung geht, um
dort die Leute rauszuholen; die Türken fanden das gut,
der Zug ging dann aber schließlich in eine andere
Richtung, weil einige Türken — viel vehementer als die
Deutschen — diesen Vorschlag machten. Ein anderes
Beispiel: als die Geschäftsleitung ihr Angebot machte
(280 DM Teuerungszulage und Rücknahme all der
Entlassungen, wo die Betroffenen Krankmeldungen vorlegen
können), wurde dies von der Streikleitung und von den
Türken rundweg abgelehnt, zu recht; es wurde aber dabei
nicht herausgestellt, daß dies schon ein Erfolg des
Streiks war; die Deutschen, denen es hauptsächlich um
die Teuerungszulage ging, blickten nicht mehr durch. Daß
die Deutschen in diesem Streik nie zum Zug kamen und
häufig frustriert wurden, half das Klima zu schaffen, in
dem es der Geschäftsleitung später gelang, einen Keil
zwischen Deutsche und Türken zu treiben.
Obwohl die Türken außerordentlich entschlossen
streikten, ließen sie sich dennoch - oft auf Eingreifen
des Streikkomitees hin — nicht provozieren. Seit
Dienstag wurden die Gegenmaßnahmen der Geschäftsleitung
härter: Polizei tauchte auf, Meister und Obermeister
rempelten die Streikenden etc. Die Türken aber ließen
sich auf keine größeren Auseinandersetzungen ein. Am
Donnerstag früh schließlich ging die Geschäftsleitung
direkt daran, den Streik zu zerschlagen: 500 Typen —
Meister, Obermeister, Streikbrecher, die aus dem
belgischen Montagewerk Genk geholt worden waren, und
auch deutsche Arbeiter — stellten sich dem Zug' der
streikenden Türken, der zehnmal so groß war, entgegen,
warteten einen günstigen Moment ab und schlugen dann mit
Knüppeln los. Ehe sich die Türken richtig wehren konnten
war die Polizei da: die Streikenden wurden wie Hasen
übers Werksgelände gejagt. Die Türken waren völlig
überrascht worden. Der Streik war zusammengebrochen. Der
Betriebsrat wurde von der Geschäftsleitung wegen seiner
aktiven Teilnahme an der Niederschlagung des Streiks
gelobt.
Zusammengestellt von Thomas Schmid
Editorische Hinweise
Die Chronologie wurde entnommen aus: Jahrbuch zum
Klassenkampf 1973, Westberlin 1973, S.73-86