Als zu Beginn des Weltkrieges die
internationalen Bande des kämpfenden Proletariats jäh zerrissen
wurden, da klammerte sich die Hoffnung an ein erneutes
internationales sozialistisches Zusammenwirken, an die
wissenschaftliche Einsicht, daß der wirtschaftliche und soziale
Boden, aus dem heraus die sozialistische Bewegung erwachsen, in dem
Chaos des Weltkrieges keineswegs vernichtet, sondern erst noch
vorbereitet werde. Die Entwicklung hat dem auf wissenschaftlicher
Einsicht gegründeten Glauben recht gegeben. Es zeigten sich bald
wieder in den einzelnen Ländern Spuren eines Wiederauflebens des
Sozialismus, die im Laufe der Zeit festere und klarere Formen
annahmen. Zugleich zeigte sich das Streben, die international
zersprengten Truppen des Sozialismus wieder zusammenzuführen. Eine
proletarische Internationale wurde angestrebt, die aus den „Fehlern,
den Halbheiten, den Unzulänglichkeiten" der vor dem Heranbrausen des
stürmenden Weltkriegs erlegenen Internationale lernen sollte. Diese
Bestrebungen waren von Erfolg gekrönt. Nach mühevollen
Vorbereitungen, die besonders von der italienischen Partei und
schweizerischen Genossen ausgeführt wurden, kam es am 5. September zu
einer internationalen Konferenz in Zimmerwald in der Schweiz. Es
waren Sozialisten geladen, die den Beschlüssen der Internationale
treu geblieben waren, und die auf dem Boden des proletarischen
Klassenkampfes standen.
Die Verhandlungen währten vom 5./8.
September. Die Vertretungen der einzelnen Länder waren teils
offiziell, teils inoffiziell, je nach der Haltung der betreffenden
Gesamtpartei zum Kriege. Die deutsche Delegation war von verschiedenen Gruppen der
Opposition entsandt. Es waren zehn Delegierte aus den verschiedensten
Teilen Deutschlands anwesend. )ie offizielle Partei war auf Grund
ihrer derzeitigen Haltung nicht eingeladen.
Auch die offizielle Partei in
Frankreich war aus denselben Gründen icht eingeladen. Doch waren
mehrere Gewerkschaften offiziell vertreten. Italien hatte eine
offizielle Vertretung der Partei und der sozialistischen
Cammergruppe.
Die Unabhängige Arbeiterpartei
Englands hatte eine offizielle Vertretung zugesagt; Genosse
Jowett und Bruce Glasier, Mitglieder des Internationalen
Sozialistischen Büros, wurden zur Delegation bestimmt. In letzter
Stunde wurden ihnen jedoch von der englischen Regierung die Pässe
verweigert, so daß die ILP keine Vertretung mehr schicken konnte.
Die russische Delegation war von
dem Zentralkomitee, ferner dem Organisationskomitee der
Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und dem Zentralkomitee der
Sozialistisch-revolutionären Partei entsandt. Außerdem hatten der
jüdische „Bund" sowie die Sozialdemokratie Lettlands eine Vertretung.
Die polnische Delegation bestand
aus den drei auf dem Boden des Klassenkampfes stehenden
Organisationen.
Rumänien hatte eine offizielle
Vertretung der Partei.
Von Bulgarien war die Delegation
von der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (Engherzigen) und ihrer
Kammerfraktion entsandt.
Aus Schweden und Norwegen
hatte die Sozialdemokratische Jugendorganisation zwei Delegierte
geschickt.
Die Schweiz hatte keine
offizielle Delegation, doch hatte der Parteivorstand den einzelnen
Genossen die Beteiligung an der Konferenz freigestellt.
Die Verhandlungen der Konferenz wurden
mit Berichten der einzelnen Länder eingeleitet. Es wurden die
näheren Umstände geschildert, die bei Ausbruch des Krieges die
Haltung der einzelnen sozialdemokratischen Parteien bestimmten; dann
die ganze Entwicklung, die sich während des Krieges innerhalb der
einzelnen Parteien vollzogen hat, die Auseinandersetzungen innerhalb
der Parteien.
Über Deutschland erstatteten
zwei Genossen Bericht, die auf den Ton gestimmt waren: Wenn in
Deutschland die Opposition die Möglichkeit haben wird, offen
aufzutreten, dann wird sie die Mehrheit der Partei
hinter sich haben. Der eine der beiden Genossen kritisierte,
durch einige Zwischenrufe dazu veranlaßt, die Haltung Liebknechts im
Reichstag, insbesondere seine Kreditabstimmung als für die Partei
nicht förderlich. Ein selbständiges, geschlossenes Auftreten der
Fraktionsminorität würde - so behauptete er - die Spaltung der
Fraktion und damit auch der Partei hervorrufen. Dem widersprach der
andere der deutschen Delegierten, der sich im übrigen noch
optimistischer über die Aussichten der Minorität nach dem Kriege
äußerte. Bei der Beratung der Resolution schilderte ein dritter
deutscher Genosse die Situation als durchaus ernst. Die Hoffnung auf
freie Betätigung nach dem Kriege könne leicht täuschen.
Imperialistische Gedankengänge hätten leider im Proletariat Eingang
gefunden, und nur engste Fühlungnahme mit den Genossen anderer Länder
und die Betonung des internationalen Gedankens könne ein Gegengewicht
bilden.
Im Mittelpunkt der Verhandlungen stand:
Die Friedensbewegung des
Proletariats
Die Vorbereiter der Konferenz gingen
von der Ansicht aus, daß das Proletariat die geschichtliche Mission
zu erfüllen habe, den Kampf für den Frieden zu führen und ihn zum
Mittelpunkt seiner Aktionen zu machen. So sollte auch die Konferenz
den Zweck haben, eine allgemeine Friedensbewegung des Proletariats
einzuleiten.
Die deutsche und französische
Delegation waren zu Beginn der Konferenz übereingekommen, sich zu
einer gemeinsamen Kundgebung zu vereinigen. Damit sollte gezeigt
werden, daß gerade in den beiden Ländern, in denen sich heute noch
die offiziellen sozialdemokratischen Parteien schroff
gegenüberstehen, bereits die Möglichkeit zu einer Verständigung, zum
gemeinsamen politischen Handeln von Sozialisten vorhanden ist. Das
geschlossene, brüderliche, solidarische Zusammengehen der
Sozialisten aus diesen beiden Ländern machte einen packenden
Eindruck auf die Konferenz.
Zu dem geplanten Manifest waren
mehrere Entwürfe eingereicht. Ein Entwurf war von einem Teil der
deutschen Delegation vorgelegt. Einige Genossen der deutschen
Delegation versagten dem Entwurf ihre Zustimmung, da er ihnen nach
ihrer Auffassung den sozialistischen Standpunkt und die Aufgaben des
Proletariats gegenüber dem Kriege nicht scharf genug kennzeichnete.
Ein zweiter Entwurf war von russischen Delegierten, die dem
Zentralkomitee angeschlossen sind, von einem polnischen Delegierten,
von dem Schweden und dem Norweger eingereicht. Gegen ihn wandte sich
die überwiegende Mehrheit der Konferenz, da er ihr als taktisch
verfehlt erschien. Ein dritter Entwurf war von einem Herausgeber
einer russischen Zeitung eingebracht. Er entsprach in seiner
prinzipiellen und taktischen Auffassung der Mehrheit der Konferenz,
doch wurden Bedenken geäußert, daß er nicht dem Charakter eines
Manifestes entsprach. Man kam nun überein, die drei Entwürfe einer
international zusammengesetzten Kommission als Grundlage zur
Ausarbeitung eines Manifestes zu übergeben. In der Debatte, die sich
über das Manifest entwickelte, wurde auch ganz allgemein über die
Aufgaben gesprochen, die die Oppositionen in den Ländern zu erfüllen
haben, in denen die offizielle Partei versagt hatte. An sie wurden
besonders mahnende Worte gerichtet; sie sollte in diesem schweren
Kampfe nicht erlahmen und ständig die Sache des Sozialismus gegen
alle Verfolgungen, woher sie auch kämen, über alles stellen.
Den einzigen wichtigen Differenzpunkt
bildete die Forderung der strikten Ablehnung der Kredite.
Die beiden bereits erwähnten deutschen
Delegierten polemisierten lebhaft gegen eine solche „Bindung". Die
Frage müsse den Deutschen allein überlassen werden. Mit Rücksicht auf
den lebhaften Widerspruch besonders eines deutschen Delegierten
zogen 12 Unterzeichner unter Protest diesen Satz der Resolution
zurück, mit der weiteren Begründung, daß der betreffende deutsche
Delegierte selbst zugegeben habe, die strikte Ablehnung ergebe sich
von selbst aus dem übrigen Inhalt der Resolution.
Das in Kollektivarbeit der
verschiedensten Nationen geschaffene Manifest wurde der Konferenz
vorgelegt und fand nach unwesentlichen Änderungen einstimmige
Annahme.
Von der deutschen und französischen
Delegation wurde beantragt, das Manifest persönlich zu unterzeichnen.
Die Massen könnten nur dadurch das Vertrauen zum Sozialismus
wiedergewinnen, wenn sie sähen, daß die Führer bereit sind, mit ihrer
ganzen Person für ihre Sache einzutreten.
Eine prinzipielle Resolution wurde als
Grundlage der stattfindenden Konferenz von einem Vertreter des
polnischen Landesvorstandes, dem russischen Zentralkomitee, der
Letten, Schweden und Norweger vorgelegt. Von verschiedenen
Delegierten wurde zum Ausdruck gebracht, daß die
Aufgabe der Konferenz darin bestehe, die verschiedenen
sozialistischen Parteien der verschiedenen Länder vor allem zum
gemeinsamen Kampf für den Frieden zusammenzuführen. Die Zeit
erfordere vor allem einen Kampfruf an die Arbeiterklasse. Einer
späteren Zeit müsse es vorbehalten sein, sich über den prinzipiellen
Standpunkt der sich zum Kampf vereinigten Sozialisten aller Länder
zu verständigen.
Schließlich fand noch eine Sympathiekundgebung für die im Kampfe für
den Sozialismus Verfolgten und Gefallenen einstimmige Annahme. Unter
anderen spricht die Kundgebung die Sympathie mit den Genossen
Liebknecht, Luxemburg und Zetkin aus.
Zur Fortsetzung des
gemeinsamen Kampfes für den Frieden, zur Festigung der neugeknüpften
Bande der Internationale wurde ein Zentralpunkt geschaffen: ein
Internationales Sozialistisches Komitee. Es wurde ausdrücklich
betont, daß das Komitee nicht eine dauernde neue Einrichtung gegen
das Sozialistische Büro sei, es sollte nur so lange bestehen, so
lange das Büro seine Pflichten nicht erfüllt. Dem Komitee gehören an:
Grimm, Naine, Norgari und Genossin Balabanowa als Übersetzerin.
Die Vertreter der
verschiedenen Länder schieden mit dem Bewußtsein, daß die Bande der
internationalen proletarischen Solidarität von neuem geknüpft und daß
diese internationalen Bande ihnen neue Kraft und Zuversicht im Kampfe
im eigenen Lande geben.
Editorische Hinweise
Quelle:
Spartacus, Nr.10 vom November 1915, reprinted in: Institut für
Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrg.): Spartakusbriefe,
Berlin 1958, S.78-82, OCR-Scan: red trend. Der/die Verfasser/in
dieses Berichts ist unbekannt.
Eine
ausführliche Darstellung der Zimmerwalder Konferenz und daran
anschließender Treffen revolutionärer Sozialist*innen stammt von
Angelica Balabanoff, Die Zimmerwalder Bewegung 1914-1919,
Leipzig 1928, Nachdruck, Frankfurt/Main 1969. Aus diesem Buch
entnahmen wir den folgenden Wortlaut des auf der Konferenz
beschlossenen Manifests:
Proletarier Europas!
Mehr als ein Jahr dauert der Krieg. Millionen von Leichen bedecken
die Schlachtfelder, Millionen von Menschen wurden für ihr ganzes
Leben zu Krüppeln gemacht. Europa gleicht einem gigantischen
Menschenschlachthaus.
Frieden — das ist die Losung. Gegenüber allen Illusionen, daß es
möglich wäre, durch irgendwelche Beschlüsse der Diplomatie und der
Regierungen die Grundlage eines dauernden Friedens, den Beginn der
Abrüstung herbeizuführen, haben die revolutionären
Sozialdemokraten den Volksmassen immer wieder zu sagen, daß nur die
soziale Revolution den dauernden Frieden wie die Befreiung der
Menschheit verwirklichen kann.
Die ganze, durch die Arbeit vieler Generationen geschaffene Kultur
ist der Verwüstung geweiht. Die wildeste Barbarei feiert heute
ihren Triumph über alles, was bis jetzt den Stolz der Menschheit
ausmachte.
Welches auch immer die Wahrheit über die unmittelbare Verantwortung
für den Ausbruch dieses Krieges sei — das eine steht fest: Der
Krieg, der dieses Chaos erzeugte, ist die Folge des Imperialismus,
des Strebens der kapitalistischen Klassen jeder Nation, ihre
Profitgier durch die Ausbeutung der menschlichen Arbeit und der
Naturschätze des ganzen Erdballs zu nähren.
Wirtschaftlich rückständige oder politisch schwache Nationen fallen
dabei der Unterjochung durch die Großmächte anheim, die in diesem
Kriege versuchen, die Weltkarte ihrem Ausbeutungsinteresse
entsprechend mit Blut und Eisen neu zu gestalten. So droht ganzen
Völkern und Ländern, wie Belgien, Polen, den Balkanstaaten,
Armenien, das Geschick, als Beutestücke im Spiel der
Kompensationen, ganz oder in Teile zerrissen, annektiert zu werden.
Die treibenden Kräfte des Krieges treten in seinem Verlauf in ihrer
ganzen Niedertracht hervor. Fetzen um Fetzen jenes Schleiers fällt,
mit dem der Sinn dieser Weltkatastrophe vor dem Bewußtsein der
Völker verhüllt wurde. Die Kapitalisten aller Länder, die aus dem
vergossenen Blut des Volkes das rote Gold der Kriegsproflte münzen,
behaupten, der Krieg diene der Verteidigung des Vaterlandes, der
Demokratie, der Befreiung unterdrückter Völker. Sie lügen. In Tat
und Wahrheit begraben sie auf den Stätten der Verwüstung die
Freiheit des eigenen Volkes mitsamt der Unabhängigkeit anderer
Nationen. Neue Fesseln, neue Ketten, neue Lasten entstehen und das
Proletariat aller Länder, der siegreichen wie der besiegten, wirf",
sie zu tragen haben. Hebung des Wohlstandes ward beim Ausbruch des
Krieges verkündet — Not und Entbehrung, Arbeitslosigkeit und
Teuerung, Unterernährung und Volksseuchen sind da6 wirkliche
Ergebnis. Auf Jahrzehnte hinaus werden die Kriegskosten die besten
Kräfte der Völker verzehren, die Errungenschaften der sozialen
Reformen gefährden und jeden Schritt nach vorwärts verhindern.
Kulturelle Verödung, wirtschaftlicher Niedergang, politische
Reaktion — das sind die Segnungen dieses greuelvollen
Völkerringens.
So enthüllt der Krieg die nackte Gestalt des modernen Kapitalismus,
der nicht nur mit den Interessen der Arbeitermassen, nicht nur mit
den Bedürfnissen der geschichtlichen Entwicklung, sondern mit den
elementaren Bedingungen der menschlichen Gemeinschaft unvereinbar
geworden ist.
Die herrschenden Gewalten der kapitalistischen Gesellschaft, in
deren Händen das Geschick der Völker ruhte, die monarchischen wie
die republikanischen Regierungen, die Geheimdiplomatie, die
mächtigen Unternehmerorganisationen, die bürgerlichen Parteien,
die kapitalistische Presse, die Kirche — sie alle tragen das volle
Gewicht der Verantwortung für diesen Krieg, welcher aus der sie
nährenden und von ihnen geschützten Gesellschaftsordnung entstanden
ist und für ihre Interessen geführt wird.
Arbeiter! Ausgebeutet, entrechtet, mißachtet nannte man euch beim
Ausbruch des Krieges, als es galt, euch auf die Schlachtbank, dem
Tode entgegenzuführen, Brüder und Kameraden. Und jetzt, da euch der
Militarismus verkrüppelt, zerfleischt, erniedrigt und vernichtet,
fordern die Herrschenden von euch die Preisgabe eurer Interessen,
eurer Ziele, eurer Ideale, mit einem Wort: die sklavische
Unterordnung unter den Burgfrieden. Man beraubt euch der
Möglichkeit, eure Ansichten, eure Gefühle, euren Schmerz zu äußern,
man verwehrt es euch, eure Forderungen zu erheben und sie zu
vertreten. Die Presse geknebelt, die politischen Rechte und
Freiheiten mit Füßen getreten — so herrscht heute Militärdiktatur
mit eiserner Faust.
Diesem Zustand, der die gesamte Zukunft Europas und der Menscheit
bedroht, können und dürfen wir nicht weiter tatenlos
gegenüberstehen. Jahrzehntelang hat das sozialistische Proletariat
den Kampf gegen den Militarismus geführt. Mit wachsender Besorgnis
beschäftigten sich seine Vertreter auf ihren nationalen und
internationalen Tagungen mit der aus dem Imperialismus immer
bedrohlicher hervorgehenden Kriegsgefahr. Zu Stuttgart, zu
Kopenhagen, zu Basel haben die internationalen sozialistischen
Kongresse den Weg gezeichnet, den das Proletariat zu betreten hat.
Sozialistische Parteien und Arbeiterorganisationen verschiedener
Länder, die diesen Weg mitbestimmten, haben die daraus fließenden
Verpflichtungen seit Beginn des Krieges mißachtet. Ihre Vertreter
haben die Arbeiterschaft zur Einstellung des Klassenkampfes, des
einzig möglichen und wirksamen Mittels der proletarischen
Emanzipation, aufgefordert. Sie haben den herrschenden Klassen die
Kredite zur Kriegsführung bewilligt, sie haben sich den Regierungen
zu den verschiedensten Diensten zur Verfügung gestellt, sie haben
durch ihre Presse und ihre Sendboten die Neutralen für die
Regierungspolitik ihrer Länder zu gewinnen versucht, sie haben den
Regierungen sozialistische Minister als Geiseln zur Wahrung des
Burgfriedens ausgeliefert und damit haben sie vor der
Arbeiterklasse, vor ihrer Gegenwart und ihrer Zukunft die
Verantwortung für diesen Krieg, für seine Ziele und Methoden
übernommen. Und wie die einzelnen Parteien, so versagte die
berufenste Vertretung der Sozialisten aller Länder: das
internationale sozialistische Bureau.
Diese Tatsachen haben es mitverschuldet, daß die internationale
Arbeiterklasse, die der nationalen Panik der ersten Kriegsperiode
nicht anheimfiel oder sich davon befreite, noch bis jetzt, im
zweiten Jahre des Völkermordens, keine Mittel und Wege fand, um den
tatkräftigen Kampf für den Frieden gleichzeitig in allen Ländern
aufzunehmen.
In dieser unerträglichen Lage haben wir, die Vertreter der
sozialistischen Parteien, Gewerkschaften und ihrer Minderheiten,
wir Deutsche, Franzosen, Italiener, Russen, Polen, Letten, Rumänen,
Bulgaren, Schweden, Norweger, Holländer und Schweizer, wir, die
nicht auf dem Eoden der nationalen Solidarität mit der
Ausbeuterklasse, sondern auf dem Boden der internationalen
Solidarität des Proletariats und des Klassenkampfes stehen, uns
zusammengefunden, um die zerrissenen Fäden der internationalen
Beziehungen neu zu knüpfen und die Arbeiterklasse zur
Selbstbesinnung und zum Kampfe für den Frieden aufzurufen.
Dieser Kampf ist der Kampf für die Freiheit, für die
Völkerverbrüderung, für den Sozialismus. Ea gilt, dieses Ringen um
den Frieden aufzunehmen, für einen Frieden ohne Annexionen und
Kriegsentschädigungen. Ein solcher Friede aber ist nur möglich
unter Verurteilung jedes Gedankeng an eine Vergewaltigung der
Rechte und Freiheiten der Völker. Weder die Besetzung von ganzen
Ländern noch von einzelnen Landesteilen darf zu ihrer gewaltsamen
Einverleibung fähren. Keine Annexion, weder eine offene, noch eine
maskierte, auch keine zwangsweise wirtschaftliche Angliederung, die
durch politische Entrechtung nur noch unerträglicher gemacht wird.
Das Selbstbestimmungsrecht der Völker muß unerschütterlicher
Grundsatz in der Ordnung der nationalen Verhältnisse sein.
Proletarier! Seit Ausbruch des Krieges habt ihr eure Tatkraft,
euren Mut, eure Ausdauer in den Dienst der herrschenden Klassen
gestellt. Nun gilt es, für die eigene Sache, für die heiligen Ziele
des Sozialismus, für die Erlösung der unterdrückten Völker wie der
geknechteten Klassen einzutreten durch den unversöhnlichen
proletarischen Klassenkampf.
Aufgabe und Pflicht der Sozialisten der kriegführenden Länder ist
es, diesen Kampf mit voller Wucht aufzunehmen, Aufgabe und Pflicht
der Sozialisten der neutralen Staaten, ihre Brüder in diesem
Ringen gegen die blutige Barbarei mit allen wirksamen Mitteln zu
unterstützen.
Niemals in der Weltgeschichte gab es eine dringendere, eine höhere,
eine erhabenere Aufgabe, deren Erfüllung unser gemeinsames Werk
sein soll. Kein Opfer zu groß, keine Last zu schwer um dieses Ziel:
den Frieden unter den Völkern zu erreichen.
Arbeiter und Arbeiterinnen! Mütter und Väter! Witwen und Waisen!
Verwundete und Verkrüppelte! Euch allen, die ihr vom Kriege und
durch den Krieg leidet, rufen wir zu: Über die Grenzen, über die
dampfenden Schlachtfelder, über die zerstörten Städte und Dörfer
hinweg,
Proletarier aller Länder vereinigt euch! Zimmerwald (Schweiz), im
September 1915.
Im Namen der internationalen sozialistischen Konferenz
(1):
Für die deutsche Delegation: Georg Ledebour, Adolf
Hoffmann; für die französische Delegation: A.
Bourderon, A. Merrheim; für die italienische Delegation:
G.E.Modigliani, Constantino Lazzari; für die russische
Delegation: N. Lenin, Paul Axelrod, M. Bobrow; für die
polnische Delegation: St. Lapinski, A. Warski, Cz.
Hanecki; für die interbalkanische sozialistische Föderation:
im Namen der rumänischen Delegation: C. Racovski, im
Namen der bulgarischen Delegation Wassil Kolarow; für
die schwedische und norwegische Delegation: Z. Högl
und, Ture Nerman; für die hollandische Delegation:
H.Roland-Holst; für die schweizerische Delegation:
Robert Grimm, Charles Naine.
1) Die Unabhängige Arbeiterpartei Englands hatte sich mit
dem Zweck der Konferenz einverstanden erklärt und offizielle
Delegierte zu ihren Verhandlungen bestimmt. Die Regierung des
„freien, demokratischen" Englands verweigerte aber den
Delegierten ihre Pässe, so daß die Reise nach dem Konferenzort
nicht erfolgen konnte. Aus diesem Grunde konnte das Manifest,
dessen Richtlinien die Unabhängige Arbeiterpartei beistimmte, von
Vertretern der englischen Arbeiterschaft nicht sofort
unterzeichnet werden.
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