Die französischen Gewerkschaften haben sich, über ihre sonstigen
strategischen Divergenzen hinweg, auf ein gemeinsames
Mobilisierungsdatum für die „Rentrée“ (den zweiten Jahresbeginn
nach der Sommerurlaubsperiode) geeinigt. Am Dienstag, 4. Oktober
werden frankreichweit Arbeitsniederlegungen – wohl vor allem im
öffentlichen Dienst – und Einheitsdemonstrationen gegen die
soziale Kahlschlagspolitik der Regierung unter Dominique de
Villepin stattfinden. Das Datum fällt mit dem ersten Sitzungstag
des französischen Parlaments nach der Sommerpause zusammen.
Zu den
Demonstrationen rufen die fünf gesetzlich als „repräsentativ“
anerkannten Gewerkschaftsverbände zusammen auf: die ehemals
KP-nahe CGT; die rechtssozialdemokratische CFDT; die „unpolitisch“-populistische
FO; die christliche CFTC; und der Gewerkschaftsbund der höheren
Angestellten, CFE-CGC. (Ihr „repräsentativer“ Charakter
bedeutet, dass eine Betriebs- oder Branchengewerkschaft, die in
einem dieser Dachverbände Mitglied ist, automatisch gesetzlich
dazu ermächtigt ist, ein Kollektivabkommen zu unterzeichnen,
also eine Art Tarifvertrag. Ein Kollektivvertrag nach
französischem Recht bindet alle abhängig Beschäftigten, die in
seinen Geltungsbereich fallen, nicht nur die Mitglieder der
unterzeichnenden Gewerkschaft. Alle anderen Gewerkschaften, die
nicht Mitglied in einem der fünf Dachverbände sind, können zwar
auch – gerichtlich – als „repräsentativ“ anerkannt werden, aber
sie müssen dann beweisen, dass sie es sind. Etwa durch
Offenlegung ihrer Mitgliederzahlen und ihrer Verankerung im
Betrieb oder in der Branche.) Neben den fünf Gewerkschaftsbünden
haben darüber hinaus auch mehrere „nicht konföderierte“
Lohnabhängigen-Organisationen, d.h. nicht einem der anerkannten
Dachverbände angehörende Gewerkschaften, ihre Unterstützung
signalisiert. Namentlich die Lehrergewerkschaft FSU, der Verband
„Solidaires“ (Zusammenschluss der linken Basisgewerkschaften vom
Typ „SUD“) und der sozialdemokratisch-unpolitische Verband UNSA
werden sich den Demonstrationen am 4. Oktober ebenfalls
anschließen.
100 Tage
Villepin
Den letzten
Anstoß für die verschiedenen Gewerkschaften, sich zum
Aktionsbündnis für den 4. Oktober zusammenzuschließen, bildete
die „100-Tage-Bilanz“ von Premierminister Dominique de Villepin
am 7. September. Der amtierende Regierungschef, der zuvor
Außenminister und davor sechs Jahre lang persönlicher Berater
von Präsident Jacques Chirac gewesen war, kam Anfang Juni dieses
Jahres ins Amt. Vor allem, weil sein Amtsvorgänger Jean-Pierre
Raffarin, der aufgrund der neoliberalen „Reformen“ der letzten
drei Jahre und seiner dumpf-provinziellen Selbstzufriedenheit
extrem unpopulär war, nach dem „gescheiterten“ Reform vom 29.
Mai über den EU-Verfassungsvertrag durch Präsident Chirac
entlassen worden war.
In seiner
„100-Tage-Bilanz“ hielt Premierminister de Villepin sich vor
allem einen Rückgang der Arbeitslosenzahlen zugute. Doch
abgesehen davon, dass dieser Rückgang (um einige zehntausend von
offiziell ausgewiesenen 2,5 Millionen Arbeitslosen, wobei die
Statistik frisiert ist und nicht das wirkliche Ausmaß der
Erwerbslosigkeit und Geringbeschäftigung anzeigt) sehr relativ
ausfiel, hatte sich vor allem auch herumgesprochen, „warum“ die
Arbeitslosenstatistik nach unten zeigt. Der erste Monat, in dem
die Kurve nach unten ging, ist der Monat Juni 2005 (in dem die
offizielle Arbeitslosenrate von offiziell 10,2 auf 10,1 Prozent
sank und, in absoluten Zahlen, um 35.200 oder 1,4 Prozent der
amtlich registrierten Erwerbslosen zurückging). Doch im Juni
dieses Jahres ist gleichzeitig auch die Zahl der wieder in Lohn
und Brot gekommenen Ex-Arbeitslosen gesunken und nicht
angestiegen: Sie fiel von 86.545 (im Mai 2005) auf jetzt 81.838.
Geklettert ist dagegen die Zahl der „administrativen
Streichungen“, also der Arbeitslosen, die aus der Statistik
geworfen und denen die Unterstützung gestrichen worden sind. Ihr
Anteil nahm von 37,8 Prozent der „Abgänge“ aus der
Arbeitslosenstatistik (im Mai 2005) auf, einen Monat später,
44,7 Prozent zu, oder in absoluten Zahlen: von 124.908 im Mai
auf 163.642 im Juni. (Zahlenangaben zitiert nach „Le Monde“ vom
30. und vom 31. Juli 2005).
Denn seit
dem Frühsommer hat sich der Druck der Ämter auf die Betroffenen
stark erhöht: Zahlreiche Arbeitslose erhielten Briefe, in denen
ihnen fiktive Vorwürfe gemacht wurden („Sie haben einer
Vorladung nicht Folge geleistet“, „Sie haben seit einem Jahr
keinen Gesprächstermin wahrgenommen“...). Wer nicht rechtzeitig
antwortet oder auch den Brief auf dem Postweg nicht erhalten,
hat Pech gehabt: Weg ist die Unterstützung. Bereits im Juni
konnte man in Pariser Arbeitsämtern zahlreiche Betroffene
Schlange stehen sehen, die gegen solche Entscheidungen
protestieren wollten. Bereits in der vorherigen Phase war der
Druck allmählich angewachsen: Die Zahl der „Abgänge“ aus der
Arbeitslosenstatistik durch administrative Streichung lag in den
Monaten von Januar bis Mai 2005 „um 9 Prozent höher als im
Vergleichszeitraum, den ersten fünf Jahresmonaten, von 2003 –
als ob es darum gegangen wäre, die Statistik vor dem Referendum
über die EU-Verfassung (vom 29. Mai) zu schönen“ („Le Canard
enchaîné“ vom 27. Juli 2005).
Seitdem die
Regierung am 2. August neue Verordnungen über den Umgang mit den
Erwerbslosen verabschiedete, ist nunmehr geplant, den Druck noch
erheblich zu verstärken. Statt, wie bisher, alle sechs Monate
sollen die Arbeitslosen nunmehr von „ihren“ Ämtern ein bis zwei
mal pro Monat vorgeladen werden, um sie in Atem zu halten. Dabei
haben die Arbeitsämter gar nicht genügend Mittel und Personal,
um diese Anordnung von Premierminister de Villepin in die Tat
umzusetzen: In Paris etwa kommen 11.000 Arbeitslose auf einen
Mitarbeiter der ANPE (ungefähres Pendant zur deutschen
Arbeitsagentur). Aber erhöhen werden sich ohne Zweifel die
Schikanen und Pressionen gegen die Betroffenen. Die Verordnungen
vom 2. August haben ebenfalls das Arsenal der zur Verfügung
stehenden Sanktionen erweitert: Bisher hatten die ANPE-Agenturen
als Sanktionsmittel fast nur die administrative Streichung zur
Folge, aufgrund derer ein/e Arbeitslose/r völlig aus der
Unterstützung herausfliegt. Aufgrund der Konsequenzen, aber auch
der drohenden (Rechts)Streitigkeiten zögerten die
ANPE-MitarbeiterInnen bisher eher, dieses Instrument auch
einzusetzen. Zukünftig aber haben sie ein abgestuftes
Sanktionsinstrumentarium zur Verfügung, so können sie den
Betroffenen beispielsweise aus einer Reihe von Gründen die
Unterstützung für die Dauer von 2 Monaten streichen. Im Gegenzug
sollen sie künftig aber ohne Zögern diese Druckmittel auch
einsetzen.
Die
Hauptentscheidung für die nähere Zukunft, die Premerminister de
Villepin in seiner Regierungserklärung vom 7. September traf,
besteht aber in einem Bündel von Steuersenkungen, das laut der
Presse „vor allem den Mittelschichten“, in Wirklichkeit aber
mehr noch den obersten Einkommen zugute kommen wird. Statt
bisher 6 Steuergruppen wird es ab dem Jahr 2007 (dem
Superwahljahr!, dann werden sowohl der Präsident als auch das
Parlament neu gewählt) nur noch 3 geben. Je höher das Einkommen,
desto höher wird die Ersparnis ausfallen. Eine ledige Person,
die im Jahr 17.000 Euro verdient, wird etwa jährlich ganze 80
Euro sparen und ein Ehepaar (mit zwei Kindern), das zusammen
34.000 Euro verdient, im Jahr stolze – 10 Euro, ein nettes
Taschengeld. Dagegen wird ein Ehepaar (mit zwei Kindern), das im
Jahr 100.000 Euro verdient, künftig über 4.000 Euro jährlich an
Steuern sparen. „Im Gegenzug“ wird ab 2007 – die „Reform“ greift
erstmals für die Versteuerung des Jahreseinkommens von 2006 –
der bisherige Abschlag für Lohnabhängige in Höhe von 20 Prozent
abgeschafft. Bisher wurden abhängig Beschäftigten pauschal ein
Fünftel ihrer Einkommen vor der Versteuerung abgezogen, aus
einem nachvollziehbaren Grund: Lohn- und GehaltsempfängerInnen
können ihre Einkommen so gut wie gar nicht vor dem Fiskus
verbergen, während Selbstständige, Freiberufler und Unternehmer
sehr viel leichter einen Teil ihrer Einkünfte verschleiern
können. Der pauschale Steuerfreibetrag erlaubte es bisher den
niedrigen Einkommen, rund um 10.000 Euro jährlich, noch
steuerfrei auszugehen. Die kommende Abschaffung des Abschlags
wird also Lohnabhängige, vor allem in den unteren Lohngruppen
(unter 1.500 Euro monatlich) bestrafen und die mittleren, vor
allem aber höchsten Einkommen belohnen. Diese Regierung weiß
eben ziemlich genau, welche Klientel sie bedient
Im
Mittelpunkt: Schleifung des Kündigungsschutzes
Im Zentrum
der geplanten gewerkschaftlichen Proteste wird aber der so
genannte „Neueinstellungsvertrag“ (contrat nouvelle embauche)
stehen, der ebenfalls durch eine Verordnung vom 2. August
eingeführt worden ist –siehe unseren Artikel von Anfang August.
Dieser neue Vertragstyp, der bisher auf die kleinen und
mittleren Betriebe bis zu 20 Beschäftigten beschränkt ist,
erlaubt es dem Arbeitgeber, innerhalb von 2 Jahren nach Aufnahme
des Arbeitsverhältnisses den/die Beschäftigte/n ohne Angabe von
Rechtfertigungsgründen loszuwerden. Premierminister de Villepin
überlegt nach eigenen Angaben derzeit, „wie man, ohne mechanisch
den neuen Vertragstyp auf die Großbetriebe übertragen zu wollen,
mit den Sozialpartnern über andere Instrumente für andere (d.h.
größere, Anmerkung B.S.) Unternehmen reden kann“.
Die CGT hat
bereits am 8. August eine Klage gegen die Notverordnung, mittels
derer der neue Vertragstyp eingeführt worden ist, erhoben.
Deswegen rief sie den Conseil d’Etat, also das oberste Gericht
im öffentlichen Recht (vergleichbar dem
Bundesverwaltungsgericht) gegen die Verordnung an, um zu
erreichen, dass diese für illegal erklärt und abgeschafft wird.
Am 26. August reichten dann die CFDT, die CFTC und die CFE-CGC
von ihrer Seite her eine gemeinsame Klage gegen die Verordnung
ein. Ihrerseits hat Force Ouvrière (FO) erklärt, die Affäre bei
der ILO (Internationale Arbeitsorganisation), mit der dieser
Dachverband eng verflochten ist, zur Sprache zu bringen.
Forderungsbündel
Ansonsten
wird am 4. Oktober vor allem eine Erhöhung der Löhne gefordert
werden. Derzeit lasten vor allem die dramatische Erhöhung der
Mieten (frankreichweit: plus 14,2 Prozent in den Jahren 2001 bis
04, voraussichtlich plus 4,7 % im laufenden Jahr 2005) sowie der
Erdölpreise und damit der Heiz- und Tankkosten auf den
einkommensschwachen Haushalten. Im Hinblick auf die
Benzinpreiserhöhung hat die Regierung jetzt den Haushalten mit
niedrigem Einkommen (denen, die aufgrund zu niedrigen Lohns oder
Gehalts keine Einkommenssteuer bezahlen, das sind circa 50
Prozent der Haushalte) einen Sonderbonus von 75 Euro gewährt.
Dies dürfte jedoch das Problem der allgemein kletternden Preise
und (proportional) schrumpfenden, da in absoluten Zahlen
weitgehend stagnierenden, Einkommen kaum lösen.
Die CGT
wollte von ihrer Seite her auch noch „die Verteidigung der
öffentlichen Dienste“ in den Forderungskatalog aufgenommen
wissen. Doch dagegen sperrte sich die CFDT, die angab, „stets
gegen disparate Forderungsbündel“ (sinngemäß: im
Kaufhauskatalog-Stil) zu sein. Derzeit läuft namentlich die
Privatisierung des Energieversorgungsunternehmen EDF,
Electricité de France, sowie der französischen Autobahnen. Im
letzteren Fall wird der Staat nur circa ein Viertel der
Einnahmen, die für die nächsten 30 Jahre erwartet werden, von
den Übernahmekandidaten kassieren. Auch Dissidenten im
bürgerlichen Lager sprechen von „Verschleuderung“.
Eine kurze
Diskussion gab es auch über das Datum: Die CFDT favorisierte im
Grunde einen Samstag als Mobilisierungsdatum, wie sie erklärte,
„um auch den Beschäftigten aus kleinen und mittleren Betrieben,
die von dem ,Neueinstellungsvertrag’ hauptsächlich betroffen
sind, die Teilnahme zu ermöglichen“. Dagegen insistierte vor
allem die CGT auf einem Wochentag als Mobilisierungsdatum. Vor
allem in den Bereichen, wo die Gewerkschaften noch relativ
günstige Kräfteverhältnisse aufweisen, insbesondere in den
öffentlichen Diensten, erleichtert ein Werktag als Datum die
Mobilisierung. Ferner lässt sich so die Mobilisierung mit
Warnstreiks verbinden.
Ein
wichtiger Beweggrund der CGT, neben der (äußerst legitimen)
Empörung der Basis über die jüngst beschlossenen „Reformen“, ist
aber auch das Herannahen des in einem knappen halben Jahr
bevorstehenden Kongresses des Gewerkschafts-Dachverbands. Im
März 2006 wird der kommende Gewerkschaftstag der CGT im
nordfranzösischen Lille stattfinden. Nicht zufällig eröffnete
der Generalsekretärs des ehemals KP-nahen Gewerkschaftsbunds,
Bernard Thibault, die „Rentrée“ (Herbstsaison) durch ein
größeres Protestmeeting in Lille, vor 2.200 CGT-Mitgliedern, am
Nachmittag des 6. Septembers. Zu Recht schreibt Rémi Barroux
(ein von der radikalen Linken kommender Journalist, der sich bei
der renommierten Pariser Abendzeitung um Gewerkschaftspolitik
kümmert) in „Le Monde“: „Sechs Monate vor ihrem Kongress lässt
die CGT den Ton lauter werden“. Der Zusammenhang ist keineswegs
künstlich hergestellt. Die derzeitige CGT-Spitze muss sich im
Vorfeld des Kongresses um Profilierung bemühen, da Bernard
Thibault um seine Wiederwahl (mit möglichst deutlichem
Stimmenanteil) besorgt sein muss. Seitdem die Führungsspitze
rund um Thibault, die gegen einen expliziten Aufruf zum „Nein“-Stimmen
beim Referendum über den EU-Verfassungsvertrag eintrat und am
Schluss mit Händen und Füßen dagegen rang, bei einer Tagung mit
den Mitgliedsgewerkschaften am 2. Februar 2005 in dieser Frage
einer 82prozentigen Mehrheit der Delegierten unterlag, wackelt
ihre Stellung. Nunmehr muss sie daher, in den kommenden Monaten,
deutlicheres Profil zeigen. Wie es dann nach dem Kongress der
Gewerkschaftsorganisation weitergehen wird, muss sich erst noch
erweisen.
Editorische Anmerkungen
Der Text wurde uns vom Autor am
19.9. 2005 zur Verfügung gestellt.
|