trend onlinezeitung für die alltägliche wut Nr. 9/1998 |
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Stimmen zu den Bundestagswahlen aus dem links&radikalen Spektrum
DER REVOLUTIONÄRE FUNKE Wohin mit dem verdammten ? Es macht sich ein Gähnen breit, draußen im Lande, wenn die Politiker den Mund auftun. Die Repräsentanten aller Parteien langweilen uns unentwegt und zukunftsgewiß mit ihren Konzepten, während die meisten von uns es längst aufgegeben haben, die Unterschiede im Detail durchschauen zu wollen. Politik ist für die Großen und Mächtigen da, denkt sich Lieschen Müller und hat recht damit. Die Großen sind sich doch einig darüber, daß die Erhaltung Deutschlands als Wirtschaftsstandort das wichtigste nationale Problem ist. Die Arbeitslosigkeit und die Kriminalität dürfen nicht weiter überhand nehmen, die Natur muß gerettet und die Renten irgendwie bezahlt werden. Lieschen soll sich jetzt entscheiden. Und vielleicht wird sie wie im Supermarkt oder in irgendeinem drittklassigen Katalog wählen, was ihr am besten gefällt. Aber das ist hier wie dort gar nicht so leicht. Die eine Partei bietet mehr Umweltschutz, würde aber am liebsten ganze industrielle Sektoren stillgegen, was natürlich Arbeitsplätze kostet. Die andere schafft sogar Zwangsarbeitsplätze, hebelt damit aber gleichzeitig die mühsam erzielten Tarifverträge aus. Die dritte schlägt ein wunderbares Sicherheitskonzept vor, welches aber den Nachteil hat, daß es nicht wie traditionelle Programme seiner Art die Grundrechte aller hier lebenden Menschen einschränkt, nein, Nichtdeutschen soll dieser Mindeststandard nach Möglichkeit gar nicht erst zugebilligt werden müssen. Lieschen entscheidet sich für das ihrer Ansicht nach kleinste Übel. Eben mal so und beim nächsten Mal anders. Nach der Wahl werden dann Koalitionen gebildet und das, was Lieschens Partei vorher versprochen hat, wird zu Makulatur, d.h. zu einem Kompromiß. Die Parteien, die am besten im Rennen liegen kratzen an ihren Programmen und die Wähler können nach der Regierungsbildung nur noch Fragmente dessen erkennen, was sie eigentlich gewählt haben. Aber damit noch nicht genug. Von nun an hat Lieschen nicht mehr mitzureden. Jetzt bestimmen Sachzwänge die Politik und es ist die edelste Aufgabe der Volksvertreter, diese Klippen zu umschiffen. Die schlechte konjunkturelle Lage und das damit verbundene schwarze Loch in der Staatskasse bewirken leider, daß der Wohlstand für alle leider in der Warteschlaufe verharren muß. Er steht, um ein modernes Wort zu gebrauchen sozusagen unter "Finanzierungsvorbehalt". Unternehmer und Großanleger sind die einzigen, die dem Politiker aus der Misere helfen können. Steuergeschenke und Förderprogramme für die Industrie beleben die Konjunktur; Konjunktur bedeutet Knete und damit kann er Lieschen jeden Wunsch erfüllen. Nicht etwa, weil ihm ihr persönliches Glück sosehr am Herzen liegt, sondern damit sie ihn bei der nächsten Wahl wieder mit ihrem chen begünstigt. Also: die Voraussetzung dafür, daß Lieschens Wünsche auch mal Gegenstand der Politik werden, ist eine funktionierende, besser eine Spitzenkonjunktur. Denn nur falls von den Gewinnen der Industrie etwas übrigbleibt, nachdem investiert und reinvestiert und genügend für Notfälle auf die Seite gelegt wurde, kann Lieschen vielleicht noch was abbekommen. Und das selbstredend auch nur dann, wenn sie schön rührig ist und es nachdrücklich immer wieder fordert. In guten Zeiten (eigentlich kann das Geschäft nie gut genug gehen), bekommt sie etwas
mehr, in so schlechten Zeiten wie jetzt etwas weniger ab, nie jedoch soviel wie das
Wahlprogramm versprochen hat und nie genug, um damit zufrieden sein zu können. Meistens
bleibt von den Gewinnen jedoch gerade soviel übrig, daß es ausreicht, den sozialen
Frieden aufrechtzuerhalten, Lieschen nicht rebellisch werden zu lassen. Das Kapital hat
seine eigene Logik und der entspricht es eben, jedes irgendwie verfügbare Scheinchen
wiederum gewinnbringend anzulegen. Und erst wenn alle Rechnungen aufgehen, ist das
Ergebnis halbwegs zufriedenstellend. Lieschens gewählter Stellvertreter muß sich also
zuerst für die Anliegen des Kapitals interessieren und das ist eine tagesfüllende
Beschäftigung. Nachts träumt er dann schlecht von klirrenden Fensterscheiben und von der
Selbstbedienung des Mobs (so nennt er Lieschen mit ihrem Bruno heimlich für sich). Aber
davon können die beiden sich nichts kaufen. Und weil sie sehen, daß sie sich um ihre
Sorgen doch nur selber kümmern können, wollen sie auch keinen Stellvertreter mehr
wählen. Überhaupt keinen. Und wer glaubt Prozente gewinnen zu können, weil sie zuhause
bleiben, hat sich auch geschnitten. Sie und ihr Bruno gehen zur Wahl. Und sie machen ihr
Kreuz. Ganz groß und dick. Über das ganze Blatt. |
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